Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. zahnärztliche Behandlung. Anspruch auf zahnimplantologische Leistungen. nur bei einer aus human- und zahnmedizinischen Bestandteilen bestehenden Gesamtbehandlung. kein Verstoß gegen Verfassungsrecht

 

Orientierungssatz

1. Eine medizinische Gesamtbehandlung iSd § 28 Abs 2 S 9 SGB 5 muss sich aus verschiedenen, nämlich aus human- und zahnmedizinisch notwendigen Bestandteilen zusammensetzen, ohne sich in einem dieser Teile zu erschöpfen. Nicht die Wiederherstellung der Kaufunktion im Rahmen eines zahnärztlichen Gesamtkonzepts, sondern ein darüber hinausgehendes medizinisches Gesamtziel muss der Behandlung ihr Gepräge geben.

2. Das Tatbestandsmerkmal der medizinischen Gesamtbehandlung schließt von vornherein Fallgestaltungen aus, in denen das Ziel der implantologischen Behandlung nicht über die reine Versorgung mit Zahnersatz zur Wiederherstellung der Kaufähigkeit hinausreicht. Ein Anspruch auf Implantatversorgung besteht auch dann nicht, wenn Implantate zahnmedizinisch geboten sind, also für die Wiederherstellung der Kaufähigkeit "alternativlos" sind.

3. Der grundsätzliche Ausschluss implantologischer Leistungen aus dem GKV-Leistungskatalog mit den engen, sich aus § 28 Abs 2 S 9 SGB 5 ergebenden Ausnahmen verstößt auch unter Einbeziehung der Wertungen des Art 2 Abs 1 GG iVm dem Sozialstaatsgebot und des Art 2 Abs 2 GG nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG (vgl BSG vom 16.8.2021 - B 1 KR 8/21 R = SozR 4-2500 § 28 Nr 10 RdNr 9 ff und vom 10.3.2022 - B 1 KR 2/21 R = juris RdNr 9 ff).

 

Normenkette

SGB V § 28 Abs. 2 S. 9; GG Art. 2 Abs. 1-2, Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LSG Mecklenburg-Vorpommern (Urteil vom 20.04.2021; Aktenzeichen L 6 KR 105/17)

SG Schwerin (Entscheidung vom 30.08.2017; Aktenzeichen S 25 KR 14/17)

 

Tenor

Der Antrag des Klägers ihm Prozesskostenhilfe für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 20. April 2021 zu bewilligen und einen Rechtsanwalt beizuordnen, wird abgelehnt.

 

Gründe

I. Der bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Kläger leidet unter chronischer Parodontitis. Nach Extrahierung des Zahnes 17 beantragte er zunächst ohne Vorlage eines Heil- und Kostenplans (HKP) die Versorgung mit einem Zahnimplantat im Zahnbereich 17. Der Kläger übersandte sodann am 8.12.2016 einen HKP zur Schließung der zahnärztlich befundeten "Schaltlücke im Oberkiefer rechts mit Atrophie des Alveolarknochens". Die Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheide vom 9.12.2016 und 4.1.2017, Widerspruchsbescheid vom 27.4.2017). Der Kläger ist mit seinem Begehren auch in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Das LSG hat mit Urteil vom 20.4.2021 die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid vom 30.8.2017 mit der Begründung zurückgewiesen, dass es schon nicht um eine - wie von § 28 Abs 2 Satz 9 SGB V gefordert - medizinische Gesamtbehandlung gehe, die sich aus human- und zahnmedizinisch notwendigen Bestandteilen zusammensetzen müsse. Auch liege keine der Ausnahmeindikationen vor, die der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) aufgrund von § 28 Abs 2 Satz 9 SGB V in Abschnitt B VII Nr 2 Satz 4 der Richtlinie für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche vertragszahnärztliche Versorgung abschließend bestimmt habe. Eine Kieferatrophie begründe danach selbst bei einer fehlenden Behandlungsalternative nie einen Anspruch auf Versorgung mit einem Zahnimplantat. Es bestehe auch kein Anspruch nach § 13 Abs 3a SGB V (Hinweise auf BSG vom 19.6.2001 - B 1 KR 23/00 R - SozR 3-2500 § 28 Nr 6 = juris RdNr 19; BSG vom 19.6.2001 - B 1 KR 4/00 R - BSGE 88, 166 = SozR 3-2500 § 28 Nr 5; BSG vom 4.3.2014 - B 1 KR 6/13 R - SozR 4-2500 § 28 Nr 7; BSG vom 27.8.2019 - B 1 KR 9/19 R - BSGE 129, 62 = SozR 4-2500 § 13 Nr 49, RdNr 27).

Der Kläger beantragt, ihm für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung eines Rechtsanwalts zu bewilligen.

II. Die Bewilligung von PKH unter Beiordnung eines Rechtsanwalts ist abzulehnen.

Nach § 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 114 Abs 1 Satz 1 ZPO kann einem Beteiligten für das Verfahren vor dem BSG nur dann PKH bewilligt werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Das ist hier nicht der Fall. Aus diesem Grund kommt auch die Beiordnung eines Rechtsanwalts nicht in Betracht (§ 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 121 Abs 1 ZPO).

Das BSG darf gemäß § 160 Abs 2 SGG die Revision gegen eine Entscheidung des LSG nur dann zulassen, wenn

-

die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1) oder

-

das angefochtene Urteil von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweicht (Nr 2) oder

-

bestimmte Verfahrensmängel geltend gemacht werden (Nr 3).

Dagegen ist die bloße Behauptung der Unrichtigkeit einer Berufungsentscheidung kein Revisionszulassungsgrund.

Die Durchsicht der Akten und das Vorbringen des Klägers in seinem beim BSG eingegangenem Schreiben vom 10.6.2021 hat keinen Hinweis auf das Vorliegen eines der oben genannten Revisionszulassungsgründe ergeben.

1. Es ist nicht ersichtlich, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung haben könnte. Dies wäre nur dann der Fall, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist (vgl BSG vom 17.4.2012 - B 13 R 347/11 B - SozR 4-2600 § 72 Nr 5 RdNr 17 mwN; zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit dieses Maßstabs BVerfG vom 14.4.2010 - 1 BvR 2856/07 - SozR 4-1500 § 160a Nr 24 RdNr 5 f mwN). Das Bedürfnis für die Klärung einer Rechtsfrage in einem Revisionsverfahren fehlt ua, wenn ihre Beantwortung nach der dazu ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung keinem vernünftigen Zweifel unterliegt, die Frage also "geklärt" ist (vgl BSG vom 1.4.2019 - B 1 KR 1/19 B - SozR 4-1200 § 56 Nr 7 RdNr 6 mwN).

Rechtsfragen, die in diesem Sinne grundsätzliche Bedeutung haben könnten, sind nicht erkennbar. Der erkennende Senat hat in Bestätigung seiner ständigen Rechtsprechung mit Urteil vom 16.8.2021 entschieden, dass nach § 28 Abs 2 Satz 9 SGB V implantologische Leistungen nicht zur zahnärztlichen Behandlung gehören; sie dürfen von den KKn auch nicht bezuschusst werden. Dies gilt nur dann nicht, wenn seltene vom GBA in Richtlinien nach § 92 Abs 1 SGB V festzulegende Ausnahmeindikationen für besonders schwere Fälle vorliegen, in denen die KK diese Leistung einschließlich der Suprakonstruktion als Sachleistung im Rahmen einer medizinischen Gesamtbehandlung erbringt. Eine solche medizinische Gesamtbehandlung muss sich aus verschiedenen, nämlich aus human- und zahnmedizinisch notwendigen Bestandteilen zusammensetzen, ohne sich in einem dieser Teile zu erschöpfen. Nicht die Wiederherstellung der Kaufunktion im Rahmen eines zahnärztlichen Gesamtkonzepts, sondern ein darüber hinausgehendes medizinisches Gesamtziel muss der Behandlung ihr Gepräge geben. Das Tatbestandsmerkmal der medizinischen Gesamtbehandlung schließt von vornherein Fallgestaltungen aus, in denen das Ziel der implantologischen Behandlung nicht über die reine Versorgung mit Zahnersatz zur Wiederherstellung der Kaufähigkeit hinausreicht. § 28 Abs 2 Satz 9 SGB V begrenzt den Anspruch auf Implantatversorgung auf seltene Ausnahmeindikationen für besonders schwere Fälle. Der Anspruch besteht nicht bereits dann, wenn Implantate zahnmedizinisch geboten sind, also für die Wiederherstellung der Kaufähigkeit "alternativlos" sind. Der grundsätzliche Ausschluss implantologischer Leistungen aus dem GKV-Leistungskatalog mit den engen, sich aus § 28 Abs 2 Satz 9 SGB V ergebenden Ausnahmen verstößt auch unter Einbeziehung der Wertungen des Art 2 Abs 1 GG iVm dem Sozialstaatsgebot und des Art 2 Abs 2 GG nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG (BSG vom 16.8.2021 - B 1 KR 8/21 R - SozR 4-2500 § 28 Nr 10 RdNr 9 ff; vgl auch BSG vom 10.3.2022 - B 1 KR 2/21 R - juris RdNr 9 ff).

2. Es ist überdies nicht ersichtlich, dass das Urteil des LSG von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweichen könnte und darauf beruht (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG). Sofern der Kläger ua auf die Entscheidungen des BSG vom 19.6.2001 (B 1 KR 23/00 R - SozR 3-2500 § 28 Nr 6; B 1 KR 4/00 R - BSGE 88, 166 = SozR 3-2500 § 28 Nr 5) verweist, sind entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze in dem Urteil des LSG und dem darin in Bezug genommenen Gerichtsbescheid des SG, die von denjenigen in den genannten Entscheidungen des BSG abweichen, nicht erkennbar. Soweit der Kläger meint, aus der Rechtsprechung des BSG gehe hervor, dass eine Kieferatrophie gerade dann zu einem Leistungsanspruch führe, wenn eine entzündliche Erkrankung ursächlich sei, handelt es sich nicht um einen Rechtssatz, sondern um das vom Kläger behauptete Ergebnis der Anwendung der vom BSG aufgestellten Rechtssätze auf seinen Sachverhalt (Subsumtion). Der Kläger bezieht sich dabei auf Ausführungen, die den gesetzlichen Zuschuss zu den Kosten der Suprakonstruktion betreffen, nicht hingegen den Anspruch auf Versorgung mit einem Zahnimplantat (BSG vom 19.6.2001 - B 1 KR 4/00 R - BSGE 88, 166, 168 = SozR 3-2500 § 28 Nr 5 S 27 = juris RdNr 17). In der vom Kläger zitierten Entscheidung hat der erkennende Senat eine Implantatversorgung in allen Fällen der Kieferatrophie ausgeschlossen (aaO, juris RdNr 19). Hierauf hat das LSG ua seine Entscheidung gestützt.

3. Schließlich ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger einen die Revisionszulassung rechtfertigenden Verfahrensfehler des LSG bezeichnen könnte (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Danach ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

Der Kläger beruft sich auf eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht nach § 103 SGG. Wer sich auf eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht stützt, muss ua darlegen, wieso das LSG sich nach seiner materiell-rechtlichen Rechtsauffassung zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen (vgl BSG vom 8.5.2018 - B 1 KR 3/18 B - juris RdNr 7 mwN). Dafür ist vorliegend nichts ersichtlich. Das LSG hat seine Entscheidung auch darauf gestützt, dass keine medizinische Gesamtbehandlung vorliege, die sich aus human- und zahnmedizinisch notwendigen Bestandteilen zusammensetze.

Schlegel Bockholdt Estelmann

 

Fundstellen

Dokument-Index HI15285363

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