Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensfehler. Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Hinweispflicht auf Zulassungsbedürftigkeit der Berufung bei einer unzutreffenden Rechtsmittelbelehrung. keine Umdeutung eines unzulässigen Rechtsmittels in zulässiges Rechtsmittel ≪hier: Berufung in Nichtzulassungsbeschwerde≫
Orientierungssatz
Gelangt das LSG zu dem Ergebnis, dass die Berufung entgegen der Annahme des SG zulassungsbedürftig sei, erfordert die prozessuale Fürsorgepflicht und das Gebot effektiven Rechtsschutzes einen entsprechenden Hinweis, um dem Rechtsmittelführer die Möglichkeit einzuräumen, zum Wert des Beschwerdegegenstands Stellung zu nehmen oder - sofern noch innerhalb der Rechtsmittelfrist umsetzbar - den Antrag umzustellen und anstelle der Berufung Nichtzulassungsbeschwerde einzulegen (vgl BSG vom 10.11.2011 - B 8 SO 12/11 B = juris RdNr 8; BSG vom 14.12.2006 - B 4 R 19/06 R = SozR 4-3250 § 14 Nr 3 RdNr 24). Denn in einer unzutreffenden Rechtsmittelbelehrung liegt keine Zulassung der Berufung und eine Umdeutung der unstatthaften Berufung in eine Nichtzulassungsbeschwerde scheidet aus (vgl BSG vom 20.5.2003 - B 1 KR 25/01 R = SozR 4-1500 § 158 Nr 1 RdNr 11). Die Hinweispflicht besteht insbesondere dann, wenn der Rechtsmittelführer einer - jedenfalls aus der Sicht des Berufungsgerichts - falschen Rechtsmittelbelehrung des SG folgt und die mit der Berufung angefochtene Entscheidung auch im Übrigen nicht erkennen lässt, dass es deren Zulassung bedarf.
Normenkette
SGG §§ 62, 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 5; GG Art 103 Abs. 1
Verfahrensgang
SG Hildesheim (Gerichtsbescheid vom 30.05.2018; Aktenzeichen S 22 KR 297/17) |
LSG Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 12.11.2018; Aktenzeichen L 16 KR 303/18) |
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 12. November 2018 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 10 000 Euro festgesetzt.
Gründe
I. In dem der Nichtzulassungsbeschwerde zugrunde liegenden Rechtsstreit wendet sich die Klägerin gegen Beitragsforderungen der beklagten Krankenkasse.
Die Klägerin betreibt ein "Technologiezentrum", in dem sie ihren Sohn beschäftigt. Sie hat mit Schreiben vom 28.6.2017 "unter dem Vorbehalt der Bewilligung von PKH" Klage erhoben und beantragt, die Beklagte zu verurteilen, es zu unterlassen, rechtswidrige Beitragsbescheide zuzustellen sowie festzustellen, dass sie der Beklagten keine Beiträge schulde. Zur Begründung hat sie ua Mahnungen der Beklagten vom 7.6., 4.8. und 6.9.2017 vorgelegt.
Das SG Hildesheim hat die Klage wegen fehlenden Vorverfahrens als unzulässig abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 30.5.2018). Die mit dem Begehren eingelegte Berufung, "der Beklagten zu untersagen, unberechtigte Mahnungen zu schicken" und "fest zu stellen, dass die Beklagte keinen Anspruch auf Beitragszahlungen hat", hat das LSG Niedersachsen-Bremen als unzulässig verworfen. Die zuletzt vorgelegte Mahnung vom 6.9.2017 weise einen Betrag von 625,09 Euro aus, so dass der notwendige Wert des Beschwerdegegenstands von mehr als 750 Euro nicht erreicht sei (Urteil vom 12.11.2018).
Gegen die Nichtzulassung der Revision wendet sich die Klägerin mit ihrer Beschwerde.
II. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 12.11.2018 ist zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet.
1. Die Beschwerde ist zulässig. Die Beschwerdebegründung genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG. Sie bezeichnet die Tatsachen, aus denen sich der geltend gemachte Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) ergibt. Die Beschwerdebegründung enthält hinreichende Ausführungen dazu, dass das LSG seiner Hinweispflicht hinsichtlich der Verwerfung der Berufung nicht nachgekommen sei und damit einen zuvor nicht erörterten rechtlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht und dem Rechtsstreit eine unerwartete Wende gegeben habe, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf selbst unter Berücksichtigung mehrerer vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte (Überraschungsentscheidung; stRspr; vgl BVerfG Urteil vom 14.7.1998 - 1 BvR 1640/97 - BVerfGE 98, 218, 263 = juris RdNr 162; BSG Urteil vom 12.12.1990 - 11 RAr 137/89 - SozR 3-4100 § 103 Nr 4 S 23; BSG Urteil vom 2.9.2009 - B 6 KA 44/08 R - SozR 4-2500 § 103 Nr 6 RdNr 18 mwN).
2. Die Beschwerde ist auch begründet. Das LSG hat den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt. Es hat seine Entscheidung auf einen rechtlichen Aspekt gestützt, zu dem die Klägerin sich nicht äußern konnte und hat dem Rechtsstreit dadurch eine unerwartete Wende gegeben.
Gelangt das LSG zu dem Ergebnis, dass die Berufung entgegen der Annahme des SG zulassungsbedürftig (§ 144 SGG) sei, erfordert die prozessuale Fürsorgepflicht und das Gebot effektiven Rechtsschutzes einen entsprechenden Hinweis, um dem Rechtsmittelführer die Möglichkeit einzuräumen, zum Wert des Beschwerdegegenstands Stellung zu nehmen oder - sofern noch innerhalb der Rechtsmittelfrist umsetzbar - den Antrag umzustellen und anstelle der Berufung Nichtzulassungsbeschwerde (§ 145 SGG) einzulegen (vgl BSG Beschluss vom 10.11.2011 - B 8 SO 12/11 B - juris RdNr 8; BSG Urteil vom 14.12.2006 - B 4 R 19/06 R - SozR 4-3250 § 14 Nr 3 RdNr 24). Denn in einer unzutreffenden Rechtsmittelbelehrung liegt keine Zulassung der Berufung und eine Umdeutung der unstatthaften Berufung in eine Nichtzulassungsbeschwerde scheidet aus (BSG Urteil vom 20.5.2003 - B 1 KR 25/01 R - SozR 4-1500 § 158 Nr 1 RdNr 11). Die Hinweispflicht besteht insbesondere dann, wenn der Rechtsmittelführer einer - jedenfalls aus der Sicht des Berufungsgerichts - falschen Rechtsmittelbelehrung des SG folgt und die mit der Berufung angefochtene Entscheidung auch im Übrigen nicht erkennen lässt, dass es deren Zulassung bedarf. Das ist hier der Fall. Das SG hat in seiner Rechtsmittelbelehrung auf die Möglichkeit der Berufung hingewiesen. Auch Tatbestand und Entscheidungsgründe des Gerichtsbescheids enthalten keinen Hinweis darauf, dass die Berufung wegen eines zu niedrigen Beschwerdewerts nach § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG der Zulassung bedürfe. Vielmehr geht das SG einerseits von einer Klage aus, die sich "gegen Beitragsbescheide der Beklagten" richte, ohne diese näher zu bezeichnen und deren quantifizierbaren Regelungsgehalt festzustellen. Andererseits wird als Antrag der Klägerin wiedergegeben, "die Beklagte zu verurteilen, es zu unterlassen, ihr rechtswidrige Beitragsbescheide zuzustellen", die danach erhobene Unterlassungsklage dann aber wiederum als unzulässige "Anfechtungsklage" bewertet, weil gegen die "zugestellten Beitragsbescheide" kein Widerspruch eingelegt worden sei. Sowohl das vom SG zukunftsoffen formulierte Unterlassungsbegehren als auch die unterbliebene Konkretisierung der angegebenen Beitragsbescheide hinsichtlich Beitragshöhe und beitragspflichtiger Zeiträume legen nahe, dass mit der Rechtsmittelbelehrung des SG der durch den Gerichtsbescheid objektiv zum Ausdruck gebrachten Berufungsfähigkeit des Klagebegehrens Rechnung getragen werden sollte.
Das LSG ist seiner Hinweispflicht bezüglich der von ihm angenommenen Zulassungsbedürftigkeit der Berufung nicht nachgekommen. Hierzu wird erstmals im angefochtenen Urteil ausgeführt, dass die zuletzt vorgelegte Mahnung vom 6.9.2017 lediglich einen Gesamtbeitrag von 625,09 Euro ausweise.
Der vorliegenden Entscheidung steht nicht entgegen, dass die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör das angefochtene Urteil nicht beeinflusst hätte, weil wegen eines nicht erreichten Berufungsstreitwerts eine andere Entscheidung als die Verwerfung der Berufung ausgeschlossen war (vgl BSG Beschluss vom 10.11.2011 - B 8 SO 12/11 B - juris RdNr 8). Nach § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG bedarf die Berufung (nur) dann der Zulassung, wenn bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, der Wert des Beschwerdegegenstands 750 Euro nicht übersteigt. Es kann für die Entscheidung des Senats dahingestellt bleiben, ob § 144 SGG vorliegend überhaupt Anwendung findet, insbesondere ob die Klage eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft. Jedenfalls wäre bei unterstellter Anwendbarkeit diese Wertgrenze überschritten. Der Wert des Beschwerdegegenstands bestimmt sich nach dem Begehren, das dem Rechtsmittelkläger durch das SG versagt worden ist und er mit seinem Berufungsantrag zum Zeitpunkt der Einlegung der Berufung weiter verfolgt (BSG Beschluss vom 5.8.2015 - B 4 AS 17/15 B - juris RdNr 6). Mit ihrer Berufung hat sich die Klägerin nicht allein gegen die Mahnung vom 6.9.2017 gewandt. Vielmehr hat sie beantragt, der Beklagten weitere Mahnungen zu untersagen und festzustellen, dass ihr Zahlungsansprüche nicht zustehen. Davon ist auch das LSG nach dem im Tatbestand seines Urteils wiedergegebenen Antrag der Klägerin ausgegangen. Für beide Klagen ist mangels konkreter Anhaltspunkte jedenfalls ein Wert von höchstens 750 Euro nicht ersichtlich.
3. Liegen - wie hier - die Voraussetzungen eines Verfahrensmangels, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), vor, kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen (§ 160a Abs 5 SGG). Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch. Im wiedereröffneten Verfahren wird zu prüfen sein, ob die von der Klägerin "unter dem Vorbehalt der Bewilligung von PKH" eingereichte Klage wirksam erhoben ist (BSG Urteil vom 13.10.1992 - 4 RA 36/92 - SozR 3-1500 § 67 Nr 5), was Gegenstand dieser Klage ist (vgl Mushoff in Schlegel/Voelzke, 1. Aufl 2017, jurisPK-SGG § 106 RdNr 22, 31), insbesondere ob und inwieweit die Klägerin im laufenden Rechtsstreit das Rechtsschutzziel ihrer Klage konkretisiert oder erweitert hat (§§ 99, 88 SGG). Schließlich wird das LSG auf die Erläuterung der Anträge (vgl Mushoff in Schlegel/Voelzke, 1. Aufl 2017, jurisPK-SGG § 106 RdNr 28 f), auf eine aus seiner Sicht sachgerechte Antragstellung durch die im Berufungsverfahren bisher anwaltlich nicht vertretene Klägerin hinzuwirken haben (§ 106 Abs 1 SGG; vgl LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 22.12.2016 - L 29 AS 714/16 NZB - juris RdNr 27 f). Es wird auch zu prüfen haben, ob evtl vorhandene formale Mängel - wie ein fehlendes Vorverfahren - behoben werden können (§ 106 Abs 1, § 114 Abs 2 SGG).
4. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.
5. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG in Verbindung mit § 52 Abs 1 und Abs 2, § 47 Abs 1 Satz 1 und Abs 3 sowie § 63 Abs 2 Satz 1 GKG. Hinreichende Anhaltspunkte für eine Bestimmung des Streitwerts ergeben sich nicht. Daher ist für die Unterlassungs- und Feststellungsklage jeweils der sog Auffangstreitwert festzusetzen.
Fundstellen
Dokument-Index HI14035287 |