Entscheidungsstichwort (Thema)
Bestimmung des zuständigen Gerichts bei Klage einer Erbengemeinschaft
Leitsatz (amtlich)
Zur Bestimmung des zuständigen Sozialgerichts, wenn Miterben eine gemeinsame Klage gegen einen Sozialleistungsträger auf Leistung an die Erbengemeinschaft erheben.
Normenkette
SGG § 58 Abs. 1 Nr. 5, § 57 Abs. 1 S. 1 Hs. 2, § 74; ZPO § 62 Abs. 1; BGB § 2039
Verfahrensgang
SG Berlin (Beschluss vom 23.10.2003; Aktenzeichen S 81 KR 1672/03) |
Tatbestand
Der Kläger zu 1 ist Witwer, die Kläger zu 2 und 3 sind Töchter einer Versicherten der beklagten Krankenkasse, der verstorbenen Doris S. Die Kläger zu 1 bis 3 verfolgen als Miterben deren Ansprüche auf Kostenerstattung gegen die Beklagte weiter. Sie sind im Bezirk des Sozialgerichts (SG) Frankfurt (Oder) wohnhaft; der Kläger zu 1 ist im Bezirk des SG Berlin beschäftigt. Im Verfahren über die zum SG Berlin erhobene Klage haben sie beantragt, gemäß § 58 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Angelegenheit dem Bundessozialgericht (BSG) zur Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts vorzulegen; es sei sinnvoll, das SG Berlin als zuständig zu bestimmen. Die Beklagte meint, es bestehe kein Grund, der diesem Wunsch entgegenstünde.
Mit Beschluss vom 23. Oktober 2003 beantragt das SG Berlin gemäß § 58 Abs 1 Nr 5 SGG, das zuständige Gericht innerhalb der Sozialgerichtsbarkeit zu bestimmen. Es fehle im vorliegenden Fall an einer örtlichen Zuständigkeit iS dieser Vorschrift: Für alle klagenden Miterben bestehe zunächst nach § 57 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGG eine örtliche Zuständigkeit des SG Frankfurt (Oder); gleichzeitig bestehe gemäß § 57 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 2 SGG eine örtliche Zuständigkeit des SG Berlin nur im Hinblick auf den Kläger zu 1.
Entscheidungsgründe
Zum zuständigen Gericht wird das SG Berlin bestimmt.
Der Antrag ist zulässig. Das BSG ist als nächsthöheres gemeinschaftlich übergeordnetes Gericht zur Bestimmung des zuständigen Gerichts berufen (§ 58 Abs 2 SGG). Im Sinne des § 58 Abs 1 Nr 5 SGG ist eine gemeinsame örtliche Zuständigkeit nach § 57 SGG nicht gegeben, da für die Kläger Sozialgerichte verschiedener Bundesländer zuständig sind. Denn der Kläger zu 1 hat durch die Klageerhebung beim SG Berlin dieses - das für seinen Beschäftigungsort zuständige - Sozialgericht gewählt (§ 57 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 2 SGG); das Gericht des Wohnsitzes, das SG Frankfurt (Oder), ist damit iS des § 57 SGG nicht (mehr) zuständiges Gericht. Demgegenüber ist für die Klägerinnen zu 2 und 3 (nur) das SG Frankfurt (Oder) als Gericht des Wohnsitzes zuständig.
Hiervon geht auch der Antrag des SG Berlin aus. Er beruht jedoch auf der zusätzlichen Annahme, dass die Verfahren bei einem vom BSG zu bestimmenden Gericht zusammengeführt werden müssten. Da es keinen besonderen Gerichtsstand der - einfachen - Streitgenossenschaft gibt (BSG 1. Senat 25. September 1998, SozR 3-1500 § 58 Nr 1), setzt diese Annahme wiederum voraus, dass die Kläger des vorliegenden Verfahrens, die jeweils als Mitglied derselben Erbengemeinschaft auf Erstattung der Kosten einer selbstbeschafften Leistung an die Erbengemeinschaft (§ 13 Abs 3 SGB V, § 58 Satz 1 SGB I, §§ 2032, 2039 Bürgerliches Gesetzesbuch ≪BGB≫) klagen, notwendige Streitgenossen (§ 74 SGG, § 62 Abs 1 Zivilprozessordnung ≪ZPO≫) sind.
Ob dem zuzustimmen ist, kann offen bleiben. Es ist nicht Sinn des Verfahrens zur Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit eines Gerichts, abschließend zu klären, ob eine notwendige Streitgenossenschaft besteht (vgl BSG aaO; ferner Senatsbeschluss vom 6. September 2001 - B 7 SF 16/01). Eine notwendige Streitgenossenschaft ist jedenfalls nicht ausgeschlossen.
Anders ist die Sachlage dann zu beurteilen, wenn Miterben bei verschiedenen Gerichten getrennte Klagen erheben; in diesem Falle sind sie offensichtlich keine notwendigen Streitgenossen im Sinne von § 74 SGG, § 62 Abs 1 ZPO. Dann ist kein Raum für die Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts. Der Senat gibt die bisherige entgegenstehende Rechtsprechung des BSG in dieser Hinsicht auf; er schließt sich insoweit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) an (BVerwG 9. Oktober 1995 - 7 AV 8/95, Buchholz 112 § 2a VermG Nr 1 = BayVBl 1996, 252):
Gemäß § 2039 Satz 1 BGB ist jeder Miterbe berechtigt, einen zum Nachlass gehörenden Anspruch im eigenen Namen geltend zu machen und Leistung an alle Miterben zu verlangen. Diese Vorschrift gilt auch für öffentlich-rechtliche Ansprüche (s zB BSG 30. August 1960 - 8 RV 997/58). Da § 2039 BGB jedem Miterben ein von dem gleichen Recht der übrigen Miterben unabhängiges Sonderrecht gewährt, wirkt das im Rechtsstreit eines Miterben ergangene Urteil weder für noch gegen die übrigen Miterben. Das Gesetz nimmt demnach bei mehreren zeitlich aufeinander folgenden Klagen einzelner Miterben nach § 2039 BGB trotz der Identität des geltend gemachten Anspruchs einander widersprechende Gerichtsentscheidungen in Kauf. Eine notwendige Streitgenossenschaft aus materiell-rechtlichen Gründen (§ 62 Abs 1 Alternative 2 ZPO: "aus einem sonstigen Grund" - "echte" notwendige Streitgenossenschaft) besteht nicht. Folglich ist eine einheitliche Entscheidung des Gerichts ebenso wenig dann geboten, wenn einzelne Miterben zwar gleichzeitig, jedoch bei unterschiedlichen Gerichten auf Leistung an die Erbengemeinschaft klagen. So lag der vom BVerwG am 9. Oktober 1995 (aaO) entschiedene Fall.
Für die Aufgabe der entgegenstehenden bisherigen Rechtsprechung des BSG (zB BSG 1. Senat 25. September 1998, SozR 3-1500 § 58 Nr 1; Senatsbeschluss vom 6. September 2001 - B 7 SF 16/01) ist eine Anfrage nach § 41 Abs 3 Satz 1 SGG nicht erforderlich, da nach dem geltenden Geschäftsverteilungsplan zurzeit allein der Senat für Entscheidungen nach § 58 SGG zuständig ist (§ 41 Abs 3 Satz 2 SGG).
Im hier vorliegenden Fall einer gemeinsamen Klage mehrerer Miterben ist das Nichtbestehen einer notwendigen Streitgenossenschaft jedoch nicht offensichtlich. Bei einer derartigen Konstellation ist die Annahme einer (rein) prozessualen ("zufälligen") notwendigen Streitgenossenschaft nämlich nicht ausgeschlossen (§ 62 Abs 1 Alternative 1 ZPO: "das streitige Rechtsverhältnis ≪kann≫ allen Streitgenossen gegenüber nur einheitlich festgestellt werden"; so zB Vollkommer in Zöller, ZPO, 24. Aufl 2004, § 62 RdNr 13, 16 mwN). Mit dieser Rechtsanwendung weicht der Senat nicht von der Rechtsprechung des BVerwG ab; über einen solchen Fall hatte dieses Gericht weder am 9. Oktober 1995 noch, soweit ersichtlich, sonst zu entscheiden.
Als zuständiges Gericht war auf Anregung der Kläger das SG Berlin zu bestimmen; die Beklagte hat hiergegen keine Einwände erhoben.
Fundstellen