Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache. Konkretisierung der entscheidungserheblichen Rechtsfrage. Klärungsbedürftigkeit. Anspruch auf geschlechtsangleichende Operation
Leitsatz (amtlich)
Die Konkretisierung einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage in einer Nichtzulassungsbeschwerde erfordert regelmäßig, dass die Rechtsfrage mit "Ja" oder "Nein" beantwortet werden kann, und darf weder von einer kommentar- oder lehrbuchartigen Aufbereitung noch von den Umständen des Einzelfalls abhängen und damit auf die Antwort "kann sein" hinauslaufen.
Orientierungssatz
Zur Klärungsbedürftigkeit der Frage, inwieweit transsexuelle Versicherte Anspruch auf geschlechtsangleichende Operationen haben.
Normenkette
SGG § 160a Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 3, § 160 Abs. 2 Nr. 1; SGB V § 27 Abs. 1 Sätze 1, 2 Nr. 5, § 39 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Der Antrag der Klägerin, ihr für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Landessozialgerichts Hamburg vom 8. Januar 2019 Prozesskostenhilfe zu bewilligen und einen Rechtsanwalt beizuordnen, wird abgelehnt.
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Landessozialgerichts Hamburg vom 8. Januar 2019 wird als unzulässig verworfen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I. Die bei der beklagten Krankenkasse versicherte, transsexuelle Klägerin ist mit ihrem Begehren auf Erstattung der Kosten, die sie für eine gesichtsfeminisierende Operation in Belgien aufgewendet hat, bei der Beklagten und in den Vorinstanzen hinsichtlich eines Betrags von 6028,51 Euro für die Korrektur des Augenbrauenknochens, das Stirnlifting und das Absenken des Haaransatzes ohne Erfolg geblieben; die für die Adamsapfelkorrektur aufgewendeten Kosten von 2071,49 Euro hat die Beklagte hingegen während des Verfahrens anerkannt (Bescheide vom 23.4.2013 und 16.5.2013, Widerspruchsbescheid vom 18.12.2013, SG-Urteil vom 11.4.2018 und LSG-Beschluss vom 8.1.2019). Das LSG hat zur Begründung seiner Entscheidung (unter Bezugnahme auf die Gründe des SG-Urteils) ausgeführt, die Klägerin habe keinen weiteren Anspruch auf Kostenerstattung nach § 13 Abs 4 und 5 SGB V. Denn die durchgeführten Operationen seien nicht notwendig iS des § 27 Abs 1 Satz 1 und Satz 2 Nr 5 iVm § 39 SGB V gewesen. Zwar bestehe bei einer besonders tiefgreifenden Form der Transsexualität ein Anspruch auf geschlechtsangleichende Maßnahmen, der jedoch nicht soweit gehe, dass Betroffene Anspruch auf jegliche Art von geschlechtsbezogenen operativen Maßnahmen im Sinne einer möglichst großen Annäherung an ein vermeintliches Idealbild hätten. Die Ansprüche seien vielmehr beschränkt auf einen Zustand, der aus Sicht eines verständigen Betrachters dem Erscheinungsbild des anderen Geschlechts deutlich angenähert sei (Hinweis auf das Urteil des erkennenden Senats vom 11.9.2012 - B 1 KR 9/12 R - juris RdNr 22). Ein solcher Zustand sei durch die bei der Klägerin durchgeführten geschlechtsangleichenden Operationen bereits vor der noch strittigen Korrektur des Augenbrauenknochens, dem Stirnlifting und dem Absenken des Haaransatzes erreicht gewesen. Die Leistungsvoraussetzungen knüpften regelmäßig an durch gerichtlichen Augenschein festzustellende Tatsachen an, die dem Sachverständigenbeweis nicht zugänglich seien (Beschluss vom 8.1.2019).
Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Beschluss und beantragt hierfür Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigten.
II. Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 3 SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung des geltend gemachten Revisionszulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) und der Bezeichnung eines - hier allenfalls sinngemäß geltend gemachten - Verfahrensfehlers (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).
1. Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwieweit diese Frage im angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG vom 17.4.2012 - B 13 R 347/11 B - SozR 4-2600 § 72 Nr 5 RdNr 17 mwN; zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit dieses Maßstabs BVerfG vom 14.4.2010 - 1 BvR 2856/07 - SozR 4-1500 § 160a Nr 24 RdNr 5 f mwN). Dem wird das Beschwerdevorbringen nicht gerecht.
a) Die Klägerin formuliert bereits keine hinreichend konkrete entscheidungserhebliche Rechtsfrage. Die Konkretisierung erfordert regelmäßig, dass die Rechtsfrage mit "Ja" oder "Nein" beantwortet werden kann; das schließt nicht aus, dass eine Frage gestellt wird, die je nach den formulierten Voraussetzungen mehrere Antworten zulässt. Unzulässig ist jedoch eine Fragestellung, deren Beantwortung von den Umständen des Einzelfalles abhängt und damit auf die Antwort "kann sein" hinausläuft (stRspr; vgl zB BSG vom 11.11.2019 - B 1 KR 87/18 B - juris RdNr 6 mwN; BSG vom 27.1.2020 - B 8 SO 67/19 B - juris RdNr 10). Indem die Klägerin die Frage aufwirft, „ob und welche Maßnahmen zu einer gesichtsharmonisierenden Operation bei Transsexuellen von der gesetzlichen Krankenkasse zu übernehmen sind“, stellt sie nur eine allgemein gehaltene Frage, deren Beantwortung eine kommentar- oder lehrbuchartige Aufbereitung durch den Senat verlangen würde, was gerade nicht Gegenstand eines Revisionsverfahrens sein kann (vgl hierzu auch BSG vom 1.3.2018 - B 8 SO 104/17 B - juris RdNr 8).
b) Die Klägerin legt auch die Klärungsbedürftigkeit der von ihr aufgeworfenen Frage nicht hinreichend dar. Eine Rechtsfrage ist dann nicht klärungsbedürftig, wenn sie bereits höchstrichterlich entschieden ist. Die Beschwerdebegründung hat deshalb auszuführen, inwieweit die Rechtsfrage nach dem Stand von Rechtsprechung und Lehre nicht ohne Weiteres zu beantworten ist, und den Schritt darzustellen, den das Revisionsgericht zur Klärung der Rechtsfrage im allgemeinen Interesse vornehmen soll (vgl BSG vom 22.2.2017 - B 1 KR 73/16 B - juris RdNr 8 mwN; vgl zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit dieses Maßstabs BVerfG vom 12.9.1991 - 1 BvR 765/91 - SozR 3-1500 § 160a Nr 6 - juris RdNr 4). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht.
Das BSG vertritt in ständiger Rechtsprechung, dass die Ansprüche Transsexueller auf geschlechtsangleichende Operationen auf einen Zustand beschränkt sind, bei dem aus der Sicht eines verständigen Betrachters eine deutliche Annäherung an das Erscheinungsbild des anderen Geschlechts eintritt (vgl BSG vom 11.9.2012 - B 1 KR 3/12 R - BSGE 111, 289 = SozR 4-2500 § 27 Nr 23, RdNr 22 f; BSG vom 11.9.2012 - B 1 KR 9/12 R - juris RdNr 17; BSG vom 28.9.2010 - B 1 KR 5/10 R - SozR 4-2500 § 27 Nr 20 RdNr 15). Mit dieser Rechtsprechung setzt sich die Klägerin zwar inhaltlich auseinander. Sie legt aber nicht dar, dass die bereits höchstrichterlich entschiedenen Fragen erneut klärungsbedürftig geworden seien, sondern greift nur den vom erkennenden Senat entwickelten Maßstab an. Sie behauptet insoweit, dass "das Spektrum medizinisch indizierter Krankenbehandlung des Transsexualismus (…) mittlerweile - anknüpfend an den Erkenntnisfortschritt über die Erkrankung - weit gefächert" sei und dass "zwischenzeitlich (…) die Krankheit des Transsexualismus einen weiteren Wandel auch innerhalb der Gesellschaft vollzogen" habe, ohne jedoch darzulegen, ob und ggf warum dies aus Rechtsgründen die genannte Rechtsprechung in Frage stellen könnte. Allein die Behauptung, die Rechtsprechung sei "sehr subjektiv … geprägt", genügt insoweit nicht. Mit der Argumentation des BSG, dass der allgemeine Gleichheitssatz aus Art 3 Abs 1 GG es ausschließt, transsexuellen Versicherten einen umfassenden leistungsrechtlichen Zugang zu kosmetischen Operationen zu eröffnen, der nicht transsexuellen Versicherten von vornherein versperrt ist, setzt sie sich nicht auseinander (vgl BSG vom 11.9.2012 - B 1 KR 9/12 R - juris RdNr 29). Wenn sie weiter ausführt, die "Reichweite des Anspruches Transsexueller auf Krankenbehandlung bestimmt sich (…) nach den medizinischen Kriterien" und das erforderliche Ausmaß geschlechtsangleichender Operationen bestimmten "vornehmlich objektivierte medizinische Kriterien", verwendet sie zwar die Formulierungen des erkennenden Senats (vgl BSG vom 11.9.2012 - B 1 KR 3/12 R - BSGE 111, 289 = SozR 4-2500 § 27 Nr 23, RdNr 22; BSG vom 11.9.2012 - B 1 KR 9/12 R - juris RdNr 21), leitet aus ihnen jedoch einen anderen Maßstab iS einer möglichst weitgehenden Feminisierung mit der Folge ab, dass die durchgeführten gesichtsharmonisierenden Operationen hier notwendig gewesen seien. Insoweit legt sie lediglich ihre abweichende Rechtsansicht dar. Die Behauptung, die Berufungsentscheidung und die ihr zugrundeliegende Rechtsauffassung des BSG seien inhaltlich unrichtig, kann aber nicht zur Zulassung der Revision führen (vgl BSG vom 26.1.2005 - B 12 KR 62/04 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 6 RdNr 18).
2. Es kann offenbleiben, ob die Klägerin mit ihrem Vorbringen, es gebe medizinische Erhebungen dazu, welche äußeren Merkmale eines Gesichts bei Dritten den Eindruck eines männlichen oder fraulichen Gesichts hervorriefen, überhaupt einen Verfahrensmangel geltend macht. Selbst wenn sie sinngemäß eine fehlerhafte Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) und eine Verletzung der Aufklärungspflichten (§ 103 SGG) durch das LSG rügen sollte, genügt ihr Vorbringen nicht den gesetzlichen Darlegungsanforderungen.
Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Der Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs 1 Satz 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Um einen Verfahrensmangel in diesem Sinne geltend zu machen, müssen die Umstände bezeichnet werden, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (stRspr, vgl zB BSG vom 18.2.1980 - 10 BV 109/79 - SozR 1500 § 160a Nr 36 mwN). Auf das Vorbringen fehlerhafter Beweiswürdigung kann die Klägerin sich daher nicht stützen. Auf einen konkreten Beweisantrag, dem das LSG nicht gefolgt sei, beruft sich die Klägerin nicht.
3. Aus den unter 1. und 2. dargelegten Gründen scheidet mangels Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung auch die Bewilligung von PKH unter Beiordnung eines anwaltlichen Bevollmächtigten aus (§ 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 114, 121 ZPO).
4. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
5. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
NJW 2020, 10 |
Breith. 2021, 166 |