Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Rechtssache grundsätzlicher Bedeutung. Divergenz. Tätlicher Angriff. Opferentschädigungsrecht. Vorsatz. Vernachlässigung der Kinder
Leitsatz (redaktionell)
1. Nicht jede Vernachlässigung von Kindern und jede missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, die das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet, kann als Gewalttat i.S. des § 1 Abs. 1 S. 1 OEG angesehen werden.
2. An einem vorsätzlichen Angriff i.S. des § 1 Abs. 1 S. 1 OEG fehlt es, wenn die Eltern ihre Pflichten zu ausreichender Ernährung, Pflege und Zuwendung nicht vorsätzlich verletzt haben.
Normenkette
SGG § 73 Abs. 4, 1 S. 1, § 106 Abs. 1, § 160 Abs. 2; ZPO § 114 Abs. 1 S. 1, § 121 Abs. 1; OEG § 1 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
SG Braunschweig (Entscheidung vom 02.02.2017; Aktenzeichen S 42 VE 47/15) |
LSG Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 28.03.2019; Aktenzeichen L 10 VE 17/17) |
Tenor
Der Antrag der Klägerin, ihr für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 28. März 2019 Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwalt U. aus S. beizuordnen, wird abgelehnt.
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im vorgenannten Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin begehrt in der Hauptsache wegen Vernachlässigung durch ihre leiblichen Eltern die Gewährung einer Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Das LSG hat den geltend gemachten Anspruch verneint (Urteil vom 28.3.2019). Die Klägerin sei nicht Opfer eines tätlichen Angriffs iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG geworden. Es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Eltern der Klägerin diese vorsätzlich vernachlässigt haben.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat die Klägerin Beschwerde beim BSG eingelegt und für die Durchführung des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung von Rechtsanwalt U. aus S. beantragt. Sie beruft sich auf die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache und der Divergenz.
II
1. Der Antrag der Klägerin auf PKH ist abzulehnen.
Gemäß § 73 Abs 1 S 1 SGG iVm § 114 Abs 1 S 1 ZPO kann einem Beteiligten, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, für das Verfahren vor dem BSG nur dann PKH bewilligt werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Das ist hier nicht der Fall. Aus diesem Grund kommt die Beiordnung des vorgenannten Prozessbevollmächtigten nicht in Betracht (§ 73 Abs 1 S 1 SGG iVm § 121 Abs 1 ZPO).
2. Die Beschwerde der Klägerin ist unzulässig. Ihre Begründung vom 18.4.2019 genügt nicht der gesetzlich vorgeschriebenen Form, weil die von ihr geltend gemachten Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) und der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) nicht in der hierfür erforderlichen Weise dargetan worden sind (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG).
a. Eine Rechtssache hat nur dann grundsätzliche Bedeutung iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss daher, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (zum Ganzen vgl Senatsbeschluss vom 31.1.2018 - B 9 V 63/17 B - Juris RdNr 6; Senatsbeschluss vom 30.11.2017 - B 9 V 35/17 B - Juris RdNr 4). Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung der Klägerin nicht gerecht.
Sie trägt vor: Vor dem Hintergrund der Bestrebungen des BSG zu einer eigenständigen, dh vom Strafrecht unabhängigen Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs in § 1 Abs 1 S 1 OEG sei unter Berücksichtigung der Zwecke des Opferentschädigungsrechts zu klären, "ob auch bereits der Vorsatz zu bejahen ist, wenn eine Vernachlässigung der Kinder zu Schädigungen führt".
Der Senat lässt dahinstehen, ob die Klägerin damit eine Rechtsfrage iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG bezeichnet hat. Unabhängig davon, dass es nicht Aufgabe des Senats ist, den Beschwerdevortrag auszulegen, um für die Klägerin eine eindeutige Rechtsfrage zu formulieren, hat sie weder die Klärungsbedürftigkeit noch die Klärungsfähigkeit der aufgeworfenen Fragestellung dargetan.
Die Klägerin unterzieht sich nicht der im Rahmen der Darlegung der Klärungsbedürftigkeit unerlässlichen Mühe, sich mit der Rechtsprechung des BSG zum Begriff des "tätlichen Angriffs" iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG und hier insbesondere mit dem vom LSG seinem Urteil zugrunde gelegten Beschluss des Senats vom 23.3.2015 (B 9 V 48/14 B) und der dort zitierten Senatsrechtsprechung auseinanderzusetzen und versäumt es demzufolge auf dieser Grundlage zu prüfen, ob sich aus dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung bereits ausreichende Anhaltspunkte zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragestellung ergeben. Ist dies aber der Fall, gilt eine Rechtsfrage als höchstrichterlich geklärt (vgl stRspr, zB Senatsbeschluss vom 22.3.2018 - B 9 SB 78/17 B - Juris RdNr 12 mwN). Der Senat hat in seinem vorgenannten Beschluss vom 23.3.2015 ausgeführt, dass nicht jede Vernachlässigung von Kindern und jede missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, die das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet, als Gewalttat iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG angesehen werden kann (aaO, RdNr 26). Des Weiteren hat der Senat darauf hingewiesen, dass es an einem vorsätzlichen Angriff iS von § 1 Abs 1 S 1 OEG fehlt, wenn die Eltern ihre Pflichten zu ausreichender Ernährung, Pflege und Zuwendung nicht vorsätzlich verletzt haben (aaO, RdNr 28). Die Klärungsbedürftigkeit einer Rechtsfrage zum Begriff des "vorsätzlichen Angriffs" iS des § 1 Abs 1 S 1 OEG ist aber nicht ausreichend dargelegt, wenn sich die Klägerin nicht mit der Rechtsprechung des Senats zu diesem Begriff und hier insbesondere im Kontext der Vernachlässigung von Kindern auseinandersetzt.
Des Weiteren zeigt die Klägerin nicht auf, dass die von ihr aufgeworfene Frage in einem Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sein könnte. Insbesondere legt sie nicht dar, welche nach § 1 Abs 1 S 1 OEG erforderliche(n) gesundheitliche(n) Schädigung(en) bei ihr als kausale Folge der behaupteten Vernachlässigung ihrer leiblichen Eltern (in welcher konkreten Vorgehensweise) vom LSG für den Senat bindend festgestellt worden ist (sind). Darlegungen hierzu wären schon deshalb geboten gewesen, weil nach der Formulierung in der von ihr bezeichneten Fragestellung überhaupt nur in einem solchen Fall "Vorsatz" zu bejahen sei. Die maßgebliche Sachverhaltsdarstellung in der Beschwerdebegründung muss das BSG in die Lage versetzen, sich ohne Studium der Gerichts- und Verwaltungsakten allein aufgrund des Beschwerdevortrags ein Bild über den Streitgegenstand sowie seine tatsächlichen und rechtlichen Streitpunkte zu machen (stRspr, zB Senatsbeschluss vom 30.11.2017 - B 9 V 36/17 B - Juris RdNr 10 mwN). Deshalb reicht die pauschale Verweisung der Klägerin auf die "Sachverhaltszusammenfassung" des LSG im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren nicht.
b. Divergenz iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG liegt vor, wenn die tragenden abstrakten Rechtssätze, die in zwei Entscheidungen zugrunde gelegt worden sind, nicht übereinstimmen. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts aufgestellt hat. Darüber hinaus verlangt der Zulassungsgrund der Divergenz, dass das angefochtene Urteil auf der Abweichung beruht.
Bezogen auf die Darlegungspflicht bedeutet dies: Die Beschwerdebegründung muss erkennen lassen, welcher abstrakte Rechtssatz in der in Bezug genommenen Entscheidung enthalten ist und welcher im Urteil des LSG enthaltene Rechtssatz dazu im Widerspruch steht. Ferner muss aufgezeigt werden, dass auch das Revisionsgericht die höchstrichterliche Rechtsprechung in einem künftigen Revisionsverfahren seiner Entscheidung zugrunde zu legen haben wird (stRspr, zB Senatsbeschluss vom 25.10.2018 - B 9 V 27/18 B - Juris RdNr 8 mwN). Auch diese Anforderungen erfüllt die Beschwerdebegründung nicht.
Die Klägerin trägt vor, das LSG habe den Begriff des rechtswidrigen tätlichen Angriffs "fehlerhaft ausgelegt" und sich "nicht hinreichend am Einzelfall orientiert". Es weiche insofern von der Rechtsprechung des BSG ab.
Mit diesem und ihrem weiteren Vorbringen hat die Klägerin keine Divergenz iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG bezeichnet. Sie benennt weder einen abstrakten Rechtssatz aus einer Entscheidung des BSG, noch stellt sie einem solchen höchstrichterlichen Rechtssatz einen divergierenden abstrakten Rechtssatz des LSG aus dem angefochtenen Urteil gegenüber. Sie trägt vielmehr nur vor, dass nach ihrer Auffassung das Berufungsgericht den Begriff des rechtswidrigen tätlichen Angriffs "fehlerhaft ausgelegt" habe. Ihr Vorbringen geht daher über eine im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren unbeachtliche Subsumtionsrüge nicht hinaus. Zudem setzt die Bezeichnung einer Abweichung iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG die Darlegung voraus, dass das Berufungsgericht die höchstrichterliche Rechtsprechung in dem angefochtenen Urteil infrage stellt. Dies ist aber selbst dann nicht der Fall, wenn es eine höchstrichterliche Entscheidung in ihrer Tragweite für den entschiedenen Fall lediglich verkannt haben sollte (stRspr, zB Senatsbeschluss vom 7.10.2016 - B 9 V 28/16 B - Juris RdNr 26 mwN).
c. Der Senat war nicht verpflichtet, den Prozessbevollmächtigten der Klägerin entsprechend seiner Bitte in der Beschwerdebegründung um einen rechtlichen Hinweis, falls "weitere Ausführungen als nötig erachtet" würden, vorab auf die Unzulänglichkeit des Beschwerdevortrags aufmerksam zu machen. Das Gesetz unterstellt, dass ein Rechtsanwalt in der Lage ist, die Formerfordernisse einzuhalten; gerade dies ist ein Grund für den Vertretungszwang vor dem BSG gemäß § 73 Abs 4 SGG. § 106 Abs 1 SGG gilt insoweit nicht. Ein Rechtsanwalt muss in der Lage sein, ohne Hilfe durch das Gericht eine Nichtzulassungsbeschwerde ordnungsgemäß zu begründen (stRspr, zB Senatsbeschluss vom 9.1.2019 - B 9 SB 62/18 B - Juris RdNr 8 mwN).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
d. Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 S 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
e. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI13287139 |