Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen G. Betreuung gem §§ 1896ff BGB. Prozessführungsbefugnis. Angelegenheiten der Vermögenssorge. Einwilligungsvorbehalt. rechtlicher Vorteil
Orientierungssatz
Zur Zulässigkeit der Prozessführung eines Betreuten im Verfahren über die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" nach § 146 SGB 9, ohne die Einwilligung des iS von § 1896 Abs 2 BGB ua für den Bereich der Vermögenssorge (unter Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts) bestellten Betreuers.
Normenkette
SGG § 71; SGB IX § 69 Abs. 4, §§ 145, 146 Abs. 1; BGB § 1896 Abs. 2, § 1903 Abs. 3 S. 1
Verfahrensgang
SG Reutlingen (Gerichtsbescheid vom 22.07.2004; Aktenzeichen S 3 SB 1099/04) |
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 10.03.2005; Aktenzeichen L 6 SB 3246/04) |
Tatbestand
Streitig ist die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" (erhebliche Gehbehinderung) nach § 146 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX).
Der Beklagte stellte durch Bescheid vom 25. Januar 1993 fest, der Grad der Behinderung (GdB) des Klägers betrage wegen frühkindlicher Hirnschädigung mit Lernbehinderung und organischer Wesensänderung sowie chronischer Lumbalgie 70. Nachdem der Kläger in der Folgezeit erklärt hatte, er verzichte auf derartige Feststellungen, beantragte der mit Urkunde des Vormundschaftsgerichts Reutlingen vom 8. Januar 2003 (ergänzt am 5. August 2003) bestellte Betreuer (Aufgabenkreise: Gesundheitsfürsorge, einschließlich der Einwilligungserklärung in Behandlungsmaßnahmen, Post- und Fernmeldeverkehr und Aufenthaltsbestimmung einschließlich der Entscheidung über freiheitsbeschränkende Maßnahmen sowie Vermögenssorge unter Einwilligungsvorbehalt) einen "Behindertenausweis" für den Kläger. Durch Bescheid vom 25. März 2003 stellte der Beklagte den GdB mit 60 fest und führte aus, die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Feststellung von Merkzeichen lägen nicht vor. Der Bescheid wurde am 26. März 2003 an den Betreuer zur Post gegeben. Im September 2003 beschwerte sich der Kläger bei dem Beklagten darüber, dass dem Schwerbehindertenausweis keine Wertmarke beigefügt gewesen sei. Der vom Beklagten telefonisch über dieses Schreiben informierte Betreuer erklärte dabei, das Schreiben des Klägers bedürfe keiner schriftlichen Beantwortung, er werde diesen informieren.
Am 14. April 2004 hat der Kläger das Sozialgericht Reutlingen (SG) angerufen und sinngemäß die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" begehrt. Dieses hat die Klage als unzulässig abgewiesen und im Wesentlichen zur Begründung ausgeführt: Auch wenn die Klageerwiderung des Beklagten als Widerspruchsbescheid gewertet werde, sei eine inhaltliche Entscheidung des Gerichts nicht zulässig, da der Bescheid vom 21. März 2003 bei Klageerhebung bereits bindend gewesen sei (Gerichtsbescheid vom 22. Juli 2004). Das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) hat die Berufung des Klägers als unbegründet zurückgewiesen (Urteil vom 10. März 2005). Es vertritt die Auffassung: Zwar sei die Klage entgegen der Ansicht des SG nachträglich zulässig geworden, da der Widerspruchsbescheid erst im Klageverfahren erteilt worden sei und Identität zwischen Klagegegner und Widerspruchsbehörde bestehe. Der Widerspruch sei jedoch verspätet eingelegt worden, worauf sich der Beklagte im Klageverfahren auch berufen habe. Wiedereinsetzungsgründe seien weder geltend gemacht, noch ersichtlich. Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.
Das Urteil ist dem Kläger am 19. März 2005 zugestellt worden. Am 29. März 2005 hat er privatschriftlich Beschwerde hiergegen beim Bundessozialgericht (BSG) eingelegt und am 7. April 2005 den ausgefüllten Antrag auf Prozesskostenhilfe übersandt. Der Betreuer des Klägers hat nach einem Hinweis auf den Einwilligungsvorbehalt für den Aufgabenkreis der Vermögenssorge durch Schriftsatz vom 24. Juni 2005 erklärt, er genehmige die Prozessführung des Klägers nicht.
Auf Anregung des erkennenden Senats hat der Beklagte den Antrag des Klägers auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" geprüft und dann mit Bescheid vom 15. Februar 2006 abgelehnt.
Entscheidungsgründe
Dem Prozesskostenhilfeantrag ist nicht stattzugeben.
Nach § 73a Sozialgerichtsgesetz (SGG) iVm § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) kann einem Beteiligten für das Verfahren vor dem BSG nur dann Prozesskostenhilfe bewilligt werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet; das ist hier nicht der Fall. Zwar steht der Zulässigkeit des Begehrens des Klägers die mangelnde Einwilligung dessen Betreuers in die Prozessführung nicht entgegen (1). Es ist jedoch nicht zu erkennen, dass ein zugelassener Prozessbevollmächtigter (§ 166 Abs 2 SGG) in der Lage wäre, eine Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers erfolgreich zu begründen (2).
(1) Der Kläger ist für das vorliegende Verfahren als prozessfähig anzusehen (§ 71 SGG). Die angeordnete Betreuung (§ 1896 ff Bürgerliches Gesetzbuch ≪BGB≫) wirkt sich nach ihrem Aufgabenkreis hier nicht einschränkend aus.
Grundsätzlich gilt: Die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" ist, wegen der sich daraus ergebenden Möglichkeit, vergünstigt den öffentlichen Personennahverkehr benutzen zu können, den Angelegenheiten der Vermögenssorge zuzuordnen (vgl zur Frage des Aufgabenkreises der Vermögenssorge bei einem Antrag auf Sozialhilfe: LG Köln, 14. Mai 1997 - 13 S 17/97; Impfschadensrente: OLG Hamm FamRZ 1974, 31 und Freiwilliger Krankenversicherung: LSG Niedersachsen, 21. März 2001 - L 4 KR 104/99, JURIS, und nachgehend BSG SozR 3-2500 § 9 Nr 4; s auch Bienwald, FamRZ 1998, 1567, 1568).Einerseits verschafft die Entscheidung über das Merkzeichen "G" dem Kläger im Falle des Obsiegens nämlich einen geldwerten Vorteil, andererseits zieht sie, wenn er diesen nutzen möchte, zunächst eine finanzielle Belastung nach sich. Er muss die nach § 145 Abs 1 SGB IX hierfür zu zahlenden 60 € für ein Jahr oder 30 € für ein halbes Jahr im Voraus entrichten. Dem Betreuer, der im vorliegenden Fall iS von § 1896 Abs 2 BGB ua für den Bereich der Vermögenssorge (unter Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts) bestellt worden ist, obliegt daher nach § 1902 BGB grundsätzlich auch die mit dem Erstreiten dieses Merkzeichens einhergehende Prozessführung (vgl Palandt/Diederichsen, BGB, 65. Aufl, § 1902 RdNr 3).
Die Prozessführung des Klägers ist im vorliegenden Fall gleichwohl ohne die Einwilligung des Betreuers zulässig. Die von den Sozialgerichten zu treffende Entscheidung betrifft zunächst einmal nur die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen iS des § 146 Abs 1 SGB IX. Die damit einhergehenden praktischen Vor- und Nachteile ergeben sich erst aus einem weiteren Schritt, der der sozialgerichtlichen Feststellung nachfolgt und nicht Gegenstand des hiesigen Verfahrens ist. Die streitige Entscheidung nach § 69 Abs 4 iVm §§ 145 f SGB IX verschafft dem Kläger damit nur einen rechtlichen Vorteil. Demgemäß gilt hier § 1903 Abs 3 Satz 1 BGB: Ist ein Einwilligungsvorbehalt angeordnet, bedarf der Betreute dennoch nicht der Einwilligung des Betreuers, wenn die Willenserklärung des Betreuten lediglich einen rechtlichen Vorteil bringt (vgl hierzu auch § 107 BGB).
(2) Gründe für eine Zulassung der Revision gegen das Urteil des LSG vom 10. März 2003 lassen sich nicht finden. Gemäß § 160 Abs 2 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1), das Urteil des LSG von einer Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nr 2) oder wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (Nr 3). Ein solcher Zulassungsgrund ist weder nach dem Vorbringen des Klägers noch nach summarischer Prüfung des Streitstoffs auf Grund des Inhalts der beigezogenen Verfahrensakte ersichtlich.
Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) ist nicht gegeben. Sie ist nur dann anzunehmen, wenn eine Rechtsfrage aufgeworfen wird, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Einheit oder Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Das ist hier nicht erkennbar.
Erfolgsaussicht hat die Beschwerde auch nicht wegen möglicher Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG). Höchstrichterliche Entscheidungen, von denen das LSG abgewichen sein könnte, sind nicht ersichtlich.
Schließlich lässt sich auch nicht feststellen, dass die Revision wegen eines Verfahrensmangels zugelassen werden könnte (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf die Verletzung der §§ 109 (Anhörung eines bestimmten Arztes) und 128 Abs 1 Satz 1 (freie richterliche Beweiswürdigung) SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
Das LSG hat sich - soweit es von einer kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ausgegangen ist - zu Recht auf verfahrensrechtliche Gesichtspunkte gestützt und keine Entscheidung in der Sache getroffen. Insofern kann offen bleiben, ob eine Frage, welche sich auf die Zulässigkeit eines Widerspruchs iS von § 84 SGG bezieht, überhaupt einen Mangel des Berufungsverfahrens betrifft (vgl dazu BSG SozR Nr 95 zu § 162 SGG).
Die Widerspruchsfrist von einem Monat seit Bekanntgabe des angefochtenen Verwaltungsakts (§ 84 Abs 1 Satz 1 SGG) ist im vorliegenden Fall versäumt worden. Der Kläger hat nicht rechtzeitig Widerspruch gegen den Bescheid vom 25. März 2003 eingelegt. Er hat erst mit Schreiben vom 5. September 2003 geltend gemacht, dem Schwerbehindertenausweis seien keine Wertmarken beigefügt gewesen. Selbst wenn er damit seine Unzufriedenheit mit dem Bescheid zum Ausdruck bringen wollte, ist dieser Widerspruch - bei zu unterstellender Bekanntgabe des am 26. März 2003 abgesandten Bescheides gegenüber dem Betreuer noch im Verlaufe des Monats März 2003 (siehe: § 37 Abs 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch ≪SGB X≫) - verspätet gewesen. Umstände, die gegen eine tatsächliche Bekanntgabe sprechen könnten, sind nicht ersichtlich.
Die an den Betreuer erfolgte Bekanntgabe des Bescheides ist auch dem Kläger gegenüber wirksam gewesen. Da der Betreuer den Kläger insoweit vertrat (vgl § 1902 BGB), war der an den Kläger gerichtete Verwaltungsakt ihm bekannt zu geben (vgl BSGE 80, 283, 286 = SozR 3-1300 § 50 Nr 19; BSGE 82, 283, 295 = SozR 3-5420 § 24 Nr 1). Der Betreuer hat sich gegenüber dem Beklagten mit seiner Bestellungsurkunde legitimiert, sodass von Seiten des Beklagten kein Anlass bestand, an der Vertretungsbefugnis zu zweifeln. Dies gilt auch, soweit die begehrte Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" für den Kläger ausschließlich einen rechtlichen Vorteil mit sich bringt. Dieser Umstand führt lediglich zum Entfallen des Einwilligungsvorbehalts. Das Betreiben von Feststellungen nach § 69 Abs 4 SGB IX bleibt eine Aufgabe der Vermögenssorge. § 1903 Abs 3 BGB soll in diesem Zusammenhang lediglich die Eigenständigkeit des Betreuten gewährleisten, verbietet jedoch insoweit nicht die Wahrnehmung von Angelegenheiten der Vermögenssorge durch den Betreuer, zumindest, wenn der Betreute damit einverstanden ist. Hiervon muss im vorliegenden Fall ausgegangen werden, denn aus der Sicht des Klägers sind die im Bescheid getroffenen Feststellungen ein Minus gegenüber der weiteren im Klageverfahren erstrebten.
Soweit es das LSG versäumt hat, das Klagebegehren des Klägers auch unter dem Aspekt einer "Untätigkeitsklage" (§ 88 SGG) einer Prüfung zu unterziehen, und möglicherweise in dieser Hinsicht zu Unrecht keine Sachentscheidung getroffen hat, kann ein etwaiger Verfahrensmangel nicht mehr zur Revisionszulassung führen. Dieses Klagebegehren ist zwischenzeitlich prozessual überholt. Damit ist das Rechtsschutzbedürfnis des Klägers entfallen (vgl dazu allgemein Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 176 RdNr 3), und es fehlt insoweit an der für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe erforderlichen Erfolgsaussicht. Dem liegen folgende Überlegungen zu Grunde:
Der Kläger könnte mit dem Schreiben vom 5. September 2003 - jedenfalls hilfsweise - einen Antrag nach § 44 SGB X gestellt haben. Wegen der Befugnis des Klägers, den Antrag alleine verfolgen zu können, konnte der Betreuer diesen nicht telefonisch für erledigt erklären. Die in der Klageerhebung vom 14. April 2004 zu erblickende Untätigkeitsklage hat sich jedoch durch den von dem Beklagten am 15. Februar 2006 erteilten Bescheid über die Ablehnung der Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens "G" erledigt. Die Untätigkeitsklage ist immer nur auf Bescheidung gerichtet - unabhängig von dem Ergebnis des erteilten Bescheides. Durch die Vornahme der begehrten Verwaltungshandlung ist daher das Rechtsschutzbedürfnis für diese Klage entfallen (vgl Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 88 RdNr 12). Unberührt bleibt die Möglichkeit des Klägers, gegen den betreffenden Bescheid fristgerecht Widerspruch einzulegen.
Da dem Kläger Prozesskostenhilfe nicht zusteht, kommt auch die Beiordnung eines Rechtsanwalts gemäß § 73a SGG, § 121 ZPO nicht in Betracht.
Die von dem Kläger persönlich angebrachte Nichtzulassungsbeschwerde ist ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter als unzulässig zu verwerfen, da sie nicht von einem vor dem BSG zugelassenen Prozessbevollmächtigten (§ 166 SGG) eingelegt worden ist (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 iVm § 169 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI15134830 |