Entscheidungsstichwort (Thema)
Pflegeversicherung. Bemessung des Pflegebedarfs. keine Berücksichtigung eines allgemeinen Aufsichtsbedarfs zur Motivation und Kontrolle eines psychisch Kranken
Orientierungssatz
Ein allgemeiner Aufsichtsbedarf zur Motivation und Kontrolle eines Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen kann bei der Bemessung des Pflegebedarfs iS der §§ 14 und 15 SGB 11 nicht berücksichtigt werden.
Normenkette
SGB 11 §§ 14-15
Verfahrensgang
Tatbestand
Der 1988 geborene Kläger leidet an einem hyperkinetischen Syndrom und weiteren funktionellen Beeinträchtigungen mit Verhaltens-, Lern- und Anpassungsstörungen. Er bezog von der Pflegekasse der AOK Brandenburg bis zum 31.1.2002 Leistungen nach der Pflegestufe I. In der Zeit vom 1.2.2002 bis zum 21.8.2005 (Wechsel zur Techniker-Krankenkasse am 22.8.2005) war er über seine Mutter bei der beklagten Pflegekasse der AOK Bayern versichert. Die Beklagte lehnte nach Einholung zweier Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung vom 12.6.2002 und 12.8.2002 den nach dem Kassenwechsel notwendig gewordenen neuen Leistungsantrag ab (Bescheid vom 17.6.2002, Widerspruchsbescheid vom 16.12.2002), weil der tägliche durchschnittliche Grundpflegebedarf nicht mehr den Mindestzeitwert von "mehr als 45 Minuten" erreichte. Der Kläger sei in der Lage, die Verrichtungen der Grundpflege (§ 14 Abs 4 Nr 1 bis 3 SGB XI) selbstständig durchzuführen. Dazu bedürfe er zwar der Motivation und Kontrolle; diese Art der Hilfe sei aber bei der Bemessung des Grundpflegebedarfs nicht zu berücksichtigen. Das Sozialgericht hat die Klage nach Einholung aktueller Befundberichte mangels Erfüllung der zeitlichen Voraussetzungen des § 15 Abs 3 Satz 1 Nr 1 SGB XI abgewiesen (Urteil vom 24.3.2006). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers nach Beiziehung der Akten des Arbeitsamts Landshut mit psychologischen Gutachten vom 21.6.2004 und 7.6.2005 sowie Berichten der Fachklinik Haselbach zurückgewiesen (Urteil vom 28.5.2008), weil der Kläger ab 1.2.2002 keinen Grundpflegebedarf mehr habe.
Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG wendet sich der Kläger mit der - fristgerecht erhobenen - Beschwerde, die er mit Verfahrensfehlern (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) begründet.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde des Klägers ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den sich aus § 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 SGG ergebenden formalen Anforderungen. Das Rechtsmittel ist daher ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 iVm § 169 SGG) .
1. Der Verfahrensmangel der unzureichenden Sachaufklärung ist nicht formgerecht dargelegt worden. Eine Verfahrensrüge erfüllt nur dann die gesetzliche Form, wenn die sie begründenden Tatsachen im Einzelnen angegeben sind und in sich verständlich den behaupteten Verfahrensfehler ergeben (BSG SozR 1500 § 160a Nr 14) . Außerdem ist darzulegen, aus welchen Gründen die Entscheidung des LSG auf dem Verfahrensmangel beruhen kann. Das Vorbringen des Klägers, das LSG habe seine Pflicht zur Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen (§ 103 SGG) verletzt, erfüllt diese Voraussetzungen nicht. Eine Verletzung von § 103 SGG kann nach § 160 Abs 2 Nr 3, 2. Halbsatz SGG mit der Nichtzulassungsbeschwerde nur dann geltend gemacht werden, wenn sie sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung über die zu beurteilenden Fragen ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Hierzu muss der Beweisantrag so genau bezeichnet werden, dass er ohne große Schwierigkeiten auffindbar ist (BSG SozR 1500 § 160 Nr 5 und 64; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 5. Aufl 2008, IX. Kap RdNr 208, 209) . Bezieht sich der Beschwerdeführer trotz Durchführung einer mündlichen Verhandlung nur auf schriftsätzlich gestellte Beweisanträge, die in der Sitzungsniederschrift nicht aufgeführt sind, ist weiter darzulegen, aus welchen Gründen zu schließen ist, dass die Beweisanträge dennoch aufrechterhalten worden sind (BSG SozR 1500 § 160 Nr 12).
a) Der Kläger rügt als Verfahrensfehler die unterbliebene Vernehmung seiner Mutter K. E. zum Umfang des notwendigen täglichen Pflegebedarfs und beruft sich insoweit auf den Beweisantrag in der Berufungsbegründung vom 19.9.2006 sowie im Schriftsatz vom 12.1.2007. Er hat aber nicht vorgetragen, er habe diesen schriftlichen Beweisantrag - trotz Fehlens eines entsprechenden Vermerkes in der Niederschrift - in der mündlichen Verhandlung am 28.5.2008 wiederholt, und auch nicht dargelegt, aus welchen Umständen zu schließen sei, er habe diesen Beweisantrag dennoch aufrechterhalten.
Zudem führt der Kläger auch nicht aus, welche zusätzlichen, dem LSG nicht bekannten Tatsachen zum berücksichtigungsfähigen Pflegebedarf die Zeugin E. hätte bekunden können. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass ein allgemeiner Aufsichtsbedarf zur Motivation und Kontrolle eines Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen bei der Bemessung des Pflegebedarfs iS der §§ 14 und 15 SGB XI nicht berücksichtigt werden kann. Das Bundessozialgericht (BSG) hat bereits entschieden, dass es für die Ermittlung von Pflegebedürftigkeit und die Zuordnung zu den Pflegestufen allein auf den Hilfebedarf bei den in § 14 Abs 4 SGB XI genannten Verrichtungen ankommt (BSGE 82, 27 = SozR 3-3300 § 14 Nr 2; BSGE 85, 278 = SozR 3-3300 § 43 Nr 1) , dass die Beaufsichtigung zur Vermeidung einer Selbst- oder Fremdgefährdung ebenso wenig in Ansatz gebracht werden kann (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 8) wie eine allgemeine Ruf- oder Einsatzbereitschaft einer Pflegeperson (BSG SozR 3-3300 § 15 Nr 1) und dass auch der Aufsichtsbedarf, wie er bei bestimmten Erkrankungen anfällt, nach dem Gesetz bei der Bemessung des Grundpflegebedarfs nicht berücksichtigt werden darf (zB BSG SozR 3-3300 § 43a Nr 5: Aufsichtsbedarf zur Verhinderung einer übermäßigen Nahrungsaufnahme beim Prader-Willi-Syndrom) .
b) Aus den gleichen Gründen ist auch die Rüge der unterbliebenen Vernehmung der sachverständigen Zeugin Dr. U. zum täglichen Pflegebedarf nicht formgerecht dargelegt. Der in der Berufungsbegründung vom 19.9.2006 sowie im Schriftsatz vom 16.4.2008 enthaltene Beweisantrag ist in der Sitzungsniederschrift vom 28.5.2008 nicht aufgeführt.
c) In der Sitzungsniederschrift ebenfalls nicht enthalten ist der - im Schriftsatz vom 16.4.2008 formulierte - Antrag auf Vernehmung von Dr. E. H. als sachverständige Zeugin zu einem möglichen Gendefekt des Klägers, wie er Ende 2007 auch bei seiner Mutter diagnostiziert worden sei. Der Kläger legt nicht dar, woraus das LSG hätte schließen müssen, dieser Beweisantrag sei noch aktuell und werde aufrechterhalten, nachdem in der mündlichen Verhandlung der Schriftsatz des Klägers vom 27.5.2008 verlesen worden ist, in dem er auf das beigefügte Schreiben dieser Zeugin an Frau E. vom 21.5.2008 verweist. In dieser Stellungnahme heißt es ua: "In der Familie ist bei einer Reihe von Familienmitgliedern eine mentale Retardierung aufgetreten; insbesondere liegt diese auch bei den drei Kindern vor. Eine ausführliche molekulargenetische Analyse, auch unter Berücksichtigung hochauflösender Chromosomenanalysen, konnte leider keine krankheitsverursachende genetische Veränderung nachweisen, die bei Ihnen in balancierter und bei den Kindern in unbalancierter Form vorliegen würde. Die genetische Ursache der Entwicklungsverzögerung und psychischen Probleme Ihrer Kinder bleibt daher weiterhin ungeklärt. Alle drei Kinder benötigen intensive Betreuung, da wir die Kinder selbst aber nicht gesehen haben, können wir diese Daten nur aus den Daten der uns zur Verfügung gestellten Befunde übernehmen. Die Befunde sind jedoch relativ eindeutig, so dass ich mich auf alle Fälle auch ohne persönliche Kenntnis der Kinder für die Notwendigkeit einer weiteren Betreuung aussprechen möchte."
Abgesehen davon, dass es für die Bemessung des Pflegebedarfs ohnehin nicht auf die medizinischen Diagnosen zum Grund für einen Pflegebedarf, sondern nur auf die Art und den Umfang des individuellen Hilfebedarfs bei der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung ankommt, war durch diese Stellungnahme der Zeugin der Grund für den Beweisantrag vom 16.4.2008 (und den zusätzlichen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens bis zum Vorliegen der Untersuchungsergebnisse) entfallen. Soweit die Zeugin von der krankheitsbedingten Notwendigkeit einer weiteren intensiven Betreuung des Klägers spricht, hat das LSG ausgeführt, die übersandten ärztlichen Beurteilungen bezüglich der genetischen Disposition der Familie ergäben (gleichfalls) keinen Anlass zur Änderung der Beurteilung der Pflegebedürftigkeit (Urteilsumdruck S 6). Weshalb dieser Wertung ein Verfahrensfehler zugrunde liegen könnte, wird nicht dargelegt, zumal die Zeugin nur den allgemeinen Aufsichts- und Kontrollbedarf des Klägers und seiner Geschwister bestätigt, der bei der Bemessung des Pflegebedarfs nach den §§ 14 und 15 SGB XI nicht berücksichtigt werden darf.
d) Der Kläger rügt ferner die unterbliebene Beiziehung des von der Mutter des Klägers geführten Pflegetagebuches 2002/2004 sowie der Akten der Techniker-Krankenkasse und beruft sich insoweit auf die Beiziehungsanträge im Schriftsatz vom 16.4.2008. Es kann offen bleiben, ob es sich dabei überhaupt um "Beweisanträge" iS des § 103 SGG und nicht um bloße Ermittlungsanregungen handelt. Jedenfalls hat der Kläger nicht vorgetragen, dass er die Beiziehungsanträge in der mündlichen Verhandlung am 28.5.2008 wiederholt hat.
2. Ein Verfahrensfehler in Form der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG und Art 103 Abs 1 GG) ist ebenfalls nicht formgerecht dargelegt worden. Der Kläger zeigt nicht auf, dass er eine über den allgemeinen Aufsichts- und Kontrollbedarf hinausgehende und deshalb nach den §§ 14, 15 SGB XI als Grundpflege berücksichtigungsfähige konkrete Hilfeleistung der Pflegeperson schriftsätzlich oder mündlich überhaupt vorgetragen hat und das Urteil deshalb auf einer unzutreffenden sachlichen Grundlage beruht.
3. Soweit der Kläger mit seinem Vortrag zusätzlich die Fehlerhaftigkeit der Beweiswürdigung rügen will, liegt gleichfalls keine formgerechte Darlegung eines Verfahrensmangels vor. Nach der eindeutigen Regelung des § 160 Abs 2 Nr 3, 2. Halbsatz SGG kann ein Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung des für die richterliche Überzeugungsbildung maßgeblichen § 128 Abs 1 Satz 1 SGG gestützt werden. Für die Frage der Revisionszulassung unerheblich ist damit insbesondere auch der Vorwurf des Klägers, die Vorinstanzen hätten sich nicht allein auf die beiden MDK-Gutachten stützen dürfen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen