Entscheidungsstichwort (Thema)
Mitteilung über das Ende des Schwerbehindertenschutzes
Leitsatz (amtlich)
Wird ein Sozialleistungsgesetz ohne Übergangsvorschrift geändert, so sind die durch einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung geregelten Rechtsverhältnisse nach § 48 SGB 10 neu zu regeln.
Orientierungssatz
Die Feststellung, wann der gesetzliche Schutz als Schwerbehinderter erlischt, erfüllt nicht lediglich allgemeine Beratungspflichten, indem sie dem Betroffenen das rechtliche Ende seiner Schwerbehinderteneigenschaft mitteilt, sondern regelt konkret den jeweiligen Einzelfall mit Außenwirkung durch anfechtbaren Verwaltungsakt.
Normenkette
SchwbG 1979-10-08 § 35 Abs. 1 Fassung:; SchwbG 1986-08-26 § 38 Abs. 1 Fassung:; SGB X § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 4
Verfahrensgang
Tatbestand
Streitig ist, wie lange dem Kläger noch der Schutz als Schwerbehinderter zugute kommt, obwohl der Grad seiner Behinderung (GdB) nur noch 30 erreicht.
Über den GdB und dessen Ermäßigung von 50 auf 30 haben die Beteiligten bis zur Klagerücknahme im Mai 1986 gestritten. Sodann teilte der Beklagte dem Kläger mit Schreiben vom 4. Juli 1986 mit, für ihn erlösche mit Ablauf des Dezember 1987 der gesetzliche Schutz als Schwerbehinderter nach § 35 des Schwerbehindertengesetzes idF der Bekanntmachung vom 8. Oktober 1979 - BGBl I 1649 - (SchwbG aF). Nachdem der Arbeitgeber des Klägers den Beklagten auf die am 1. August 1986 in Kraft getretene Neuregelung des § 38 SchwbG nF idF der Bekanntmachung vom 26. August 1986 (BGBl I 1421, 1550) hingewiesen hatte, teilte der Beklagte dem Kläger mit Schreiben vom 5. März 1987 mit, entgegen der früheren Mitteilung sei die Schonfrist bereits Ende August 1986 abgelaufen. Der Widerspruch war ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 23. April 1987). Der Beklagte hat die Auffassung vertreten, daß durch die am 1. August 1986 in Kraft getretene Neuregelung der Bescheid vom 4. Juli 1986 seine Wirksamkeit verloren habe, ohne daß es eines neuen Feststellungsbescheides bedurft habe (Widerspruchsbescheid vom 23. April 1987).
Das Sozialgericht (SG) hat den Bescheid aufgehoben und sich der Auffassung des Klägers angeschlossen, daß die gesetzliche Neuregelung rechtskräftige Bescheide vor ihrem Inkrafttreten nicht erfaßt habe. Die Rechtswirkung der Vertrauensschutz begründenden Entscheidung überdauere die spätere Gesetzesänderung. Es fehle an einer Übergangsregelung, die auch Altfälle einbeziehe (Urteil vom 25. September 1987).
Dem hat sich das Landessozialgericht (LSG) in dem die Berufung des Beklagten zurückweisenden Urteil vom 16. August 1988 im wesentlichen angeschlossen. Eine Rückwirkung des Gesetzes hat das LSG für ausgeschlossen gehalten, weil die frühere längere Frist bereits praktische Folgen ausgelöst haben könnte, die nur schwer oder gar nicht rückgängig gemacht werden könnten (zB Zusatzurlaub oder Kündigung des Arbeitsverhältnisses).
Der Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und gerügt, das LSG habe zu Unrecht die rein informatorischen Schreiben über das Ende der Schonfrist als regelnde Verwaltungsakte gewertet; unmittelbar durch Gesetz sei die neue kürzere Schonfrist anwendbar geworden.
Der Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Gerichts ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist zum Teil begründet. Die Änderung des SchwbG war in den durch § 48 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) vorgezeichneten Grenzen durch Verwaltungsakt zu vollziehen. Die Schonfrist endet für den Kläger mit Ablauf des März 1987.
Zu Recht hat das Berufungsgericht den Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit nach § 4 Abs 6 Satz 1 SchwbG nF bejaht. Ausstellung, Berichtigung und Einziehung der Schwerbehindertenausweise unterliegen ebenso wie Feststellungen über die Gültigkeitsdauer des Ausweises und über das Erlöschen des gesetzlichen Schutzes der Schwerbehinderten als Voraussetzung für die Einziehung des Ausweises nach § 4 Abs 5 SchwbG nF der Kontrolle durch die Sozialgerichte.
Das Schreiben des Beklagten, durch das der Kläger auf die Rechtsfolgen nach § 35 SchwbG aF bzw § 38 SchwbG nF hingewiesen worden ist, ist ein Verwaltungsakt, der zahlreiche Rechtsverhältnisse beeinflußt und der voraussetzt, daß zuvor der Betroffene die Schwerbehinderteneigenschaft tatsächlich und unanfechtbar verloren hat. Die Feststellung, wann der gesetzliche Schutz als Schwerbehinderter erlischt, hat für die Zusatzleistungen und Nachteilsausgleiche Bedeutung (9. und 11. Abschnitt des SchwbG), wirkt sich auf Beschäftigungspflicht und Ausgleichsabgabe der Arbeitgeber aus (2. Abschnitt des SchwbG), beendet den Kündigungsschutz (4. Abschnitt des SchwbG), hat mitwirkungsrechtliche Folgen (5. Abschnitt des SchwbG) und setzt eine rechtliche Wertung voraus, wann der die Verringerung des GdB feststellende Bescheid unanfechtbar geworden ist. Ohne diese Feststellung könnte weder der Zeitpunkt für die Einziehung des Schwerbehindertenausweises festgelegt werden, noch könnten sich ohne eine solche verbindliche Regelung Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie die betroffenen Behörden (zB Sozialversicherungsträger, Finanzämter, Hauptfürsorgestelle) auf die geänderte Situation einstellen. Die Verwaltungsbehörden erfüllen somit nicht lediglich allgemeine Beratungspflichten, indem sie dem Betroffenen das rechtliche Ende seiner Schwerbehinderteneigenschaft mitteilen, sondern regeln konkret den jeweiligen Einzelfall mit Außenwirkung durch anfechtbaren Verwaltungsakt. Dieser Verwaltungsakt ändert den mit Dauerwirkung versehenen Bewilligungsbescheid. Nach altem Schwerbehindertenrecht war die Wirkung dieses Verwaltungsaktes stets auf mehr als einen Jahreszeitraum angelegt; nach neuem Recht ist lediglich seine zeitliche Geltung verkürzt.
Die Rechtsgrundlage für die ändernde Gestaltung eines Rechtsverhältnisses aufgrund geänderter Rechtslage ergibt sich aus § 48 SGB 10, der gerade für den Verwaltungsakt mit Dauerwirkung voraussetzt, daß er abänderbar ist, sofern sich die rechtlichen Verhältnisse ändern, die im Zeitpunkt seines Erlasses vorgelegen haben. Sozialleistungsgesetze und die auf ihnen beruhenden Verwaltungsakte begründen rechtliche Positionen, die in vielen Fällen auf Dauer angelegt sind, jedoch eine Umgestaltung des Rechts durch den Gesetzgeber nicht ausschließen. Nach den Grundsätzen der Güterabwägung zwischen dem Vertrauen des Bürgers in die Unveränderbarkeit eines Bescheides einerseits und dem öffentlichen Interesse an einer sachgerechten Anpassung des Rechts andererseits schränkt § 48 SGB 10 das Bürgerinteresse am Bestand zuerkannter Leistungen ein. Soweit Gesetze in sogenannter unechter Rückwirkung die Rechtslage neu gestalten, soll dieses geänderte Recht grundsätzlich auch Auswirkungen auf Altfälle haben, um den Rechtsfrieden innerhalb der Gemeinschaft, also die Gleichbehandlung bei gleichem Sachverhalt für alle Betroffenen zu gewährleisten.
Die Grenzen dieser Anpassungsbefugnis ergeben sich einerseits aus § 48 SGB 10 und den dort normierten einzelnen Voraussetzungen sowie andererseits aus abweichenden Übergangsvorschriften, sofern das Gesetz solche enthält.
Art 10 des 1. Gesetzes zur Änderung des SchwbG vom 24. Juli 1986 (BGBl I 1110) enthält keine besondere Bestimmung dazu, wann § 38 SchwbG nF in Kraft treten solle. Das Gesetz hat allerdings differenzierte Übergangsregelungen getroffen. Die Masse der Vorschriften ist mit dem 1. August 1986, also dem Beginn des auf die Verkündung folgenden Monats, in Kraft getreten. Einige Vorschriften sind hiervon ausgenommen worden und erst später zum 1. Januar 1987 wirksam geworden (Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes und die Kürzung des Zusatzurlaubs von 6 auf 5 Tage). Einige Vorschriften sind sogar mit echter Rückwirkung ausgestattet und vorgezogen zu Beginn des Jahres 1986 oder zum 1. Juli 1986 in Kraft gesetzt worden (arbeitgeberbegünstigende Vorschriften über die Ermittlung der Pflichtarbeitsplätze sowie die Bundesanstalt für Arbeit betreffende Vorschriften über den Ausgleichsfonds). Diese erst im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens durch den 11. Ausschuß eingefügte Übergangsregelung (vgl BT-Drucks 10/5701 S 15 zu Art 5) läßt es nicht zu, für den vorliegenden Sachverhalt von einer gesetzlichen Lücke auszugehen oder ihn unter einen der speziell geregelten Übergangstatbestände zu fassen. Die neue Schonfrist gilt seit 1. August 1986.
Die Anwendung neuen Rechts auch auf die Fälle, in denen die Schwerbehinderung bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes entfallen war, entspricht auch dem gesetzgeberischen Motiv für die Ermäßigung der Schonfrist von zuvor bis zu zwei Jahren auf drei Monate. Der Gesetzgeber hat sich von der Erwägung leiten lassen, daß eine solch lange, unter Umständen nahezu zwei Jahre betragende Schonfrist für nicht mehr Schwerbehinderte als zu weitgehend erschien (BT-Drucks 10/3138 S 25 zu Nr 27). Die neue Vorschrift ermöglicht eine frühere Kündigung der nicht mehr Schwerbehinderten und erleichtert damit die Besetzung des Arbeitsplatzes mit tatsächlich Schwerbehinderten. Denn der Umfang des nachwirkenden Schutzes bei nicht mehr Schwerbehinderten verminderte auch die Abgabenlast des Arbeitgebers bei gleichzeitiger Beschäftigung fast vollwertiger Arbeitskräfte. Das Gesetz hat damit die Chance der aktuell Schwerbehinderten verbessert, einen ihrem Leistungsvermögen angemessenen Arbeitsplatz zu erhalten. Die Regelung geht zu Lasten der mit umfänglichem Besitzstand ausgestatteten ehemaligen Schwerbehinderten. Wie weitreichend dieser Besitzstand war, verdeutlicht gerade auch der vorliegende Fall: Der Kläger hatte den für die Schwerbehinderung erforderlichen GdB von 50 lediglich für zwei Jahre und fünf Monate. Die Dauer des Rechtsstreits in Verbindung mit der alten Schonfrist hat bewirkt, daß ihm (nach dem ersten Bescheid vom 4. Juli 1986) noch für weitere zwei Jahre und acht Monate der Schutz als Schwerbehinderter erhalten geblieben wäre. Eine solche Begünstigung ist offenkundig unverhältnismäßig. Es bestehen daher auch rechtsstaatlich keine Bedenken dagegen, daß das Gesetz Altfälle nicht im Wege von Übergangsvorschriften ausgeklammert hat, sondern gemäß § 48 SGB 10 regelmäßig die Anpassung an die geänderte Gesetzeslage vorsieht. Der Vertrauensschutz der früher Begünstigten verwirklicht sich durch die Beschränkung der Anpassung mit Wirkung für die Zukunft.
Die Bescheide des Beklagten vom 5. März 1987 und 23. April 1987 waren zu ändern, weil sie die Aufhebung nicht auf die Wirkung in die Zukunft beschränkt haben. Bei einer Änderung kraft geänderten Gesetzesrechts kommt zwar eine rückwirkende Aufhebung nach § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 SGB 10 dann in Betracht, wenn der Betroffene wußte, daß der Anspruch kraft Gesetzes weggefallen ist, oder wenn er dies nur deshalb nicht wußte, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Solches kann dem Kläger nicht vorgeworfen werden: Grobe Fahrlässigkeit muß schon deshalb ausscheiden, weil zwei Instanzen die Überzeugung vertreten haben, daß sich die Rechtsänderung überhaupt nicht auf Altfälle erstreckt habe. Im übrigen sind Begünstigte, deren Rechtsposition sich nicht unmittelbar aus Gesetz, sondern aus einem rechtmäßig begünstigenden Verwaltungsakt ergibt, nicht - zur Vermeidung grober Fahrlässigkeit - gehalten, die weitere Rechtsentwicklung zu verfolgen. Der rechtmäßige Verwaltungsakt verschafft Klarheit und ist Grundlage eines schutzwürdigen Vertrauens; der Begünstigte wird von eigener Rechtskenntnis entbunden und entlastet. Diese regelmäßige Wirkung des Verwaltungsverfahrensrechts kann allenfalls dann in Frage gestellt sein, wenn einschneidende Gesetzesänderungen vorbereitend öffentlich bekanntgemacht werden (vgl hierzu BSG SozR 4150 Art 1 § 2 Nr 1). Über einen solchen Sachverhalt war hier nicht zu entscheiden.
Aufhebung für die Zukunft bedeutet Aufhebung für die Zeit nach Bekanntgabe des Verwaltungsaktes (BSGE 61, 189 = SozR 1300 § 48 Nr 31). Dem Kläger ist die geänderte Rechtslage Anfang März 1987 bekanntgemacht worden. Da der neugefaßte § 38 SchwbG ersichtlich nur in Monatsabläufen Wirkung entfaltet, ist der gesetzliche Schutz für den Kläger mit Ablauf des März 1987 erloschen. Das Ende der Schonfrist berechnet sich nach der Bekanntgabe des Bescheides und nicht erst des Widerspruchsbescheides, obwohl zuvor keine Anhörung nach § 24 SGB 10 stattgefunden hat. Der angefochtene Verwaltungsakt beruht auf einer Gesetzesänderung, die eine Vielzahl von Fällen in gleicher Weise erfaßt hat. Die Behörden hatten gleichartige Verwaltungsakte in größerer Zahl zu erlassen, so daß nach § 24 Abs 2 Nr 4 SGB 10 von einer Anhörung abgesehen werden durfte, zumal die persönlichen Verhältnisse der Betroffenen für den Vollzug des neuen Rechts ohne Belang waren. Für die Zeit ab 1. April 1987 war die Klage abzuweisen.
Entgegen der Auffassung des Beklagten kommt eine rückwirkende Beseitigung des Schwerbehindertenschutzes auch nicht aus dem rechtlichen Gesichtspunkt des Selbstvollzuges des Gesetzes in Betracht. Der Senat hat dies unter besonderen Umständen einmal angenommen, als das Merkmal G in seinen gesetzlichen Voraussetzungen neu geregelt worden ist und die Betroffenen schon vor dem Inkrafttreten der Neuregelung unterrichtet worden sind (vgl BSGE 58, 72 = SozR 3870 § 58 Nr 1 und Folgeentscheidungen). Eine solche Auslegung muß aber Ausnahme bleiben. Denn nicht der Selbstvollzug des Gesetzes, sondern seine Umsetzung durch Verwaltungsakt unter Anwendung des Rechts auf den jeweiligen Einzelfall prägt das Recht der sozialen Sicherheit. In Anbetracht der weitreichenden Auswirkungen des Schwerbehindertenschutzes auf Rechtsverhältnisse inner- und außerhalb des Sozialrechts, zB auf das Steuer-, Arbeits- und Betriebsverfassungsrecht kann schon aus Gründen der Rechtsklarheit der Selbstvollzug des Gesetzes nicht in Betracht gezogen werden. Insoweit war die Revision ohne Erfolg.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen