BGH: Kanzleischlüssel vergessen, Berufungsfrist versäumt

Der BGH hat einer Anwältin, die ihren Büroschlüssel in ihrer Kanzlei vergessen hatte und die Kanzlei deshalb am Abend des Fristablaufs für eine Berufung nicht mehr betreten konnte, eine Wiedereinsetzung verwehrt.

In einer aktuellen Entscheidung hat der BGH erneut die Anforderungen an die Darlegung mangelnden Verschuldens bei einem Fristversäumnis präzisiert. Im Fall eines in der Kanzlei vergessenen Büroschlüssels hätte die betreffende Anwältin im Einzelnen darlegen müssen, aus welchen Gründen keine Möglichkeit bestanden hatte, innerhalb der noch zur Verfügung stehenden Zeit einen Zugang zu den Büroräumen zu ermöglichen oder einen anderen Rechtsanwalt mit der Vornahme der fristwahrenden Handlung zu beauftragen.

Berufung nach Ablauf der Berufungsfrist eingelegt

In dem vom BGH entschiedenen Fall hatte eine Klägerin, die von der Anwältin vertreten Beklagten erfolgreich auf die Rückzahlung von Darlehen verklagt. Die Beklagtenvertreterin legte einen Wochentag nach Ablauf der Berufungsfrist Berufung gegen das Urteil ein und beantragte hinsichtlich der Fristversäumnis Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Den Wiedereinsetzungsantrag begründete sie damit, dass sie wegen eines plötzlichen Schwindelanfalls die Kanzlei am Tag des Fristablaufs vor Fertigstellung der Berufungsschrift habe verlassen müssen.

Anwältin hatte sich aus ihrer Kanzlei ausgesperrt

Nachdem sie sich zu Hause ausgeruht habe und das Büro gegen 19:00 Uhr wieder betreten wollte, habe sie bemerkt, dass sie den Kanzleischlüssel – bedingt durch den Schwindelanfall – im Büro vergessen hatte. Sie habe versucht, ihre Anwaltskollegin zu erreichen. Diese habe sich jedoch auf einem Auswärtstermin befunden und habe deshalb nicht kommen können. Die Telefonnummern weiterer Kollegen und auch die der Sekretärin habe sie in ihrem Mobilfunkgerät nicht gespeichert, sodass sie niemanden mehr habe erreichen können, der ihr den Zugang zur Kanzlei hätte verschaffen können.

Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen

Diese Darlegungen reichten dem Berufungsgericht für eine Wiedereinsetzung nicht aus. Es hat den Antrag auf Wiedereinsetzung in vorigen Stand zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Nach Auffassung des Berufungsgerichts hatten die Beklagten, vertreten durch ihre Prozessbevollmächtigte, nicht hinreichend dargelegt, dass sie die Berufungsfrist ohne ihr Verschulden versäumt hatten. Hierzu wäre erforderlich gewesen, dass die Beklagtenvertreterin Anstrengungen zur Einschaltung eines Vertreters unternommen hätte, der die Berufung, die ja keiner Begründung bedarf, für sie hätte einlegen können. Nachdem der aufgetretene Schwindelanfall sich gelegt hatte, seien immerhin noch mehr als 4 Stunden Zeit gewesen, die Berufungseinlegung zu veranlassen.

Rechte der Beschwerdeführerinnen nicht verletzt

Die gegen die ablehnende Entscheidung des Berufungsgerichts eingelegte Rechtsbeschwerde hatte beim BGH keinen Erfolg. Der BGH stellte klar, dass die Beurteilung des Berufungsgerichts weder den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 Abs. 1 GG noch den Anspruch auf effektiven Rechtsschutz gem. Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verletzt hatten. Das Berufungsgericht habe insbesondere den wesentlichen Kern des Vorbringens der Beklagten erfasst und bei seiner Entscheidung berücksichtigt (BGH, Beschluss v. 27.8.2019, VIZR 460/17). Das Gericht habe aus zutreffenden Gründen die Anstrengungen der Beklagtenvertreterin zur Einschaltung eines Vertreters zur fristgerechten Einreichung der Berufung für nicht ausreichend erachtet.

Anstrengungen zur Fristwahrung waren ungenügend

Nach Auffassung des BGH hätten der Beklagtenvertreterin noch eine Reihe von Optionen zur Einhaltung der Berufungsfrist zur Verfügung gestanden. Zum einen hätte sie die in einem Außentermin befindliche Kollegin mit ihrem Fahrzeug aufsuchen können, um den Kanzleischlüssel abzuholen. Außerdem habe sie nicht dargelegt, aus welchen Gründen es ihr nicht möglich gewesen sei, die Telefonnummern weiterer Kanzleimitarbeiter herauszufinden. Schließlich hätte sie als Ultima Ratio auch mithilfe eines Schlüsseldienstes die Kanzleitür öffnen lassen können.

Gesteigerte Sorgfaltspflicht beim Ausreizen der Berufungsfrist

Die Versäumnisse der Beklagtenvertreterin wiegen nach der Bewertung des BGH auch deshalb besonders schwer, weil sie die Berufungsfrist bis zum letzten Tag ausgereizt hatte. Nach ständiger Rechtsprechung habe ein Rechtsanwalt, der eine Frist bis zum letzten Tag ausreizt, wegen des damit verbundenen Risikos der Fristversäumnis eine erhöhte Sorgfalt aufzuwenden, um die Einhaltung der Frist sicherzustellen. Er müsse alle ihm zumutbaren Schritte zur Fristwahrung unternehmen. (BGH, Beschluss v. 9.5.2006, XI ZB 45/04).

Keine hinreichenden Darlegungen zum fehlenden Verschulden

Infolge der fehlenden Darlegungen weiterer Bemühungen ist das Berufungsgericht nach der Entscheidung des BGH zurecht davon ausgegangen, dass das Fristversäumnis nicht unverschuldet war. Das Versäumnis der Anwältin sei den Beklagten gem. § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen (BGH, Beschluss v. 17.12.2020, III ZB 31/20). Die beantragte Wiedereinsetzung sei daher abzulehnen.

(BGH, Beschluss v. 11.7.2024, IX ZB 31/23)

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Hintergrund:

Die aktuelle Entscheidung des BGH korrespondiert mit weiteren Entscheidungen des BGH, in denen das Gericht eher strenge Anforderungen an die Sorgfaltspflicht des Anwalts zur Vermeidung von Fristversäumnissen stellt.

  • So ist ein Einzelanwalt verpflichtet, u.a. durch Absprache mit einem zur Vertretung bereiten Kollegen geeignete Vorkehrungen treffen, dass im Fall einer plötzlichen Erkrankung keine Nachteile für die Mandantschaft entstehen und keine Frist versäumt wird (BGH, Beschluss v. 28.5.2020, IX ZB VIII/18).
  • Auch die versehentliche Rücknahme einer eingelegten Berufung ist i. d. R. verschuldet und rechtfertigt keine Wiedereinsetzung (BGH, Beschluss v. 6.3.2024, XII ZB 408/23).
  • Im Fall der Vorlage einer versehentlich nicht als fristgebundenen gekennzeichneten Akte und einer hierdurch eintretenden Fristversäumnis ist eine Wiedereinsetzung abzulehnen, wenn der Anwalt die Akte nicht spätestens innerhalb einer Woche nach der Wiedervorlage auf ihre konkrete Bearbeitungsbedürftigkeit hin überprüft hat (BGH, Beschluss v. 29.3.2011, VI ZB 25/10).