Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewaltopferentschädigung. Schockschaden. Sekundäropfer. Leistungsausschluß. Unbilligkeit. Mitverursachung des Primäropfers
Leitsatz (amtlich)
Es ist nicht unbillig, denjenigen zu entschädigen, der durch den Angriff auf einen anderen (Primäropfer) einen Schock erleidet und dadurch selbst psychisch geschädigt wird (Sekundäropfer), auch wenn das Primäropfer den Angriff mitverursacht hat.
Normenkette
OEG § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1 S. 1; BGB §§ 242, 254
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin Anspruch auf Versorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz ≪OEG≫) hat.
Der Ehemann der Klägerin wurde am 1. Juli 1995 erstochen. Er war mit einem palästinensischen Landsmann in Streit geraten. Im Verlauf dieser zunächst verbal und dann auch körperlich geführten Auseinandersetzung zog der Täter ein Klappmesser aus der Tasche, öffnete die Klinge und richtete sie auf seinen Gegner. Dieser ging dennoch auf den Täter los, der ihm dann mehrere Messerstiche versetzte, von denen einer das Herz traf. Daran starb das Opfer in Anwesenheit der inzwischen erschienenen Klägerin. Der Täter wurde wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt.
Der Beklagte lehnte es ab, der Klägerin Versorgung zu gewähren, und zwar sowohl Hinterbliebenenversorgung als auch Versorgung als - durch Schock - selbst Geschädigte (insoweit: Bescheid vom 28. November 1997; Widerspruchsbescheid vom 27. März 1998). Klage und Berufung haben keinen Erfolg gehabt (Urteile des Sozialgerichts Reutlingen vom 31. März 2000 und des Landessozialgerichts Baden-Württemberg ≪LSG≫ vom 22. März 2001). Das LSG hat ausgeführt: Ebenso wie der Anspruch auf Witwenrente scheitere der Anspruch der Klägerin auf Versorgung wegen des behaupteten Schockschadens daran, daß dem Opfer selbst eine Entschädigung nach dem OEG wegen grober Unbilligkeit zu versagen gewesen wäre, weil es leichtfertig die von dem Messer ausgehende Gefahr verkannt und die Auseinandersetzung fortgesetzt habe. Diesen Versagungsgrund müsse die Klägerin sich billigerweise zurechnen lassen.
Mit der - insoweit vom LSG zugelassenen - Revision verfolgt die Klägerin nur ihre Ansprüche wegen Schockschadens weiter.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22. März 2001 sowie das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 31. März 2000 und den Bescheid des Beklagten vom 28. November 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. März 1998 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, Beschädigtenversorgung nach dem OEG zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist iS der Aufhebung und Zurückverweisung (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) begründet. Entgegen der Rechtsauffassung des LSG wird der aus § 1 Abs 1 OEG folgende Anspruch eines durch Schock geschädigten (Sekundär-)Opfers nicht dadurch ausgeschlossen, daß das durch die Tätlichkeit verletzte Primäropfer den Angriff durch eigenes Verhalten mit herbeigeführt hat. Der Senat kann jedoch nicht abschließend entscheiden, ob die Klägerin Anspruch auf Entschädigung hat, weil das LSG nicht alle dafür notwendigen Tatsachen festgestellt hat.
Nach § 1 Abs 1 OEG erhält Versorgung, wer im Geltungsbereich des Gesetzes in Folge eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Das LSG hat festgestellt, daß der Täter den Ehemann der Klägerin vorsätzlich rechtswidrig tätlich angegriffen und getötet hat. Dieser gegen einen anderen gerichtete tätliche Angriff kann bei der Klägerin als Dritter einen Schockschaden verursacht haben, dessen Folgen nach § 1 Abs 1 OEG zu entschädigen wären (BSGE 49, 98, 100 = SozR 3800 § 1 Nr 1; Urteil des Senats vom 8. August 2001 - B 9 VG 1/00 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen). Ob die Klägerin danach Anspruch auf Versorgung hat, kann der Senat schon deswegen nicht entscheiden, weil das LSG keinerlei Feststellungen dazu getroffen hat, ob und in welcher Ausprägung bei der Klägerin überhaupt ein Schockschaden iS einer erheblichen Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit vorliegt. Die Entscheidung des LSG stellt sich nicht deswegen im Ergebnis als richtig dar (§ 170 Abs 1 Satz 2 SGG), weil ein Anspruch der Klägerin jedenfalls nach § 2 Abs 1 Satz 1 OEG ausgeschlossen wäre. Ein Versagungsgrund liegt nämlich nicht vor.
Nach § 2 Abs 1 OEG sind Leistungen zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchsstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. Die 1. Alternative der Vorschrift (Mitverursachung) stellt einen Sonderfall der in der 2. Alternative geregelten Unbilligkeit dar, sie regelt abschließend die Fälle unmittelbarer Tatbeteiligung des Geschädigten (BSGE 66, 115, 117 = SozR 3800 § 2 Nr 7; BSGE 77, 18, 20 = SozR 3-3800 § 2 Nr 3; BSGE 84, 54, 60 = SozR 3-3800 § 1 Nr 15). Geschädigt ist hier die Klägerin selbst. Sie macht eine Schädigung geltend, die ihre Ursache im Miterleben des Todes ihres Ehemannes hat. Es handelt sich um eine eigenständige, unmittelbar in der Person der Schockgeschädigten entstandene Schädigung (BSGE 49, 98, 103 = SozR 3800 § 1 Nr 1). Diese Sichtweise stimmt mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum zivilrechtlichen Schadenersatzanspruch nach § 823 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) wegen Schockschäden überein (vgl RGZ 133, 270, 272; BGHZ 56, 163, 169). Wegen Mitverursachung wären der Klägerin Leistungen danach nur zu versagen, wenn sie zu dem Tatgeschehen (Angriff auf ihren getöteten Ehemann) beigetragen hätte.
Mitverursacht ist ein Angriff nach der auch im Opferentschädigungsrecht anzuwendenden Lehre von der wesentlichen Bedingung, wenn der Geschädigte einen Beitrag zur Tat geleistet hat, der nach Umfang und Bedeutung dem des rechtswidrig handelnden Angreifers ungefähr vergleichbar ist (BSGE 49, 104, 105 = SozR 3800 § 2 Nr 1; BSGE 66, 115, 118 = SozR 3-3800 § 2 Nr 7; BSGE 78, 270, 272 = SozR 3-3800 § 2 Nr 4; BSGE 83, 62, 65 = SozR 3-3800 § 2 Nr 9). Den Feststellungen des LSG, an die das Revisionsgericht nach § 163 SGG gebunden ist, kann nicht entnommen werden, daß die Klägerin in irgendeiner Art und Weise aktiv in das dem tödlichen Messerstich unmittelbar vorangegangene Geschehen verwickelt war. Ein Unterlassen wäre nach § 13 Strafgesetzbuch nur dann erheblich, wenn sie Möglichkeit zum Handeln gehabt hätte (vgl Stree in Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 25. Aufl 1997, vor §§ 13 ff, RdNr 141 ff und BGH NStZ 2000, 206). Es gibt keinen Anhaltspunkt, daß die Klägerin es in der Hand gehabt hätte, das Leben ihres Ehemannes durch Eingreifen in die Auseinandersetzung zu retten. Eine Mitverursachung durch die Klägerin iS des § 2 Abs 1 Satz 1 1. Alternative OEG scheidet damit aus.
Nach § 2 Abs 1 Satz 1 2. Alternative OEG sind Leistungen zu versagen, wenn es unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. "Unbilligkeit" ist als unbestimmter Rechtsbegriff so zu konturieren, daß die darauf beruhende Gegennorm den Leistungsausschluß gegenüber dem Rechtsanspruch aus § 1 OEG rechtfertigt (BSGE 49, 104, 107 = SozR 3800 § 2 Nr 1; BSGE 83, 62, 65 = SozR 3-3800 § 2 Nr 9). Der Senat hat bereits entschieden, daß nur solche Gründe zur Unbilligkeit führen, die dem in der 1. Alternative des § 2 Abs 1 OEG genannten Fall der Mitverursachung an Bedeutung annähernd gleichkommen (BSGE 66, 115, 117 = SozR 3800 § 2 Nr 7; BSGE 83, 62, 65 = SozR 3-3800 § 2 Nr 9). Der Maßstab hierfür ergibt sich aus dem gesetzlichen Zweck der Gewaltopferentschädigung, aus verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen, aus Prinzipien der Gesamtrechtsordnung und aus viktimologischen Erkenntnissen. Bisher hat der Senat die folgenden vier Fallgruppen gebildet (Übersicht bei BSGE 83, 62, 66 = SozR 3-3800 § 2 Nr 9): (1) eine im Vorfeld der Tat liegende rechtsfeindliche Betätigung, mit der sich das spätere Opfer außerhalb der staatlichen Rechtsgemeinschaft stellt (BSGE 72, 136, 137 = SozR 3-3800 § 2 Nr 2), (2) die sozialwidrige, mit speziellen Gefahren verbundene Zugehörigkeit zum Kreis der Alkohol- oder Drogenkonsumenten, wenn die Tat aus diesem Milieu entstanden ist (BSGE 49, 106, 110 = SozR 3800 § 2 Nr 1), (3) das bewußte oder leichtfertige Eingehen einer Gefahr, der sich das Opfer ohne weiteres hätte entziehen können (BSGE 57, 168, 169 = SozR 3800 § 2 Nr 5; BSGE 83, 62, 67 = SozR 3-3800 § 2 Nr 9), es sei denn, für dieses Verhalten läge ein rechtfertigender Grund vor (BSGE 52, 281, 288 = SozR 3800 § 2 Nr 3) und (4) eine durch die Versorgung entstehende Begünstigung des Täters (BSGE 59, 40, 45 = SozR 3800 § 1 Nr 5). Von diesen Fallgruppen liegt hier keine vor.
Das LSG fügt ihnen aber eine weitere hinzu. Es meint, schockgeschädigten Sekundäropfern seien Leistungen zu versagen, wenn sie nur als nahe Angehörige eines selbst nach § 2 Abs 1 OEG von Leistungen ausgeschlossenen (Primär-)Opfers Entschädigung beanspruchen könnten. Unausgesprochen nimmt das Berufungsgericht damit an, die Nahbeziehung zwischen den Geschädigten komme dem in der 1. Alternative des § 2 Abs 1 OEG genannten Versagungsfall (Mitverursachung) an Bedeutung annähernd gleich, so daß es unbillig wäre, Sekundäropfern den Versagungsgrund in der Person des nahen Angehörigen (hier des getöteten Ehemannes) nicht zuzurechnen. Damit folgt das LSG der zivilgerichtlichen Rechtsprechung, wonach sich der Schockgeschädigte in den Fällen, in denen der Schock durch die Verletzung eines Angehörigen hervorgerufen wurde, ein Mitverschulden seines Angehörigen an der Verletzung entgegenhalten lassen muß (BGHZ 56, 163, 170; KG VersR 1999, 504, 507, im Ergebnis auch RGZ 157, 11, 13; zustimmend Palandt-Heinrichs, 60. Aufl, § 254 RdNr 68; dagegen aber Deubner, JuS 1971, 625). Das ergebe sich aus entsprechender Anwendung des § 254 BGB, der als spezielle Ausprägung des § 242 BGB anzusehen sei. Der Grund für die Zurechnung wird darin gesehen, daß ein Schockschaden erst aufgrund der persönlichen Beziehung zwischen dem Schockgeschädigten und dem zunächst Verletzten entstehe, die ihren Ursprung in der Sphäre des Anspruchsstellers habe (Dunz, Anm zu BGH Lindenmaier-Möring § 823 (Aa) BGB Nr 27; kritisch Selb, JZ 1972, 125).
Dieses Argument läßt sich aber auf das Opferentschädigungsrecht nicht übertragen, denn es gründet auf der hier nicht anwendbaren Adäquanztheorie. Das Zivilrecht grenzt den - unüberschaubaren - Kreis möglicher Schockschadensopfer dadurch ein, daß es eine personale Nahbeziehung zwischen Primär- und Sekundäropfer fordert. In allen anderen Fällen, in denen Geschädigter und Schockgeschädigter nicht persönlich verbunden sind, soll eine Gesundheitsschädigung des Schockgeschädigten nicht voraussehbar und dem Schädiger die Schädigung deshalb auch nicht zurechenbar sein. Das OEG betrachtet die Ursachenbeziehung - anders als das zivilrechtliche Schadensersatzrecht - nicht ex ante, generell und abstrakt (Adäquanztheorie), sondern ex post, speziell und konkret (Lehre von der wesentlichen Bedingung). Der Staat hat danach die Folgen der gesundheitlichen Schädigung (eines Schockgeschädigten) nicht deshalb auszugleichen, weil allgemein damit zu rechnen ist, daß solch ein Schaden bei nahen Angehörigen (und nur bei diesen) eintritt. Versorgung wird geleistet, weil sich im Einzelfall der tätliche Angriff auf das Opfer als wesentliche Bedingung auch für die Verletzung der (psychischen) Gesundheit des Schockgeschädigten erweist (vgl dazu BSGE 77, 1, 2 ff = SozR 3-3800 § 1 Nr 4). Dieser braucht sich eine Mitverursachung durch das ihm persönlich eng verbundene Opfer nicht zurechnen zu lassen, weil die Entschädigungspflicht des Staates nach der Kausalitätslehre der wesentlichen Bedingung unabhängig von einer solchen Nahbeziehung ist.
Der Senat läßt deshalb weiterhin offen (vgl zuletzt Urteil vom 8. August 2001 - B 9 VG 1/00 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen), ob das Versorgungsrecht allgemein und das Recht der Opferentschädigung im Besonderen den unüberschaubar großen Kreis möglicher Schockschadensopfer durch die Forderung nach einer "unmittelbaren" Schädigung bereits tatbestandsmäßig begrenzt und dadurch von vornherein all diejenigen von Entschädigungsansprüchen ausschließt, die - anders als die Klägerin - mit dem Primäropfer nicht verwandtschaftlich oder sonst eng verbunden sind. Ein Ausschluß dieser, nur "mittelbar" Geschädigten aus dem Kreis der entschädigungsberechtigten Gewaltopfer wäre jedenfalls kein Grund, dem "unmittelbar" geschädigten Sekundäropfer Leistungen wegen Unbilligkeit zu versagen.
Das LSG wird im wiedereröffneten Berufungsverfahren zunächst festzustellen haben, ob die Klägerin psychisch erkrankt ist. Sollte das - etwa in Form einer posttraumatischen Belastungsstörung - der Fall sein, wird weiter zu prüfen sein, ob diese Krankheit wahrscheinliche Folge der Zeugenschaft vom Tod des Ehemannes ist. Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl BSGE 77, 1, 2 ff = SozR 3-3800 § 1 Nr 4) wird sich dieser (wahrscheinliche) Ursachenzusammenhang nur dann feststellen lassen, wenn die Klägerin an einer psychischen Krankheit leidet, die nach allgemeinem medizinischen Erfahrungswissen im Anschluß an den von der Klägerin erlebten Vorgang (oder ein vergleichbar schweres psychisches Trauma) gehäuft auftritt.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
BSGE 89, 75 |
BSGE, 75 |
NJW-RR 2002, 956 |
FA 2002, 191 |
SozR 3-3800 § 2, Nr. 11 |