Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Prozessurteil. Versäumung der Berufungsfrist. Wiedereinsetzung. keine Zurechnung von Verschulden. Verletzung der prozessualen Fürsorgepflicht. kein rechtzeitiger Hinweis des Gerichts
Orientierungssatz
1. Ohne Verschulden handelt ein Prozessbeteiligter auch dann, wenn ein Verschulden zwar vorgelegen hat, dieses aber für das Fristversäumnis nicht ursächlich gewesen ist bzw ihm nicht zugerechnet werden kann, weil die Frist im Fall pflichtgemäßen Verhaltens einer anderen Stelle gewahrt worden wäre (vgl BSG vom 30.1.2002 - B 5 RJ 10/01 R = SozR 3-1500 § 67 Nr 21).
2. Ein Prozessbeteiligter kann erwarten, dass offenkundige Versehen wie zB die Einlegung eines Rechtsmittels bei einem unzuständigen Gericht in angemessener Zeit bemerkt und innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs die notwendigen Maßnahmen getroffen werden, um ein drohendes Fristversäumnis zu vermeiden (vgl BSG vom 10.12.1974 - GS 2/73 = BSGE 38, 248 = SozR 1500 § 67 Nr 1 und vom 30.1.2002 - B 5 RJ 10/01 R aaO sowie BGH vom 22.10.1986 - VIII ZB 40/86 = NJW 1987, 440).
Normenkette
SGG § 160a Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 151 Abs. 1, § 67 Abs. 1
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 16.06.2011; Aktenzeichen L 6 AS 472/11) |
SG Köln (Gerichtsbescheid vom 07.02.2011; Aktenzeichen S 15 AS 664/10) |
Nachgehend
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. Juni 2011 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Im Streit steht die Übernahme der Kosten einer kieferorthopädischen Behandlung durch den Beklagten. Die Gesamthöhe der hier streitigen Kosten beträgt 1525,35 Euro. Der Beklagte hat dieses Begehren durch Bescheid vom 15.1.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3.2.2010 abgelehnt. Mit der dagegen erhobenen Klage vor dem SG Köln hat die Klägerin, vertreten durch ihren Vater, den zuvor benannten Betrag im Klammerzusatz "zahlbar … in monatlichen Teilbeträgen von 31,78 Euro" geltend gemacht.
Das SG hat die Klage durch Gerichtsbescheid vom 7.2.2011 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, im SGB II existiere keine Rechtsgrundlage, weder für die Übernahme der der Klägerin obliegenden Eigenbeteiligung, noch eine darlehensweise oder zuschussweise Übernahme der Kosten, die über den im Leistungskatalog des SGB V bestimmten notwendigen Umfang der kieferorthopädischen Behandlung (ergänzender Heil- und Kostenplan) hinaus gingen. § 23 Abs 1 SGB II und Art 1 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 GG kämen als Anspruchsgrundlage daher von vorn herein nicht in Betracht. Die ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche kieferorthopädische Versorgung sei für sie als gesetzlich Krankenversicherte durch die Regelungen des SGB V sichergestellt. Bereits aus diesem Grunde läge ein Härtefall nicht vor. Soweit die darlehensweise Übernahme der Kosten geltend gemacht werde, sei die Klage unzulässig, da es insoweit bisher an einer Verwaltungsentscheidung mangele. Im Übrigen sei die Klage bezüglich des Darlehens und, wenn dieser Klageantrag zugleich als Beihilfebegehren auszulegen sei, verfristet. Diese Begehren seien erstmals schriftsätzlich am 17.9.2010 gegenüber dem Gericht geltend gemacht worden. Der Widerspruchsbescheid vom 3.2.2010 sei der Klägerin jedenfalls vor dem 15.2.2010 bekannt gegeben worden. Das SG hat seiner Entscheidung die Rechtsmittelbelehrung beigefügt, dass der Gerichtsbescheid mit der Berufung angefochten werden könne.
Die Klägerin hat nach Zustellung des Gerichtsbescheides am 9.2.2011 durch Schriftsatz vom 3.3.2011 "gemäß § 105 Abs 2 SGG, (die Anberaumung) eine(r) mündliche(n) Verhandlung" beantragt. Durch Schreiben vom 8.3.2011, abgesandt laut "Abvermerk" in der SG-Akte am selben Tag, hat das SG darauf hingewiesen, dass zutreffendes Rechtsmittel die Berufung und nicht der Antrag auf mündliche Verhandlung sei. Mit Schreiben vom 10.3.2011, eingegangen bei dem SG am 10.3.2011, hat die Klägerin alsdann beantragt, den Antrag auf mündliche Verhandlung als "Berufung" zu betrachten. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass es ihrem Willen entspreche, die Entscheidung des SG einer materiell-rechtlichen Überprüfung unterziehen zu lassen.
Das LSG hat die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen (Urteil vom 16.6.2011). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, die Berufung sei verfristet. Die Frist für die Berufungseinlegung sei am 9.3.2011 abgelaufen gewesen, die Berufung sei jedoch erst am 10.3.2011 eingegangen. Der Antrag auf mündliche Verhandlung könne nicht als fristgemäße Berufung gewertet werden. Eine Umdeutung komme bereits deswegen nicht in Betracht, weil der Antrag auf mündliche Verhandlung nicht auf ein Begehren der Überprüfung der Entscheidung durch die nächste Instanz, sondern durch die selbe Instanz gerichtet sei. Dies gelte um so mehr, wenn - wie hier - ausdrücklich die einschlägige Vorschrift benannt werde. Der Vertreter der Klägerin verfüge insoweit auch über hinreichende Rechtskenntnisse aus den zahlreichen von ihm betriebenen Verfahren vor SG und LSG. Wiedereinsetzungsgründe habe die Klägerin nicht geltend gemacht. Die Rechtsmittelbelehrung der Entscheidung sei eindeutig gewesen, sodass ein Irrtum hierüber ausscheide. Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.
Auf ihren Antrag hat der erkennende Senat durch Beschluss vom 17.8.2011 PKH bewilligt und Rechtsanwalt C beigeordnet sowie ihr durch Beschluss vom 16.9.2011 Wiedereinsetzung in die Frist zur Einlegung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG gewährt.
Zur Begründung der Beschwerde rügt die Klägerin als Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) des LSG den Erlass eines Prozess- anstatt eines Sachurteils.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG Erfolg (§ 160a Abs 5 SGG).
Wie die Klägerin formgerecht (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG) und zutreffend gerügt hat, ist das Urteil des LSG verfahrensfehlerhaft zustande gekommen (vgl § 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Das LSG hat zu Unrecht ein Prozess- anstatt ein Sachurteil erlassen. Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 SGG sind gegeben - die Berufungsfrist ist damit gewahrt. Zwar war die Rechtsmittelbelehrung des SG eindeutig und die Klägerin hatte in ihrem schriftsätzlichen Antrag gegenüber dem SG eine Gesamtsumme von weit über 750 Euro geltend gemacht. Ohne Verschulden handelt ein Prozessbeteiligter jedoch auch dann, wenn ein solches Verschulden zwar vorgelegen hat, dieses aber für das Fristversäumnis nicht ursächlich gewesen ist bzw ihm nicht zugerechnet werden kann, weil die Frist im Fall pflichtgemäßen Verhaltens einer anderen Stelle gewahrt worden wäre (BSG 30.1.2002 - B 5 RJ 10/01 R, SozR 3-1500 § 67 Nr 21).
Nach der Rechtsprechung des BSG liegt Verschulden eines Prozessbeteiligten grundsätzlich vor, wenn die von einem gewissenhaften Prozessführenden im prozessualen Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen worden ist (vgl zB BSGE 1, 227; BSGE 61, 213 = SozR 1500 § 67 Nr 18; BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 21 S 60 mwN; BSG 3.3.2009 - B 1 KR 69/08 B, SozR 4-1500 § 160a Nr 23). Unter Berücksichtigung des Anspruchs auf ein faires Verfahren darf ein Gericht allerdings aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile ableiten (vgl zB BVerfGE 60, 1; 75, 183) und ist zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet (BVerfGE 78, 123; BVerfGE 79, 372). Dementsprechend ist Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn das Fristversäumnis auch auf Fehlern beruht, die im Verantwortungsbereich des Gerichts bei Wahrnehmung seiner Fürsorgepflicht liegen (vgl BVerfGE 93, 99; BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 21 S 61 mwN). Eine prozessuale Fürsorgepflicht des Gerichts besteht immer dann, wenn es darum geht, eine Partei oder ihren Prozessbevollmächtigten nach Möglichkeit vor den fristbezogenen Folgen eines bereits begangenen Fehlers zu bewahren. Ein Prozessbeteiligter kann daher erwarten, dass offenkundige Versehen wie zB die Einlegung eines Rechtsmittels bei einem unzuständigen Gericht in angemessener Zeit bemerkt und innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs die notwendigen Maßnahmen getroffen werden, um ein drohendes Fristversäumnis zu vermeiden (BSG GrS 10.12.1997 - GS 2/73, BSGE 38, 248 = SozR 1500 § 67 Nr 1; BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 21; BGH NJW 1987, 440 und NJW 2000, 3649; BSG 28.5.2003 - B 3 P 2/03 B, SozR 4-1500 § 166 Nr 1). So liegt der Fall hier.
Der Antrag der Klägerin auf mündliche Verhandlung ist am Donnerstag, den 3.3.2011 beim SG eingegangen. Die Berufungsfrist lief am Mittwoch, dem 9.3.2011 ab. Bei ordnungsgemäßem Geschäftsgang hätte die Bearbeitung des Schriftsatzes nach dessen Eingang auf jeden Fall mehr als einen Tag vor dem Ablauf der Berufungsfrist am 9.3.2011 erfolgen können. Erfolgt ist die Bearbeitung - mit dem Hinweis auf die Erforderlichkeit der Berufung - jedoch erst am 8.3.2011, also fünf Tage nach dem Eingang des Antrags. Selbst wenn das Aufklärungsschreiben bei der Klägerin erst am Dienstag, dem 8.3.2011 eingegangen wäre, wäre noch hinreichend Zeit gewesen, die Berufung fristgerecht einzulegen. Es ist auch zu erwarten, dass die Klägerin die versäumte Handlung innerhalb der Berufungsfrist nachgeholt hätte, denn sie hat am Tag des Erhalts des Schreibens des SG, am 10.3.2011 - einen Tag nach Ablauf der Berufungsfrist - Berufung eingelegt. Sie erfüllt damit zugleich die weiteren Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 SGG.
Da die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, steht es im Ermessen des erkennenden Senats, nach § 160a Abs 5 SGG zu verfahren. In Ausübung seines Ermessens verweist der Senat den Rechtsstreit maßgeblich aus prozessökonomischen Gründen an das LSG zurück. Ein durch Zulassung eröffnetes Revisionsverfahren könnte zu keinem anderen Ergebnis führen.
Fundstellen