Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 08.03.1978) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 8. März 1978 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Kläger ist Konkursverwalter über das Vermögen der Firma V. H. (W.). Den Konkurs hatte das Amtsgericht Bochum am 4. August 1975 eröffnet. Am 11. August 1975 zeigte der Kläger dem Arbeitsamt die bereits am 4. August 1975 erfolgte Entlassung sämtlicher bei der Firma beschäftigten achtzehn Arbeitnehmer an und beantragte am 14. August 1975 unter Beifügung der Stellungnahme des Betriebsrates, die Sperrfrist rückwirkend bis zum Tage der Antragstellung zu kürzen. Der beim Arbeitsamt gebildete Ausschuß für Massenentlassungen entschied in seiner Sitzung am 9. September 1975, daß Anzeigepflicht gegeben sei und die Sperrfrist am 11. September 1975 ende, so daß der Antrag auf Abkürzung der Sperrfrist abgelehnt werde (Bescheid vom 9. September 1975). In dem Widerspruchsbescheid vom 7. November 1975 führte die Beklagte aus, bei der Firma V. seien im Januar 1972 noch 46 Arbeitnehmer beschäftigt gewesen. Bis zum Juni 1974 sei die Zahl der Arbeitnehmer stetig auf 30 zurückgegangen, im Dezember 1974 auf 25, im Januar 1975 auf 23 und im April 1975 auf 20. Nach § 18 Abs. 3 und § 20 Abs. 3 des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) idF vom 25. August 1969 (BGBl I 1317) habe der Ausschuß bei seiner Entscheidung über das Wirksamwerden von Entlassungen die Interessen des Arbeitgebers und der zu entlassenden Arbeitnehmer, das öffentliche Interesse, die Lage des gesamten Arbeitsmarktes unter besonderer Beachtung des Wirtschaftszweiges, dem der Betrieb angehört, sowie schließlich die Frage der rechtzeitigen Anzeige nach § 8 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) zu berücksichtigen. Bei verantwortungsbewußter Abwägung dieser Beurteilungskriterien sei der Ausschuß zu dem Ergebnis gekommen, daß eine Verkürzung der in § 18 Abs. 1 KSchG festgelegten Einmonatsfrist nicht in Betracht kommen könne.
Mit Urteil vom 17. März 1976 hat das Sozialgericht (SG) die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 8. März 1978 das Urteil des SG abgeändert und die Bescheide vom 9. September und 7. November 1975 aufgehoben. Zur Begründung hat es ausgeführt, für die Entlassung von mehr als fünf Arbeitnehmern innerhalb von vier Wochen habe Anzeigepflicht nach § 17 Abs. 1 Nr. 1 KSchG bestanden, weil in der Firma W. in der Regel mehr als 20 Arbeitnehmer beschäftigt worden seien. Dabei komme es auf die Zahl der bei normalem Geschäftsablauf vor Konkurseröffnung regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer an. Die Zahl sei zwar von Januar 1972 bis April 1975 von 46 auf 23 Arbeitnehmer gesunken, habe aber erstmals im April 1975 nur 20 betragen. Das bedeute, daß überwiegend mehr als 20 Arbeitnehmer beschäftigt worden seien, denn der Zeitraum von April bis August 1975 habe nur gut vier Monate betragen. Für dieses Ergebnis spreche auch, daß der Betriebsrat der Firma W. aus drei Personen bestanden habe. Die Kündigung durch den Konkursverwalter sei nicht als fristlose Entlassung anzusehen. Innerhalb von vier Wochen seien mindestens fünf Arbeitnehmer entlassen worden, denn der Kläger habe ua die zwölf gewerblichen Arbeiter entlassen, für die eine gesetzliche Kündigungsfrist von zwei Wochen gelte. Der beim Arbeitsamt gebildete Ausschuß habe aber bei seiner Entscheidung das ihm zustehende Ermessen nicht frei von Rechtsfehlern angewandte Nach dem rechtspolitischen Ziel des besonderen Kündigungsschutzes bei Massenentlassungen könne der Ausschuß die Zustimmung zur Abkürzung der Regel Sperrfrist nur verweigern, wenn gleichzeitig konstruktive Maßnahmen zur Vermeidung oder Verminderung der durch die Massenentlassung drohenden Arbeitslosigkeit möglich seien und unternommen würden. Die Begründung der angefochtenen Bescheide lasse aber nicht erkennen, wie die vom Ausschuß befürchtete Arbeitslosigkeit durch Versagung der Zustimmung zur Abkürzung der Regelsperrfrist irgendwie beeinflußt werden könne.
Mit der Revision weist die Beklagte auf die Entscheidung des Senats vom 21. März 1978 – 7/12 RAr 6/77 – hin, nach der der Ausschuß die Zustimmung nicht nur dann verweigern dürfe, wenn gleichzeitig konstruktive Maßnahmen zur Vermeidung oder Verminderung der Arbeitslosigkeit möglich sind und unternommen werden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 8. März 1978 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Dortmund vom 17. März 1976 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er ist der Auffassung, der angefochtene Bescheid lasse nicht erkennen, welche Erwägungen der zuständige Ausschuß des Arbeitsamtes angestellt habe, um zu seinem Ergebnis zu kommen.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes –SGG–) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Im Ergebnis zutreffend hat das LSG das klagabweisende Urteil des SG abgeändert und die angefochtenen Bescheide aufgehoben.
Die Klage ist zulässig. Der Kläger hat beim Arbeitsamt beantragt, die Sperrfrist rückwirkend bis zum Tage der Antragstellung zu verkürzen. So ist der Antrag auch im Widerspruchsbescheid dargestellt worden, und auf diesen hat der Kläger in der Klageschrift ausdrücklich Bezug genommen. Nach dem gesamten Vorbringen des Klägers ist – trotz des insoweit mißverständlichen Antrages vor dem SG – davon auszugehen, daß der Kläger neben der Aufhebung des angefochtenen Bescheides eine gerichtliche Entscheidung darüber begehrt, daß eine Sperrfrist für die von ihm vorgenommenen Kündigungen nicht besteht.
Der Bescheid vom 9. September 1975 ist schon deshalb nicht rechtmäßig, weil im vorliegenden Falle eine Anzeigepflicht nicht bestand, wie die Beklagte im Bescheid irrtümlich annimmt.
Gem § 17 KSchG ist der Arbeitgeber verpflichtet, dem Arbeitsamt unter Beifügung der Stellungnahme des Betriebsrates schriftlich Anzeige zu erstatten, bevor er in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 50 Arbeitnehmern mehr als fünf Arbeitnehmer innerhalb von vier Wochen entläßt. Entlassungen in Betrieben mit bis zu 20 Arbeitnehmern sind nicht anzeigepflichtig. Nach Ansicht des LSG sind in der Firma V. in der Regel mehr als 20 Arbeitnehmer beschäftigt worden. Der Senat kann dieser Auffassung nicht folgen.
Nach § 17 KSchG kommt es auf die Zahl der „in der Regel” beschäftigten Arbeitnehmer an. Die gleiche Formulierung findet sich in § 1 des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) vom 15. Januar 1972 (BGBl I 13). Danach werden in Betrieben mit in der Regel mindestens fünf ständigen wahlberechtigten Arbeitnehmern, von denen drei wählbar sind, Betriebsräte gewählt. Nach § 9 BetrVG richtet sich die Zahl der Betriebsratsmitglieder nach der Zahl der „in der Regel” beschäftigten Arbeitnehmer des Betriebes. In Übereinstimmung mit der Auslegung dieser Vorschriften ist für die Anzeigepflicht nach § 17 KSchG nicht einfach von der Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Anzeige auszugehen. Die Anzeigepflicht richtet sich insbesondere nicht nach einem nur vorübergehend geltenden Stand der Beschäftigtenzahl in der Zeit einer vorübergehenden Einschränkung der Betriebstätigkeit etwa wegen Materialmangels oder in der Zeit der Nachsaison. Maßgebend ist vielmehr die Zahl der „im normalen Betrieb” und bei der im allgemeinen für den Betrieb kennzeichnenden Beschäftigungslage besetzten Arbeitsplätze (Dietz-Richardi, Kommentar zum BetrVG, 5. Aufl § 1 RdNr. 116, Galperin-Löwisch, Kommentar zum BetrVG 5. Aufl § 1 RdNr. 31; Hueck, Kommentar zum KSchG 9. Aufl § 17 RdNr. 9).
Von diesen Grundsätzen geht zwar das LSG aus, es schließt daraus aber zu Unrecht, die streitigen Entlassungen seien anzeigepflichtig gewesen, weil die Firma W. in den letzten Jahren und bis zum April 1975 mehr als 20 Arbeitnehmer beschäftigt habe. Die Anzeigepflicht bestimmt sich nicht nach der durchschnittlichen Zahl der Beschäftigten in irgendeinem Zeitraum der Vergangenheit. Der Begriff „in der Regel” läßt sich nicht im Sinne eines Durchschnitts auslegen (Dietz-Richardi aaO). Zur Ermittlung der Zahl der regelmäßig Beschäftigten bedarf es vielmehr neben dem Rückblick auf die Vergangenheit auch einer Einschätzung der künftigen Entwicklung des Betriebes (BAG AP 1 zu § 8 BetrVG 1972; Fitting-Auffahrt-Kaiser, Kommentar zum BetrVG 12. Aufl § 1 RdNr. 55). Nur auf diese Weise läßt sich ermitteln, was aus der Sicht im Zeitpunkt der Entlassungen der Regelzustand ist.
Die Zahl der Arbeitnehmer der Firma W. ist in den Jahren 1972 bis 1975 kontinuierlich von 46 auf 18 gesunken. Aus dem Rückblick auf die Vergangenheit kann deshalb für den Zeitpunkt der Entlassungen am 4. August 1975 nur geschlossen werden, daß in der Regel nicht mehr als 20 Arbeitnehmer beschäftigt wurden. Die über mehrere Jahre laufende Entwicklung hat gezeigt, daß die Firma kontinuierlich Arbeitsplätze abgebaut hat. Die Entwicklung spricht geradezu für eine sinkende Beschäftigtenzahl als Regelzustand. Keinesfalls ist danach geboten, im Zeitpunkt der Entlassungen den Regelzustand aus Beschäftigtenzahlen in einer früheren Zeit zu bestimmen. Es ist nicht bekannt, ob sich die Firma V. zu irgendeinem Zeitpunkt berechtigte Hoffnungen auf eine günstigere Entwicklung machen durfte. Selbst wenn diese bestanden haben sollte, so hat sie jedenfalls im Zeitpunkt der Entlassungen, als der Konkurs eröffnet war, nicht mehr bestanden. In diesem Zeitpunkt – und nach den Feststellungen des LSG etwa vier Monate zuvor – war für die Zukunft kein neuer Anstieg der Beschäftigtenzahl zu erwarten. Aus der Gesamtschau der Entwicklung der Firma V. muß daher – entgegen der Auffassung der Beklagten und des LSG – in rechtlicher Hinsicht davon ausgegangen werden, daß diese „in der Regel” nicht mehr als 20 Beschäftigte gehabt hat mit der Folge, daß der Kläger die von ihm vorgenommenen Entlassungen nicht anzuzeigen brauchte. Der Hinweis des LSG zur Stütze seiner anderweitigen Auffassung auf die Zahl von drei Mitgliedern des Betriebsrates ist dabei nicht geeignet, die rechtliche Bewertung des Begriffs „in der Regel” iSd § 17 KSchG zu beeinflussen. Mangels Anzeigepflicht konnte die Beklagte somit die Zustimmung weder erteilen noch versagen. Ob in derartigen Fällen, insbesondere, wenn die Frage der Anzeigepflicht zweifelhaft ist, die Beklagte einen Negativbescheid hätte erteilen müssen, nämlich einen Bescheid, daß keine Anzeigepflicht besteht, kann dahinstehen. Eine entsprechende Verpflichtung hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) im Falle von Währungsklauseln iSd § 3 des Währungsgesetzes vom 20. Juni 1948 (BGBl III 7600 – 1 – a) angenommen. Nach näherer Bestimmung dieser Vorschrift bedürfen Währungsklauseln der Genehmigung der Deutschen Bundesbank. Das BVerwG hat entschieden, die Bundesbank müsse in Zweifelsfällen auf Antrag auch bestätigen, daß eine solche Klausel keiner Genehmigung bedarf; der Antrag auf Genehmigung einer Klausel, die keiner Genehmigung bedarf, sei nicht durch Versagung der Genehmigung, sondern mit einer entsprechenden Feststellung zu bescheiden (BVerwGE 41, 13, 22). Die Funktion der Bundesbank bei der Genehmigung von Währungsklauseln ist ähnlich derjenigen der Bundesanstalt für Arbeit (BA) bei der Zustimmung zu Massenentlassungen. Durch die nach § 17 KSchG vorgeschriebene Anzeige soll es der BA ermöglicht werden, auf der Grundlage des AFG rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zu treffen (BSG SozR 7820 § 18 Nr. 1). Ein Bescheid der Beklagten, daß bestimmte Entlassungen nicht anzeigepflichtig sind, ist im arbeitsgerichtlichen Prozeß des einzelnen Arbeitnehmers gegen die Wirksamkeit der Kündigung von Bedeutung.
Einer abschließenden Entscheidung zur Frage eines Negativbescheides, zu deren Bejahung der Senat neigt, bedurfte es im vorliegenden Falle nicht, weil der Kläger einen entsprechenden Antrag nicht gestellt hat.
Da der angefochtene Bescheid von der Anzeigepflicht ausgeht, eine solche aber nicht besteht, ist er rechtswidrig und somit im Ergebnis zutreffend vom LSG aufgehoben worden. Aus diesem Grunde bedurfte es keines Eingehens mehr auf die von der Revision unter Hinweis auf die Entscheidung des Senats vom 21. März 1978 (SozR 7820 § 18 Nr. 1) gemachten Ausführungen.
Die Revision der Beklagten ist deshalb mit der Kostenfolge aus § 193 SGG zurückzuweisen.
Fundstellen
ZIP 1980, 122 |
Breith. 1980, 518 |