Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 29. Januar 1970 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob die Zeit des „automatischen Arrests” des Klägers von Januar 1946 bis April 1948 für die Erfüllung der Wartezeit als Ersatzzeit anzurechnen ist (§ 1251 Abs. 1 Nr. 1 und 2 der Reichsversicherungsordnung –RVO–).
Der Kläger, seit 19…9 Mitglied der NSDAP, war Ortsgruppenleiter. Im Januar 1945 wurde er zur Waffen-SS eingezogen. Am 2. Mai 1945 geriet er in britische Kriegsgefangenschaft. Am 2. Januar 1946 wurde er in Fallingbostel mit Entlassungsschein entlassen. Wegen seiner früheren Funktion in der NSDAP wurde er von der britischen Besatzungsmacht weiter in Haft gehalten. Im Sommer 1947 wurde er der amerikanischen Besatzungsmacht übergeben. Diese wies ihn in das Lager Moosburg ein. Dort wurde er am 29. April 1948 mit „Überweisungsschein für Zivilinternierte zur Heimatspruchkammer” entlassen.
Der Kläger beantragte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 27. September 1967). Sie sah die Wartezeit mit 36 Monaten Beitragszeit und 14 Monaten Ersatzzeit (Wehrdienst im Oktober und November 1935, Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft vom 11. Januar 1945 bis 2. Januar 1946) nicht als erfüllt an; die Zeit des sogenannten automatischen Arrests könne nicht als Fortsetzung der Kriegsgefangenschaft oder als Ersatzzeit einer Internierung im Sinne des § 1251 Abs. 1 Nr. 2 RVO angesehen werden.
Das Sozialgericht (SG) Regensburg hat die Beklagte zur Rentengewährung unter Anrechnung der Zeit vom 3. Januar 1946 bis 30. April 1948 als Ersatzzeit nach § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO verurteilt (Urteil vom 20. Juni 1968). Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen; es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 29. Januar 1970). Es hat eine Kriegsgefangenschaft für die strittige Zeit verneint. Die britische Besatzungsmacht habe durch die Aushändigung des Entlassungsscheines am 2. Januar 1946 unmißverständlich ihren Willen bekundet, den Kläger aus der Kriegsgefangenschaft zu entlassen. Die Entlassung sei auch zeitgemäß im Rahmen der damals durchgeführten allgemeinen Entlassungen von Angehörigen der Waffen-SS erfolgt. Der Kläger sei nicht wegen seiner Zugehörigkeit zur Waffen-SS, einem Teil der Deutschen Wehrmacht, länger in Gefangenschaft gehalten worden; denn er sei nicht nach seinem SS-Dienstgrad, sondern wegen seines Parteiranges als Ortsgruppenleiter unter den automatischen Arrest gefallen. Die Festhaltung aus politischen Gründen sei keine Internierung im Sinne des § 1 des Heimkehrergesetzes (HKG) und daher auch keine Ersatzzeit nach § 1251 Abs. 1 Nr. 2 RVO, weil der Kläger nicht außerhalb des Bundesgebiets und des Landes Berlin festgehalten worden sei (§ 1 Abs. 1 HKG). Die Zeit seit 3. Januar 1946 sei nicht etwa deshalb als Fortsetzung der Kriegsgefangenschaft (Ersatzzeit nach § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO) anzusehen, weil der Kläger unmittelbar vom Status des Kriegsgefangenen in den Status eines politischen Gefangenen überführt worden sei. Es sei rechtlich ohne Belang, ob die Zivilinternierung in der Bundesrepublik durch eine Verhaftung am Wohnsitz oder auf dem Weg aus der Kriegsgefangenschaft dorthin oder unmittelbar im Anschluß an die Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft begonnen habe. Auch die Tatsache, daß der Kläger eine Kriegsgefangenenentschädigung erhalten habe, sei für die Entscheidung über das Vorliegen einer Ersatzzeit ohne rechtliche Bedeutung.
Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Er hält die Zeit des automatischen Arrests zwar nicht für eine Zeit der Internierung, da sie nicht im Ausland erfolgt sei (§ 1251 Abs. 1 Nr. 2 RVO); jedoch sei sie eine verlängerte Kriegsgefangenschaft; denn für die völkerrechtliche Beurteilung der Rechtsstellung eines Kriegsgefangenen komme es nur auf den Grund der Gefangennahme, nicht auf den Grund des Gefangenhaltens an.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
II
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.
Wie der Kläger richtig erkannt hat, kann die Zeit des automatischen Arrests nicht als Zeit der Internierung nach § 1251 Abs. 1 Nr. 2 RVO angerechnet werden; denn danach ist eine Internierungszeit nur dann eine anrechenbare Ersatzzeit, wenn der Versicherte Heimkehrer im Sinn des § 1 HKG ist. Aus dieser Voraussetzung folgt, daß zwischen der Internierung und der Heimkehrereigenschaft ein Zusammenhang bestehen muß, d. h. der Versicherte muß außerhalb des Bundesgebietes und des Landes Berlin interniert gewesen sein. Der Kläger wurde hingegen innerhalb der Bundesrepublik in Lagern festgehalten.
Der Kläger hat in der Zeit seit der Entlassung mit Entlassungsschein vom 2. Januar 1946 auch keine Ersatzzeit wegen „Kriegsgefangenschaft” zurückgelegt. Der Begriff der Kriegsgefangenschaft ist in § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO nicht näher beschrieben. Deshalb ist er im Sinne des Völkerrechts zu verstehen. Er ist in dem Genfer Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen vom 27. Juli 1929 (RGBl II 1934, 227), ersetzt durch das Abkommen vom 12. August 1949 (BGBl II 1954, 838), bestimmt (vgl. auch BSG 13, 16, 17; SozR Nr. 25 au § 1251 RVO). Daß der Kläger Kriegsgefangener war, weil er wegen militärischen Dienstes (Waffen-SS) festgenommen wurde, ist unzweifelhaft. Nach den Bestimmungen der Abkommen endet die Kriegsgefangenschaft durch Freilassung und Heimschaffung (IV. Teil, 2. Abschn., Art. 75 Abs. 1 und 2 des Abkommens von 1929 und Teil IV, Abschn. II, Art. 118 Abs. 1 des Abkommens von 1949). Eine besondere Heimschaffung entfällt, wenn die Freilassung im Heimatland erfolgt. Zur „Beendigung” der Kriegsgefangenschaft wird in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte davon ausgegangen, daß die Kriegsgefangenschaft grundsätzlich nicht endet, wenn sich der Grund des Gefangenhaltens ändert; für die Beurteilung als Kriegsgefangener komme es nur auf den Grund der Gefangennahme, nicht auf den Grund des Gefangenhaltens an (z. B. BVerwG in NJW 1957, 1451 und BABl 1958, 420). Dieser Auffassung ist zuzustimmen, wenn noch eine innere Beziehung zwischen der Festnahme als Kriegsgefangener und dem späteren Grund des Gefangenhaltens besteht (vgl. BSG 21, 41). Es ist dabei aber nicht außer acht zu lassen, daß nach den Genfer Abkommen die Heimschaffung der Kriegsgefangenen „binnen kürzester Frist nach Friedensschluß zu erfolgen hat” bzw. daß die Kriegsgefangenen „nach Beendigung der aktiven Feindseligkeiten ohne Verzug freigelassen und heimgeschafft” werden (Art. 75 Abs. 1 Satz 3 des Abkommens von 1929, Art. 118 Abs. 1 des Abkommens von 1949). Die Abkommen enthalten nichts über die Überführung eines nach Beendigung der aktiven Feindseligkeiten formell mit Entlassungsschein aus der Kriegsgefangenschaft Entlassenen – wie der Kläger am 2. Januar 1946 – in ein Zivilinternierungslager aus Gründen, die in der früheren, politisch betrachteten Tätigkeit des Festgehaltenen in seinem Heimatstaat liegen. Nach den Abkommen konnten lediglich Kriegsgefangene, die ein „Verbrechen oder Vergehen des gemeinen Rechts” begangen hatten, über den „Friedensschluß” hinaus zur Strafverfolgung und Strafverbüßung zurückgehalten werden (Art. 75 Abs. 2 des Abkommens von 1929, ähnlich Art. 99 und 119 Abs. 5 des Abkommens von 1949). Die Eigenschaft als Amtsträger der NSDAP – Ortsgruppenleiter – fällt nicht darunter. Die Festhaltung durch die seit der Einstellung der Feindseligkeiten und der Kapitulation zur „Besatzungsmacht” gewordene feindliche Macht stützt sich von der förmlichen Entlassung des Kriegsgefangenen ab nur noch auf die Entnazifizierungsvorschriften, aber nicht mehr auf die völkerrechtlichen Vorschriften über die Behandlung von Kriegsgefangenen. Dies kommt in der Tatsache, daß der Kläger den Entlassungsschein vom 2. Januar 1946 erhielt, zum Ausdruck. Der Zweck des Festhaltens von „Kriegsgefangenen” zu verhindern, daß Angehörige des Feindstaates weiterhin an Kampfmaßnahmen teilnehmen (vgl. Art. 74 des Abkommens von 1929, Art. 117 des Abkommens von 1949), fällt mit der Kapitulation des Feindstaates weg. Ein Ortsgruppenleiter wäre auch als Zivilperson auf Weisung der nunmehrigen „Besatzungsmacht” in den automatischen Arrest in einem Internierungslager genommen und festgehalten worden (zum automatischen Arrest eines Ortsgruppenleiters bei § 5 BVG vgl. BSG 16, 261; ferner BVerwG 6, 232; 9, 102). Zwischen der Gefangennahme des Klägers als Angehöriger der Waffen-SS und seiner Festhaltung als politisch Belasteter – Ortsgruppenleiter – besteht keine innere Beziehung. Diesem Umstand mißt der Senat entscheidende Bedeutung bei. Deshalb kann auch nichts anderes gelten, wenn es zutrifft, daß der Kläger – wie er vorträgt – in der Zeit bis Mitte 1947 unter denselben äußeren Bedingungen festgehalten wurde wie zuvor als Kriegsgefangener.
Der „Verbleib” eines entlassenen „Kriegsgefangenen” in einem Lager aus politischen Gründen kann für die Frage der Anrechnung einer Ersatzzeit nicht anders behandelt werden, als wenn der ehemalige Kriegsgefangene nach der Entlassung, z. B. auf dem Weg vom Kriegsgefangenenlager zu seiner Wohnung, von der Besatzungsmacht festgenommen und in ein Internierungslager überführt wird. Es ist ein rein äußerlicher Unterschied, ob der Entlassene anschliessend im Lager festgehalten wird oder nach einiger Zeit von der Besatzungsmacht wieder festgenommen wird. In beiden Fällen ist der Grund des Festhaltens oder Festnehmens allein die frühere politische Tätigkeit, und es besteht kein innerer Zusammenhang mit der gegen die frühere Feindmacht ausgeübten militärischen Tätigkeit, die Anlaß für die Festnahme und Entlassung als Kriegsgefangener war.
Von einem bloß äußerlich unterschiedlichen Handeln der Besatzungsmacht ohne sachliche innere Unterscheidungsmerkmale kann die Frage der Anrechnung oder Nichtanrechnung der Zeit des automatischen Arrests als Ersatzzeit der „Kriegsgefangenschaft” bei vernünftiger Rechtsanwendung nicht abhängen.
Der automatische Arrest durch Internierung im Bundesgebiet als solcher erfüllt nicht die Merkmale eines der Ersatzzeittatbestände des § 1251 Abs. 1 RVO. Eine vom Gesetzgeber nicht gewollte Lücke im Gesetz kann nicht angenommen werden; denn die Tatsache, daß Personen im Zuge der „Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus” in Internierungslagern innerhalb des Gebietes der späteren Bundesrepublik festgehalten wurden, war dem Gesetzgeber bei der großen Anzahl dieser Internierten bekannt. Es muß daher davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber die Zeit einer solchen Internierung versicherungsrechtlich nicht berücksichtigen wollte. Die Anrechnung dieser Zeit bei einem Personenkreis, der – zufälligerweise – unmittelbar nach Entlassung der Kriegsgefangenschaft festgehalten wurde, als „verlängerte” Kriegsgefangenschaft würde dem vom Gesetz Gewollten widersprechen und zu einer durch sachliche Unterscheidungsmerkmale nicht zu rechtfertigenden ungleichen Behandlung gleicher Tatbestände – Belastung im Sinn des Gesetzes zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 3. Januar 1946 – führen.
Die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zu § 2 Abs. 1 Satz 3 des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes idF vom 28. Dezember 1956 (KgfEG, BGBl I 904; unverändert in den Fassungen vom 1. September 1964 – BGBl I 696 und vom 29. September 1969 – BGBl I 1800) steht nicht entgegen. In § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO ist zum Begriff der Kriegsgefangenschaft nicht auf andere bundesrechtliche Gesetzesvorschriften Bezug genommen, wie in Nr. 2 des § 1251 Abs. 1 RVO auf das HKG. § 2 Abs. 1 Satz 3 KgfEG ist daher für die Auslegung des § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO nicht verbindlich. Die Anrechnung einer Ersatzzeit für den automatischen Arrest ist somit nicht möglich.
Die Revision ist somit zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Unterschriften
Dr. Haug, Burger, Geyser
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 07.07.1970 durch Giesler Justizobersekretär als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle
Fundstellen