Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Widerspruch. teilweise Begründung. Vorverfahrenspflicht
Orientierungssatz
1. Hat der Kläger über die Erfordernisse eines Widerspruchs hinaus diesen teilweise begründet, so kann hieraus allein nicht geschlossen werden, dass er damit seinen Widerspruch hat einschränken wollen (vgl BSG vom 28.10.1965 - 8 RV 721/62 = SozR Nr 10 zu § 78 SGG).
2. Dem Prozesserfordernis des Vorverfahrens ist auch dann genügt, wenn die Verwaltung nur über einen Teil der belastenden Regelungen des angefochtenen Verwaltungsakts und damit nur unvollständig über den Widerspruch entschieden hat (vgl BSG vom 28.10.1965 - 8 RV 721/62 aaO).
Normenkette
SGG § 78 Abs. 1, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 5, § 160 Abs. 2 S. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger begehrt einen früheren Beginn seiner Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU).
Mit Bescheid vom 29.7.1998 gewährte die Beklagte dem Kläger auf seinen Antrag von Oktober 1997 Rente wegen EU ab 1.8.1997. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein; im weiteren Verlauf des Widerspruchsverfahrens machte er weitere rentenrechtliche Zeiten geltend. Der Widerspruchsbescheid vom 28.5.1999 wies den Rechtsbehelf zurück. Im Klageverfahren erkannte die Beklagte mit Bescheid vom 1.2.2000 weitere Zeiten an. Das Sozialgericht Berlin (SG) hat die Klage mit Urteil vom 27.4.2005 abgewiesen: Die Klage auf Feststellung eines Versicherungsfalles der EU schon im Jahre 1987 sei unzulässig; dasselbe gelte hinsichtlich der vom Kläger begehrten Anrechnungszeiten, soweit die Beklagte diese bereits mit Bescheid vom 1.2.2000 anerkannt habe; im Übrigen sei die Klage unbegründet. Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) hat mit Urteil vom 8.2.2006 die Berufung des Klägers im Wesentlichen mit folgender Begründung als unbegründet zurückgewiesen: Der Kläger habe keinen Anspruch auf Gewährung von Rente wegen EU bereits ab September 1987, denn ein früherer Rentenbeginn sei nicht Gegenstand des Widerspruchsverfahrens gewesen, sondern allein die Rentenhöhe; vielmehr sei der Rentenbescheid vom 29.7.1998 insoweit bestandskräftig. Der Kläger könne allenfalls eine Überprüfung dieses Bescheides gemäß § 44 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch beantragen. Deshalb könne dahingestellt bleiben, ob seine Anträge auf Rehabilitation von September 1987 und Oktober 1989 als erledigt anzusehen seien, wofür die Aktenlage spreche. Weitere Anrechnungszeiten wegen Arbeitslosigkeit seien nicht nachgewiesen. Auch weitere Anrechnungszeiten wegen Ausbildung über die von der Beklagten erfolgte Anerkennung hinaus beständen nicht; insoweit sei die Klage unzulässig geworden und die Berufung unbegründet.
Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht der Kläger Verfahrensmängel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) geltend. Er rügt, dass das LSG hinsichtlich des Klagebegehrens, Rentenleistungen bereits bezogen auf den geltend gemachten Leistungsfall 14.9.1987 zu erhalten, zu Unrecht ein Prozess- und kein Sachurteil getroffen habe. Ebenso sei das LSG einem Beweisantrag des Klägers ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt, ein ärztliches Gutachten zur Frage seiner EU ab 14.9.1987 einzuholen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Der gerügte Verfahrensverstoß liegt vor.
Der Kläger hat zu Recht gerügt, dass das LSG verfahrensfehlerhaft hinsichtlich des Rentenbeginns ein Prozess- statt eines Sachurteils getroffen hat.
Er führt zutreffend aus, dass er, anders als vom LSG angenommen, seinen Widerspruch nicht auf das Begehren der Feststellung weiterer rentenrechtlicher Zeiten beschränkt hat. Vielmehr hat er gegen den Rentenbescheid vom 29.7.1998 mit Schreiben vom 9.8.1998 Widerspruch eingelegt und angekündigt, eine Begründung nachzureichen, gleichzeitig jedoch um die Übersendung des Fragebogens zu Anrechnungszeiten gebeten. Auch wenn im weiteren Verlauf des Widerspruchsverfahrens der Kläger keine weitere Begründung vorgelegt hat, sondern lediglich den ausgefüllten Fragebogen für Anrechnungszeiten, kann hieraus nicht geschlossen werden, sein Widerspruch habe sich nur hierauf bezogen. Denn der Kläger hat seinen ohne Begrenzung auf einen bestimmten Streitpunkt eingelegten Widerspruch in keinerlei Hinsicht später ausdrücklich eingeschränkt. Ein Widerspruch ergreift im Zweifel alle Verfügungssätze des angefochtenen Verwaltungsakts. Das Gesetz verlangt weder einen substantiierten Antrag noch eine Begründung des Widerspruchs. Hat der Kläger aber über die Erfordernisse eines Widerspruchs hinaus diesen teilweise begründet, so kann hieraus allein nicht geschlossen werden, dass er damit seinen Widerspruch hat einschränken wollen (BSG vom 28.10.1965, SozR Nr 10 zu § 78 SGG) .
SG und LSG waren auch nicht dadurch an ihrer Entscheidung über den Rentenbeginn gehindert, dass der Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 28.5.1999 sich - fälschlicherweise - nur mit weiteren behaupteten Rentenzeiten der Jahre 1975 sowie 1977 bis 1982 befasst. Er hat jedenfalls nicht einen gesonderten Widerspruchsbescheid zu weiteren Regelungen des Rentenbescheids angekündigt. Dem Prozesserfordernis des Vorverfahrens (§ 78 Abs 1, ggf Abs 3 SGG) ist auch dann genügt, wenn die Verwaltung nur über einen Teil der belastenden Regelungen des angefochtenen Verwaltungsakts und damit nur unvollständig über den Widerspruch entschieden hat (BSG aaO) .
Die berufungsgerichtliche Entscheidung beruht auch auf diesem Verfahrensfehler. Denn richtigerweise hätte sich das LSG auch in der Sache mit dem Vorbringen des Klägers zu einem evtl früheren Rentenbeginn befassen müssen.
Da der Rechtsstreit bereits auf Grund der vorstehenden Erwägungen hinsichtlich des Rentenbeginns an das LSG zurückzuverweisen ist, kommt es auf den weiteren gerügten Verfahrensmangel nicht an.
Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerung hat der Senat die Sache im Beschlusswege nach § 160a Abs 5 SGG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen