Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Anspruch auf rechtliches Gehör. Recht auf ein faires Verfahren. Mündlichkeitsgrundsatz. Ablehnung eines Antrags auf Terminverlegung. Glaubhaftmachung erheblicher Gründe durch anwaltliche Versicherung. Recht auf den gesetzlichen Richter. Entscheidung über Verlegungsantrag vor Erledigung eines Ablehnungsgesuchs. Heilung. Entbehrlichkeit einer dienstlichen Äußerung gemäß § 44 Abs 3 ZPO
Orientierungssatz
1. Selbst wenn man davon ausgeht, die Glaubhaftmachung erheblicher Gründe im Sinne des § 227 Abs 2 ZPO könne durch anwaltliche Versicherung erfolgen, so bedarf diese zumindest einer ausdrücklichen Erklärung des Anwalts (vgl BGH vom 5.7.2017 - XII ZB 463/16 = MDR 2017, 1071 = juris RdNr 14 mwN).
2. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des BSG, dass eine Versagung rechtlichen Gehörs - ohne dass es auf die inhaltliche Berechtigung zur Verlegung ankommt - grundsätzlich schon anzunehmen ist, wenn der Vorsitzende seiner Verpflichtung zur Bescheidung eines Terminsaufhebungs- bzw Verlegungsantrags nicht nachkommt, obwohl eine Entscheidung nach den Gesamtumständen möglich gewesen wäre (vgl nur BSG vom 6.10.2022 - B 8 SO 5/22 B = juris RdNr 9 mwN).
3. Die Verletzung einer "Wartepflicht" infolge der Ablehnung eines Richters wird durch die (wirksame) Zurückweisung des Befangenheitsantrags geheilt (vgl BSG vom 1.8.2000 - B 9 SB 24/00 B = SozR 3-1500 § 160a Nr 29 S 55 = juris RdNr 4 und vom 3.2.2020 - B 14 AS 302/19 B = juris RdNr 3).
4. Eine dienstliche Äußerung gemäß § 44 Abs 3 ZPO des abgelehnten Richters ist entbehrlich, wenn sich der geltend gemachte Ablehnungsgrund auf einen aktenkundigen Vorgang bezieht (vgl BSG vom 27.6.2019 - B 5 R 1/19 B = juris RdNr 10 ; BGH vom 20.9.2016 - AnwZ (Brfg) 61/15 = NJW-RR 2017, 189 = juris RdNr 14), genauso wie bei der Unzulässigkeit des Antrags (vgl dazu BSG vom 23.10.2017 - B 8 SO 28/17 BH = EzSG R 5/952/Nr 4, 161l = juris RdNr 6).
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3, § 62; GG Art. 103 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; SGG § 124 Abs. 1, § 110 Abs. 3; ZPO § 227 Abs. 2, 3 S. 1; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2; SGG § 60 Abs. 1; ZPO § 47 Abs. 1, § 44 Abs. 3
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 24. August 2022 wird als unzulässig verworfen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in der bezeichneten Entscheidung des LSG ist als unzulässig zu verwerfen ( § 160a Abs 4 Satz 1 iVm § 169 Satz 2 SGG ) . Die Klägerin hat die als Zulassungsgrund allein geltend gemachten Verfahrensmängel nicht schlüssig bezeichnet ( § 160a Abs 2 Satz 3 SGG ) .
Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
Die Klägerin macht geltend, das LSG habe gegen ihren Anspruch auf rechtliches Gehör ( § 62 SGG , Art 103 Abs 1 GG ) iVm dem Recht auf ein faires Verfahren ( Art 2 Abs 1 iVm Art 20 Abs 3 GG ) und dem Mündlichkeitsgrundsatz ( § 124 Abs 1 SGG ) verstoßen, weil ihrem Terminverlegungsantrag vom 10.8.2022, den sie auf eine urlaubsbedingte Abwesenheit ihrer Prozessbevollmächtigten in der 33. (Schreiben vom 10.8.2022) bzw 34. Kalenderwoche (Schreiben vom 11.8.2022) gestützt habe, nicht entsprochen worden sei.
Indes ergibt sich aus ihrem Vorbringen, dass sich ihre Prozessbevollmächtigte auch nach dem Hinweis des LSG, der Verhinderungsgrund sei glaubhaft zu machen, mit Schreiben vom 19.8.2022 (Freitag der 33. Kalenderwoche) darauf zurückgezogen hat, dass gemäß § 227 Abs 3 Satz 1 ZPO ohne Weiteres ein Anspruch auf Verlegung des für den 24.8.2022 bestimmten Termins bestehe. In Anbetracht der Regelung des § 110 Abs 3 SGG , der § 227 Abs 3 Satz 1 ZPO ausdrücklich für nicht anwendbar erklärt, ist eine verfahrensfehlerhafte Handhabung des Prozessrechts durch das LSG mit diesem Vorbringen nicht hinreichend aufgezeigt. Dies gilt auch, soweit die Klägerin geltend macht, die Ablehnung der Terminverlegung sei angesichts des anwaltlichen Vortrags "reine Förmelei". Denn selbst wenn man davon ausgeht, die Glaubhaftmachung iS des § 227 Abs 2 ZPO könne durch anwaltliche Versicherung erfolgen, so bedarf diese zumindest einer ausdrücklichen Erklärung des Anwalts (vgl BGH vom 5.7.2017 - XII ZB 463/16 - RdNr 14 mwN) . Dass die Prozessbevollmächtigte der Klägerin eine solche abgegeben habe, hat sie nicht dargebracht. Sie bringt im Gegenteil die Auffassung zum Ausdruck, einer solchen Versicherung bedürfe es nicht.
Im Zusammenhang mit einer behaupteten Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter ( Art 101 Abs 1 Satz 2 GG ) rügt die Klägerin, der mit Schreiben vom 19.8.2022 abgelehnte Richter habe nicht am 22.8.2022 den Terminverlegungsantrag ablehnen dürfen, obwohl über den Ablehnungsantrag noch nicht rechtskräftig entschieden worden sei. Der Termin zur mündlichen Verhandlung betreffe unstreitig keine Sache, die in § 227 Abs 3 Satz 2 ZPO aufgezählt worden sei und sei keine unaufschiebbare Maßnahme gemäß § 60 Abs 1 SGG iVm § 47 Abs 1 ZPO .
Ein Verfahrensmangel, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann, ist damit nicht dargetan. Die Klägerin hat schon nicht dargelegt, weshalb angesichts der Unanwendbarkeit des § 227 Abs 3 Satz 1 ZPO im sozialgerichtlichen Verfahren vorliegend Ausnahmeregelungen dazu zur Anwendung kommen können. Soweit die Klägerin meint, der abgelehnte Richter habe nicht über den Terminverlegungsantrag entscheiden dürfen, weil das keine unaufschiebbare Handlung gewesen sei, entspricht es ständiger Rechtsprechung des BSG, dass eine Versagung rechtlichen Gehörs - ohne dass es auf die inhaltliche Berechtigung zur Verlegung ankommt - grundsätzlich schon anzunehmen ist, wenn der Vorsitzende seiner Verpflichtung zur Bescheidung eines Terminsaufhebungs- bzw Verlegungsantrags nicht nachkommt, obwohl eine Entscheidung nach den Gesamtumständen möglich gewesen wäre (vgl nur BSG vom 6.10.2022 - B 8 SO 5/22 B - RdNr 9 mwN) . Schon aus diesem Grund hätte es näherer Ausführungen dazu bedurft, inwieweit unter diesen Umständen von der Aufschiebbarkeit der Entscheidung auszugehen gewesen sein könnte.
Das gilt auch, soweit die Klägerin vorgebracht hat, im Zeitpunkt der Ablehnung des Terminverlegungsantrags sei noch nicht rechtskräftig über das Ablehnungsgesuch entschieden worden. Ein Verfahrensfehler ist damit nicht hinreichend bezeichnet. Da die Verletzung einer "Wartepflicht" infolge der Ablehnung eines Richters durch die (wirksame) Zurückweisung des Befangenheitsantrags geheilt wird ( BSG vom 1.8.2000 - B 9 SB 24/00 B - SozR 3-1500 § 160a Nr 29 S 55 = juris RdNr 4; BSG vom 3.2.2020 - B 14 AS 302/19 B - RdNr 3 ; Stackmann in Münchener Komm zur ZPO, 6. Aufl 2020, § 47 RdNr 8 mwN ) und diese nach der Beschwerdebegründung erfolgt ist, fehlt es an schlüssigem Vortrag dazu, weshalb es auf die Rechtskraft der Verwerfung oder Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs ankommen soll.
Soweit die Klägerin im Zusammenhang mit dem Ablehnungsgesuch gesondert geltend macht, sie habe auf eine Stellungnahme zur dienstlichen Äußerung gemäß § 44 Abs 3 ZPO nicht verzichtet, ist nach der Beschwerdebegründung nicht erkennbar, dass sich der geltend gemachte Ablehnungsgrund "Besorgnis der Befangenheit Herr Richter …, da er trotz Urlaubszeit nicht verlegen wolle" auf einen nicht aktenkundigen Vorgang bezieht. In diesem Fall wäre schon die dienstliche Äußerung des abgelehnten Richters entbehrlich ( BSG vom 27.6.2019 - B 5 R 1/19 B - RdNr 10 ; BGH vom 20.9.2016 - AnwZ ≪Brfg≫ 61/15 ua - RdNr 14) , genauso wie bei der Unzulässigkeit des Antrags (dazu BSG vom 23.10.2017 - B 8 SO 28/17 BH - RdNr 6 ) .
Wegen der Rüge der Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter, weil das LSG nicht gemäß § 153 Abs 5 SGG habe entscheiden dürfen, genügt die Begründung nicht den Anforderungen an die Bezeichnung einer verfahrensfehlerhaften Handhabung dieser Vorschrift (dazu BSG vom 27.6.2019 - B 11 AL 8/18 R - SozR 4-4300 § 144 Nr 27 RdNr 13) . Das gilt sowohl hinsichtlich der bemängelten Länge der Entscheidung angesichts der Zahl der von der Klägerin gestellten Anträge ( § 56 SGG ) , als auch im Hinblick auf die gerügte Wiedergabe von Rechtsprechung des BSG im Urteil des LSG.
Mit der Verletzung des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz ( Art 19 Abs 4 Satz 1 GG ) , des Anspruchs auf ein faires Verfahren und des Justizgewährungsanspruchs ( Art 2 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 3 GG ) erhebt die Klägerin letztlich inhaltliche Einwände gegen die Entscheidung des LSG. Es geht ihr darum, einen Aufenthaltsgrund dem Bestehen eines Aufenthaltsrechts gleichzustellen. Das beantwortet sich nicht nach dem für den Ablauf des Gerichtsverfahrens geltenden Vorgaben, sondern nach materiellem Recht und kann damit grundsätzlich nicht zum Erfolg einer Verfahrensrüge iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG führen. Entsprechendes gilt, soweit die Klägerin eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 2 SGG und des § 136 Abs 1 Nr 6 SGG rügt; sie bringt insoweit nur vor, die Entscheidung des LSG sei in der Sache unzutreffend.
Die Verwerfung der Beschwerde erfolgt in entsprechender Anwendung des § 169 Satz 3 SGG ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
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Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 183 , 193 SGG . |
S. Knickrehm |
Siefert |
Neumann |
Fundstellen
Dokument-Index HI15670356 |