Beteiligte
Landesversorgungsamt Schleswig-Holstein |
Tenor
Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 24. Februar 1997 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Kläger Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) haben.
Der 1959 geborene Ehemann der Klägerin zu 1. (M) und Vater der minderjährigen Kläger zu 2. bis 5. wurde am 5. Mai 1991 gegen 6.50 Uhr von dem 1964 geborenen K. G. (G) in dessen Wohnung erschossen. Dort hatten sich M und G seit zirka 3.00 Uhr nachts aufgehalten, nachdem M dem G aus einer Schlägerei herausgeholfen hatte. In der Wohnung tranken beide Alkohol. Die Blutalkoholkonzentration betrug zur Tatzeit bei M 2,26 Promille, bei G 1,29 Promille. G hatte am Vortag zudem zwei Tabletten Captagon eingenommen. Er war ausgebildeter Sportschütze und verfügte in seiner Wohnung über zumindest zwei funktionsfähige Pistolen und erhebliche Mengen von Munition. Eine „Beretta” nahm er vor M auseinander. Gegen 6.15 Uhr klingelte G bei seinen Nachbarn – den Eheleuten S -, die beim zweiten Versuch auch öffneten. Er bat sie, ihm behilflich zu sein, den M, der nicht gehen wolle, aus der Wohnung zu schaffen. Ihren Vorschlag, die Polizei zu holen, befolgte er jedoch nicht. Bei dieser Gelegenheit bemerkte Frau S bei G in dessen Hosenbund ein großes Messer. Später sah sie ihn vor dem Hause mit einer Pistole hantieren. Kurz danach fielen drei Schüsse. G erschien erneut bei den Nachbarn S und erklärte, daß er M erschossen habe.
Mit Strafurteil vom 27. April 1992 wurde G vom Landgericht (LG) Itzehoe freigesprochen. Zwar habe M ihn mit einem Messer angegriffen, er habe aber bei den ersten Schüssen in Notwehr gehandelt und ihm sei nicht zu widerlegen, daß der dritte Schuß versehentlich losgegangen sei. Diese Entscheidung hat der Bundesgerichtshof (BGH) mit Urteil vom 29. Juni 1994 - 3 StR 628/93 - aufgehoben und die Sache an das LG Kiel verwiesen. Das LG Kiel (Schwurgericht) hat G wegen des hier zu beurteilenden Sachverhalts inzwischen wegen Totschlags unter Einbeziehung weiterer Straftaten rechtskräftig zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt (Urteil vom 8. Juni 1998). Dieses, den Beteiligten bekannte Urteil, hat es zu den Revisionsakten übersandt.
In der Zwischenzeit hatte der Beklagte den Antrag der Kläger auf Versorgung mit Bescheid vom 11. Januar 1993 und Widerspruchsbescheid vom 18. Oktober 1993 abgelehnt, weil nicht nachgewiesen sei, daß M das Opfer eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden sei. Außerdem habe sich M einer selbst geschaffenen Gefahr ausgesetzt, aus der er sich hätte befreien können und müssen. Eine etwaige Entschädigung sei deshalb gemäß § 2 Abs 1 OEG ausgeschlossen. Das Sozialgericht (SG) Itzehoe hat die dagegen erhobenen verbundenen Klagen unter Berufung auf § 2 Abs 1 OEG durch Urteil vom 15. November 1994 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Kläger durch Urteil vom 24. Februar 1997 zurückgewiesen. Es hat offengelassen, ob hier die Voraussetzungen des § 1 OEG vorliegen, denn jedenfalls stehe den geltend gemachten Ansprüchen § 2 Abs 1 2. Alternative OEG entgegen. M habe sich vernunftwidrig in eine vermeidbare Gefahrenlage begeben. Er habe G als Waffennarren erkannt, sei sich im klaren gewesen, daß beide nicht unerhebliche Mengen enthemmenden Alkohols getrunken hätten, und außerdem habe er erlebt, daß G Auseinandersetzungen nicht unbedingt ausweiche. Eine gewalttätige Auseinandersetzung sei deshalb schon zu dem Zeitpunkt, als sich beide in G's Wohnung begeben hätten, durchaus möglich gewesen. Diese Situation habe sich zur höchsten Gefahrenlage gesteigert, als G den M erfolglos aufgefordert habe, die Wohnung zu verlassen und bei den Nachbarn um Hilfe gebeten habe. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte für M dringender Anlaß bestanden, sich aus der gefährlichen Situation zu entfernen. Das sei ihm ohne Schwierigkeiten in der Zeit möglich gewesen, während der G sich einige Minuten vor dem Hause aufgehalten habe.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügen die Kläger eine Verletzung des § 2 Abs 1 2. Alternative OEG. M habe nach dem genossenen Alkohol die Situation nicht mehr beurteilen können. Die Auffassung des LSG, M habe wahrgenommen, daß er sich in einer tödlichen Gefahrenlage befinde, der er sich hätte entziehen müssen, beruhe auf Spekulationen, nicht aber auf Tatsachenfeststellungen.
Die Kläger beantragen,
die Urteile des Landessozialgerichts Schleswig-Holstein vom 24. Februar 1997 und des Sozialgerichts Itzehoe vom 15. November 1994 sowie den Bescheid des Beklagten vom 11. Januar 1993 idF des Widerspruchsbescheides vom 18. Oktober 1993 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, den Klägern Hinterbliebenenversorgung seit Mai 1991 bzw für Tobias ab August 1991 nach dem am 5. Mai 1991 verstorbenen H. M. zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).
Gegenstand der Revision ist nach den von den Revisionsführern ausdrücklich nicht angegriffenen Feststellungen des LSG nur, ob das LSG aufgrund des von ihm festgestellten Sachverhalts zu Recht das Vorliegen des Versagungsgrundes nach § 2 Abs 1 2. Alternative (Unbilligkeit) OEG angenommen hat. Dies ist zu verneinen.
Das LSG konnte aufgrund des von ihm festgestellten Sachverhalts zwar offenlassen, ob hier die Voraussetzungen des § 1 OEG vorliegen, nicht jedoch, ob die 1. Alternative des § 2 Abs 1 OEG erfüllt ist. Denn ob das Opfer seine Schädigung mitverursacht hat, ist vor den Voraussetzungen des Versagungsgrundes nach § 2 Abs 1 2. Alternative OEG zu prüfen (vgl BSG SozR 3800 § 2 Nr 4 sowie Urteil des Senats vom 21. Oktober 1998 - B 9 VG 6/97 R - BSGE 83, 62, 65 = SozR 3-3800 § 2 Nr 9). Die Mitverursachung stellt gegenüber dem Ausschlußgrund der Unbilligkeit einen Sonderfall dar. Zum Bereich der Mitursächlichkeit gehören alle unmittelbaren, nach natürlicher Betrachtungsweise mit dem eigentlichen schädigenden Tatgeschehen, insbesondere auch zeitlich, eng verbundenen Umstände, während alle nicht unmittelbaren, lediglich erfolgsfördernden Umstände, dh typischerweise die Vorgeschichte der eigentlichen Gewalttat, im Rahmen der Unbilligkeit zu prüfen sind (vgl das genannte Senatsurteil vom 21. Oktober 1998 = BSGE 83, 62, 65 = SozR 3-3800 § 2 Nr 9 sowie das Urteil vom selben Tag - B 9 VG 2/97 R -, Breithaupt 1999, 645, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Darüber hinaus können auch sonstige Gründe zur Unbilligkeit einer Entschädigung führen. Ist eine Entschädigung aus sonstigen Gründen oder aus dem Tatgeschehen nicht unmittelbar vorangegangenen Verhalten des Opfers unbillig, sind dies Fälle der 2. Alternative der Vorschrift, also der Unbilligkeit als Generalklausel (vgl die Gesetzesbegründung BT-Drucks 7/2506 S 15 zu § 3 sowie die typischen Fallgruppen in BSGE 83, 62, 65 ff sowie BSGE 79, 87 = SozR 3-3800 § 2 Nr 5 und ebenda Nr 7). Denn was als Verursachung iS der 1. Alternative nicht zur Leistungsversagung führt, kann nicht allein, sondern nur aus sonstigen zusätzlichen Gründen zu Bejahung der Unbilligkeit führen (BSGE 66, 115, 117 = SozR 3800 § 2 Nr 7). Daß hier ein Fall der Unbilligkeit vorliegen könnte, läßt sich den Feststellungen des LSG nicht entnehmen. Vorliegend kommen nur mit dem eigentlichen Tatgeschehen unmittelbar zusammenhängende Tatumstände dafür in Betracht, daß der geltend gemachte Anspruch ausgeschlossen sein könnte.
Das LG Kiel hat in seinem inzwischen ergangenen Urteil vom 8. Juni 1998 angenommen, daß M den G mit einem Messer angegriffen und der Täter sich bei Abgabe der ersten zwei Schüsse in Notwehr befunden hat. Dagegen sei der dritte Schuß nicht mehr durch Notwehr gerechtfertigt gewesen. Die Annahmen im Strafurteil binden das LSG indessen nicht. Es wird in eigener Verantwortung zu prüfen haben, ob sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststellen läßt, daß M den G mit einem Messer angegriffen hat. Ist diese Feststellung nicht möglich, wird weiter zu prüfen sein, ob das gesamte Verhalten des M, insbesondere seine angebliche Weigerung, G's Wohnung zu verlassen, als mitursächlich für seinen Tod in Betracht kommt. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, daß eine Mitverursachung iS von § 2 Abs 1 Satz 1 OEG nur angenommen werden kann, wenn das Verhalten des Opfers eine annähernd gleichwertige Bedingung neben dem Tatbeitrag des rechtswidrig handelnden Angreifers, also hier des G, darstellt (s dazu BSGE 79, 87, 88 = SozR 3-3800 § 2 Nr 5 und BSG SozR 3-3800 § 2 Nr 7). Die Mitverursachung kann – wie die Rechtsprechung bereits entschieden hat – auch in einer vorsätzlichen oder grobfahrlässigen Selbstgefährdung des Opfers – wenn es etwa den Täter durch ein schwerwiegendes, vorwerfbares Verhalten provoziert hat (vgl BSGE 50, 95, 98 = SozR 3800 § 2 Nr 2 sowie BSGE 77, 18, 20 = SozR 3-3800 § 2 Nr 3) – zu sehen sein. Da zur Beurteilung der groben Fahrlässigkeit ähnlich wie im Strafrecht ein subjektiver Maßstab anzulegen ist, wird das LSG auch zu prüfen haben, ob M angesichts der zur Tatzeit festgestellten Alkoholkonzentration (die Feststellung des LSG dazu trifft nach dem Urteil des LG Kiel nicht zu) im Blut noch in der Lage war, die durch sein Verhalten und die weiteren Umstände gegebene Selbstgefährdung zu erkennen und – falls ja – entsprechend der Erkenntnis zu handeln. Sind auch hierzu Feststellungen mit der notwendigen Sicherheit nicht möglich, geht dies nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Beklagten, dh eine Berufung auf die Versagungsgründe des § 2 Abs 1 OEG ist ausgeschlossen.
Sollte M den G zwar nicht mit dem Messer angegriffen, aber provoziert haben, hängt der geltend gemachte Anspruch der Kläger weiter davon ab, ob der Angriff nach Art und Schwere der Provokation – objektiv – verhältnismäßig war (vgl Schoreit/Düsseldorf, Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten, 1977, § 2 OEG RdNr 7) und ob M – subjektiv – mit einer so schweren Gewalttat des G (vgl BSGE 79, 87, 90 = SozR 3-3800 § 2 Nr 5, aber auch SozR 3-3800 § 2 Nr 3) hätte rechnen müssen. Wenn das nicht der Fall sein sollte, hätte er seinen Tod nicht wesentlich mitverursacht. Zur Aufklärung des Sachverhalts ist es zulässig, den G als Zeugen zu vernehmen. Als bereits verurteilter Straftäter hat er kein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 202 SGG iVm § 384 Nr 2 Zivilprozeßordnung mehr (vgl Senatsurteil vom 21. Oktober 1998 - B 9 VG 4/97 R -, insoweit nicht veröffentlicht in SGb 1999, 27).
Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.
Fundstellen
SGb 1999, 625 |
SozSi 2000, 36 |