Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. sozialgerichtliches Verfahren. Verfahrensmangel. Amtsermittlungsgrundsatz. Übergehen eines Beweisantrags. Schwerbehindertenrecht. GdB-Feststellung. keine Miterfassung eines Fibromyalgiesyndroms durch psychisches Schmerzsyndrom. Zurückverweisung
Orientierungssatz
Das LSG darf im Rahmen der Feststellung des Grads der Behinderung (GdB) einen Beweisantrag zur Begutachtung eines Fibromyalgiesyndroms nicht mit der Begründung übergehen, dass die durch das Fibromyalgiesyndrom möglicherweise hervorgerufenen Schmerzzustände bereits bei einem Schmerzsyndrom berücksichtigt worden seien, das in die Wertung des seelischen Leidens einfließe.
Normenkette
SGG §§ 103, 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 5; SGB 9 § 69 Abs. 1 S. 1; VersMedV § 2; VersMedV Anlage Teil B Nr. 3.7
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 31.01.2013; Aktenzeichen L 10 SB 30/12) |
SG Hannover (Gerichtsbescheid vom 24.02.2012; Aktenzeichen S 41 SB 724/09) |
Tenor
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 31. Januar 2013 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Mit Urteil vom 31.1.2013 hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) einen Anspruch der Klägerin auf Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 50 (anstelle des anerkannten Wertes von 40) ab Juni 2009 verneint. Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat die Klägerin beim Bundessozialgericht (BSG) Beschwerde eingelegt, die sie mit dem Vorliegen von Verfahrensmängeln (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) begründet.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist zulässig. Der von der Klägerin gerügte Verfahrensmangel einer Verletzung des § 103 SGG durch das LSG ist iS des § 160a Abs 2 S 3 SGG hinreichend bezeichnet.
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist auch begründet.
Der geltend gemachte Verfahrensmangel liegt vor, denn das LSG ist dem Beweisantrag der Klägerin auf Einholung eines rheumatologischen Gutachtens zur Abklärung des Vorliegens und der Auswirkungen eines Fibromyalgiesyndroms ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Ohne hinreichende Begründung bedeutet ohne hinreichenden Grund. Die Rüge ist begründet, wenn das LSG sich hätte gedrängt fühlen müssen, den beantragten Beweis zu erheben (BSG SozR 1500 § 160 Nr 5, 49). Das ist hier der Fall.
Das LSG hat seine Entscheidung maßgebend auf das vom Sozialgericht eingeholte Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie sowie Innere Medizin Dr. J. vom 1.10.2011 gestützt und zur Begründung der Ablehnung des Beweisantrages der Klägerin ausgeführt, dass die durch das Fibromyalgiesyndrom möglicherweise hervorgerufenen Schmerzzustände bereits bei dem Schmerzsyndrom berücksichtigt seien, das in die Wertung des seelischen Leidens eingeflossen sei.
Diese Begründung überzeugt nicht. Das LSG durfte den Beweisantrag der Klägerin nicht übergehen. Nach Auffassung des erkennenden Senats musste sich das LSG gedrängt fühlen, die Auswirkungen des Fibromyalgiesyndroms auf die Fähigkeit der Klägerin zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft durch eine weitere Beweiserhebung zu klären. Der Sachverständige Dr. J. hat sich zwar zu der vorliegenden Borreliose geäußert, nicht aber zu einem Fibromyalgiesyndrom (einem nicht entzündlich bedingten Schmerzsyndrom mit chronischen Weichteilbeschwerden), das der Klägerin in dem Bericht des Arztes für Innere Medizin - Rheumatologie Dr. H. vom 22.12.2011 bescheinigt worden ist. Soweit Dr. J. von der Klägerin geschilderte chronische Schmerzen erwähnt, hat er diese der von ihm diagnostizierten psychischen Erkrankung (chronische, unspezifische Anpassungsstörung) zugerechnet. Er hat auch nicht zum Ausdruck gebracht, dass die durch ein Fibromyalgiesyndrom möglicherweise bei der Klägerin hervorgerufenen Beschwerden in vollem Umfang durch das von ihm diagnostizierte Schmerzsyndrom erfasst seien. Bei dieser Sachlage fußt die genannte Beurteilung des LSG ersichtlich nicht auf einer Äußerung des Sachverständigen. Es ist auch nicht erkennbar, dass sich das LSG dabei auf eine andere medizinische Erkenntnisquelle gestützt hat. Dementsprechend ist offengeblieben, ob die gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Klägerin vollständig festgestellt worden sind. Dabei geht es insbesondere um die Klärung möglicher Auswirkungen einer Fibromyalgie auf die Teilhabefähigkeit der Klägerin. Möglicherweise bestehen insoweit neben Schmerzerscheinungen auch Auswirkungen funktioneller Art.
Auf die Einholung eines weiteren medizinischen Sachverständigengutachtens hätte das LSG nur dann verzichten können, wenn es den gerichtlichen Sachverständigen Dr. J., der auch Arzt für Innere Medizin ist und daher grundsätzlich auch für rheumatologische Fragestellungen sachkundig erscheint, zu einer Fibromyalgie ergänzend befragt hätte. Das ist indes nicht geschehen. Mithin ist nicht sichergestellt, dass ein etwaiges Fibromyalgiesyndrom mit seinen Auswirkungen auf die Teilhabefähigkeit der Klägerin bei der Bemessung des GdB berücksichtigt worden ist.
Da die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, macht der Senat von dem ihm gemäß § 160a Abs 5 SGG eingeräumten Ermessen zur Verfahrensbeschleunigung Gebrauch und verweist die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurück.
Das LSG wird bei Abschluss des wiedereröffneten Berufungsverfahrens über die Erstattung der außergerichtlichen Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde zu entscheiden haben.
Fundstellen