Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. örtliche Zuständigkeit. Entfallen der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses. zuständiges Sozialgericht bei Streitigkeiten aus dem Leistungserbringerrecht der GKV
Orientierungssatz
1. Gemäß § 98 Abs 1 SGG iVm § 17a Abs 2 GVG ist ein Verweisungsbeschluss wegen örtlicher oder sachlicher Zuständigkeit für das Gericht, an das verwiesen wurde, bindend. Ausnahmsweise kommt dem Verweisungsbeschluss dann keine Bindungswirkung zu, wenn die Verweisung auf einer Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze oder auf willkürlichem Verhalten beruht (ständige Rechtsprechung des BSG zuletzt am 5.1.2012 - B 12 SF 4/11 S).
2. Willkürlich ist eine gerichtliche Entscheidung in dem aufgezeigten Zusammenhang dann, wenn sie unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt mehr vertretbar ist, sodass sich der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht und deshalb auch Art 3 Abs 1 GG verletzt (vgl BVerfG vom 19.12.2001 - 1 BvR 814/01 = NVwZ-RR 2002, 389).
3. Der Senat weist für die Auslegung des § 57a Abs 3 SGG zur Vermeidung wechselseitiger Verweisungen in Fällen der vorliegenden Art darauf hin, dass ebenso wie in Bezug auf § 57a Abs 4 SGG (vgl BSG vom 4.1.2012 - B 12 SF 2/11 S = SGb 2012, 369 f und vom 5.1.2012 - B 12 SF 4/11 S aaO) auch für die Sonderregelung bzw Spezialzuweisung des § 57a Abs 3 SGG gelten dürfte, dass die letztgenannte Vorschrift für die örtliche Zuständigkeit Angelegenheiten voraussetzt, die Entscheidungen oder Verträge auf Landesebene "betreffen", und nicht sämtliche Streitigkeiten aus dem Leistungserbringerrecht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) durch diese Vorschrift zugewiesen werden sollten.
Normenkette
SGG § 57 Abs. 1, § 57a Abs. 3-4, § 58 Abs. 1 Nr. 4, § 98 S. 1; GVG § 17a Abs. 2, 4 S. 2; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4; SGB 5 §§ 140a, 140c Abs. 1 S. 1, § 140d Abs. 1 S. 4
Verfahrensgang
Tenor
Das Sozialgericht Berlin wird zum zuständigen Gericht bestimmt.
Gründe
I. Die Beteiligten streiten in dem zugrundeliegenden Rechtsstreit darüber, ob der Kläger, ein Verein mit Sitz im Zuständigkeitsbereich des SG Osnabrück, als Träger eines in Berlin ansässigen Krankenhauses einen Anspruch gegen die beklagte Krankenkasse auf Auszahlung von 9660,45 Euro hat, die die Beklagte von den vom Krankenhaus abgerechneten Krankenhausleistungen in den Jahren 2006 bis 2008 einbehalten hat. Der Kläger macht mit der beim SG Osnabrück eingereichten Klage geltend, die Beklagte sei nicht berechtigt, die Beträge auf der Grundlage des § 140d Abs 1 S 1 SGB V zur Förderung der integrierten Versorgung von der an den Kläger gemäß § 85 Abs 1 SGB V zu entrichtenden Gesamtvergütung einzubehalten, weil diese Mittel ausschließlich zur Finanzierung der nach § 140c Abs 1 S 1 SGB V vereinbarten Vergütungen verwendet werden dürften, die Beklagte jedoch nicht gemäß § 140d Abs 1 S 4 SGB V nachgewiesen habe, dass die einbehaltenen Beträge gesetzeskonform verwendet worden seien. Die Beklagte macht geltend, als Nachweis genügten die sog Konformitätserklärungen für die Jahre 2006, 2007 und 2008 über die über den 31.12.2008 hinauslaufenden IV-Verträge "Verbundversorgung Berlin-Brandenburg" und "H.-Kliniken". Auf Anfrage des SG Osnabrück hat die Beklagte mitgeteilt, dass Verträge zur integrierten Versorgung ausschließlich in den Bundesländern und nicht auf Bundesebene bestünden und den Kläger betreffende Verträge für Berlin-Brandenburg vorlägen, es allerdings nicht nachvollziehbar sei, dass die Regelung des § 57a SGG einschlägig sein solle. Nach Anhörung der Beteiligten hat sich das SG Osnabrück mit Beschluss vom 29.11.2011 für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit mit Hinweis auf § 57a Abs 3 SGG an das SG Berlin verwiesen.
Mit Beschluss vom 16.4.2012 hat sich das SG Berlin ebenfalls nach Anhörung der Beteiligten für örtlich unzuständig erklärt und die Streitsache dem BSG zur Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts vorgelegt, weil die Verweisung des SG Osnabrück willkürlich sei bzw auf einer Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze beruhe und deshalb nicht binde. Die Zuständigkeit ergebe sich nicht aus § 57a Abs 3 SGG, da Verträge auf Landesebene nicht betroffen seien.
II. Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung nach § 58 Abs 1 Nr 4 SGG durch das BSG liegen vor. Es ist als gemeinsam nächsthöheres Gericht im Sinne dieser Vorschrift zur Entscheidung des negativen Kompetenzkonflikts zwischen dem SG Osnabrück und dem SG Berlin berufen, nachdem das SG Osnabrück seine örtliche Zuständigkeit verneint und den Rechtsstreit an das SG Berlin verwiesen hat, dieses Gericht sich jedoch ebenfalls nicht für örtlich zuständig hält, sondern weiterhin das SG Osnabrück mangels Bindungswirkung als zuständig ansieht. Das SG Berlin konnte von einem eigenen Verweisungsbeschluss absehen und von seiner Unzuständigkeit ausgehend unmittelbar das BSG zur Bestimmung des zuständigen Gerichts anrufen (vgl BSG SozR 4-1500 § 57a Nr 2 RdNr 8).
Zum zuständigen Gericht ist das SG Berlin zu bestimmen, weil dieses an den Verweisungsbeschluss des SG Osnabrück vom 29.11.2011 gebunden ist.
Gemäß § 98 Abs 1 SGG iVm § 17a Abs 2 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) ist ein Verweisungsbeschluss wegen örtlicher oder sachlicher Zuständigkeit für das Gericht, an das verwiesen wurde, bindend. Dies gilt im Interesse des verfassungsrechtlich gewährleisteten effektiven Rechtsschutzes (Art 19 Abs 4 GG) und einer möglichst zügigen sachlichen Entscheidung grundsätzlich unabhängig von der Verletzung prozessualer oder materieller Vorschriften. Den Streit der beteiligten Gerichte über die Anwendung von Regelungen über die örtliche Zuständigkeit zu entscheiden oder in jedem Einzelfall die Richtigkeit des dem Verweisungsbeschluss zugrundeliegenden Subsumtionsvorgangs zu überprüfen, ist gerade nicht Aufgabe des gemeinsamen übergeordneten Gerichts im Verfahren nach § 58 Abs 1 Nr 4 SGG.
Ausnahmsweise kommt dem Verweisungsbeschluss dann keine Bindungswirkung zu, wenn die Verweisung auf einer Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze oder auf willkürlichem Verhalten beruht (stRspr, vgl BSG SozR 3-1720 § 17a Nr 11 S 19 ff, SozR 4-1500 § 57a Nr 2 RdNr 11, SozR 4-1500 § 58 Nr 6 RdNr 15 und SozR 4-1500 § 57 Nr 2 RdNr 4, sowie BVerfG Kammerbeschluss vom 19.12.2001 - 1 BvR 814/01 - NVwZ-RR 2002, 389; zuletzt Beschlüsse des Senats vom 4.1.2012 - B 12 SF 2/11 S - SGb 2012, 369 f, und vom 5.1.2012 - B 12 SF 4/11 S). Willkürlich ist eine gerichtliche Entscheidung in dem aufgezeigten Zusammenhang dann, wenn sie unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt mehr vertretbar ist, sodass sich der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht und deshalb auch Art 3 Abs 1 GG verletzt (vgl BVerfG, aaO). Für eine abweichende Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts in Anwendung dieser strengen Maßstäbe, die das BSG in seiner Rechtsprechung ausgeformt hat, ist vorliegend noch kein Raum.
Zwar verletzt das SG Osnabrück zwingendes Recht, weil der Verweisungsbeschluss entgegen § 17a Abs 4 S 2 GVG mit keiner Begründung versehen ist. Insoweit genügt nicht die Angabe der angewandten Rechtsnorm im Beschlusstenor. Vielmehr hat die Begründung mindestens auch die für erfüllt oder nicht erfüllt gehaltenen Tatbestandsmerkmale und die dafür ausschlaggebenden tatsächlichen und rechtlichen Gründe zu bezeichnen (zu den Mindestanforderungen an eine Begründung vgl BSG SozR 1500 § 136 Nr 10; BSG Urteil vom 8.2.2007 - B 9b SO 5/05 R; Beschluss vom 6.2.2003 - B 7 AL 32/02 B). Diese Missachtung nicht zur Disposition des einzelnen Richters stehenden Verfahrensrechts allein führt jedoch nicht dazu, dass der Beschluss grob verfahrensfehlerhaft bzw willkürlich wäre (vgl BSG Beschluss vom 25.10.2004 - B 7 SF 20/04 S). Vielmehr ist dem Akteninhalt noch mit ausreichender Sicherheit zu entnehmen, dass die Verweisung des SG Osnabrück zwar auf wohl unzutreffenden, aber nicht auf sachfremden Erwägungen beruht hat, was auch für die Beteiligten erkennbar war.
Den Verweisungsbeschluss hat das SG Osnabrück lediglich mit dem Hinweis auf § 57a Abs 3 SGG versehen. Jedoch kann im Hinblick auf seine vorhergehende, unter Verweis auf § 57a Abs 3 und 4 SGG an die Beklagte gerichtete Anfrage, "ob Integrationsverträge ausschließlich mit einzelnen Bundesländern oder auf Bundesebene" bestünden, und die diesbezügliche Antwort geschlossen werden, dass das SG Osnabrück von Verträgen zur integrierten Versorgung "in Bundesländern" ausging. Aufgrund seiner Auslegung des § 57a Abs 3 SGG ist es danach zu dem Ergebnis gelangt, dass im vorliegenden Fall diese Vorschrift die örtliche Zuständigkeit regele und danach das SG Berlin zuständig sei. Die mögliche fehlerhafte Anwendung des § 57a Abs 3 SGG durch das SG ist als solche nicht geeignet, die Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses zu beseitigen. Das SG konnte sich nämlich für seine Rechtsauffassung immerhin auf Rechtsprechung des LSG Niedersachsen-Bremen stützen (vgl zB Beschlüsse vom 11.12.2008 - L 4 B 79/08 KR - NdsRpfl 2009, 261, und vom 5.1.2009 - L 1 B 73/08 KR). Den Inhalt der in der Tendenz gegenteiligen Beschlüsse des erkennenden Senats vom 4.1.2012 (B 12 SF 2/11 S - SGb 2012, 369 f, und vom 5.1.2012 - B 12 SF 4/11 S) sowie der dazu verfassten Anmerkung von Bockholdt (SGb 2012, 317) konnte es dagegen noch nicht berücksichtigen. Ob § 57a Abs 3 SGG auch in dem Fall anwendbar ist, dass sich Entscheidungen oder Verträge auf mehrere Länder (hier: Berlin und Brandenburg?) beziehen, oder ob es bei der Zuständigkeitsregelung des § 57 Abs 1 SGG verbleibt (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 57a RdNr 6), kann hier offenbleiben, weil eine ggf insoweit fehlerhafte Rechtsanwendung durch das SG Osnabrück mangels Anhaltspunkt für besondere, auf ein willkürliches Verhalten hindeutende Umstände ebenfalls die Bindung der Verweisung nicht beseitigen könnte.
Allerdings weist der Senat für die Auslegung des § 57a Abs 3 SGG zur Vermeidung wechselseitiger Verweisungen in Fällen der vorliegenden Art darauf hin, dass ebenso wie in Bezug auf § 57a Abs 4 SGG (BSG Beschlüsse vom 4.1.2012 - B 12 SF 2/11 S - SGb 2012, 369 f, und vom 5.1.2012 - B 12 SF 4/11 S) auch für die Sonderregelung bzw Spezialzuweisung des § 57a Abs 3 SGG gelten dürfte, dass die letztgenannte Vorschrift für die örtliche Zuständigkeit Angelegenheiten voraussetzt, die Entscheidungen oder Verträge auf Landesebene "betreffen", und nicht sämtliche Streitigkeiten aus dem Leistungserbringerrecht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) durch diese Vorschrift zugewiesen werden sollten. Aus ähnlichen Gründen wie bei § 57a Abs 4 SGG (vgl Beschlüsse des Senats vom 4.1.2012 und 5.1.2012, aaO) spricht mehr dafür, dass die örtliche Zuständigkeit der dort genannten SGe nur für solche Streitigkeiten aus dem Leistungserbringerrecht der GKV angeordnet wird, die sich ausschließlich auf die Ebene der Entscheidung oder des Vertrages auf Landesebene beziehen, also Entscheidungen oder Verträge auf Landesebene insoweit "betreffen", als diese selbst und unmittelbar im Streit stehen (vgl Bockholdt, aaO, speziell zu Vergütungsstreitigkeiten zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen S 322 f).
Fundstellen