Entscheidungsstichwort (Thema)
Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. versicherungsrechtliche Voraussetzungen. Drei-Fünftel-Belegung. ausländischer Arbeitsunfall. Mitgliedstaat der EU
Leitsatz (amtlich)
Auf die so genannte Drei-Fünftel-Belegung kommt es nicht an, wenn die Erwerbsminderung aufgrund eines Arbeitsunfalls eingetreten ist; hierbei steht ein im Geltungsbereich des europäischen Gemeinschaftsrechts erlittener Arbeitsunfall einem inländischen, nach deutschem Recht zu beurteilenden Arbeitsunfall gleich (Aufgabe BSG vom 1.12.1982 – 4 RJ 9/82 = BSGE 54, 199 = SozR 2200 § 1252 Nr 3).
Normenkette
SGB VI § 43 Abs. 5 Fassung: 2002-02-19, Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Fassung: 2002-02-19, Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Fassung: 2002-02-19, § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; SGB VII § 8; SGB IV § 6; SGB I § 30 Abs. 2; EWGV 1408/71 Art. 45 Abs. 1, Art. 40 Abs. 1, Art. 9a, 13 Abs. 1; EG Art. 39 Abs. 1-2, Art. 42, 45 Abs. 1, Art. 234
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 4. August 2004 und das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 8. Januar 2004 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Kläger begehrt Rente wegen Erwerbsminderung; umstritten ist vorrangig die Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen durch einen in Spanien erlittenen Arbeitsunfall.
Der im Jahre 1973 geborene Kläger war in Deutschland zwischen 1989 und April 2002 – mit Unterbrechungen, vor allem von November 1999 bis Februar 2002 – versicherungspflichtig beschäftigt.
Am 16. Mai 2002 nahm er auf Ibiza (Spanien) eine Beschäftigung als Tauchassistent auf. Am 22. Juni 2002 erlitt er einen Tauchunfall, der vom spanischen Versicherungsträger als Arbeitsunfall anerkannt wurde. Vom spanischen Rentenversicherungsträger erhält er ab 11. Juni 2003 eine “Pensión de incapacidad permanente total para la profesión habitual” (Rente wegen dauernder vollständiger Berufsunfähigkeit ≪BU≫) in Höhe von monatlich zunächst € 704,12 (Bescheid vom 11. Juni 2003).
Den Antrag des Klägers vom 8. August 2002 auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung lehnte die Beklagte – nach durchgeführter medizinischer Sachaufklärung – ab, weil die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Rente nicht erfüllt seien. Im maßgeblichen Fünf-Jahres-Zeitraum vom 8. August 1997 bis zum 7. August 2002 seien nur 30 Monate mit Pflichtbeiträgen belegt. Im Übrigen bestehe auch keine teilweise oder volle Erwerbsminderung (Bescheid vom 11. März 2003). Mit Widerspruchsbescheid vom 7. Oktober 2003 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Nach überstaatlichem Recht sei eine Gleichstellung von Arbeitsunfällen nicht vorgesehen, weshalb ein nach den Vorschriften eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union (EU) zu beurteilender Arbeitsunfall keine vorzeitige Wartezeiterfüllung auslösen könne.
Die Klage hat das Sozialgericht Dortmund abgewiesen.
Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 4. August 2004) und seine Entscheidung im Wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt: Der Kläger habe keinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung, weil die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Er habe in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung nicht drei Jahre mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit zurückgelegt, was zwischen den Beteiligten auch nicht streitig sei. Zwar sei die Erfüllung dieser Voraussetzung ua dann nicht erforderlich, wenn der Versicherte wegen eines Arbeitsunfalls vermindert erwerbsfähig geworden sei. Der Unfall des Klägers in Spanien sei jedoch kein Arbeitsunfall iS des § 43 Abs 5 iVm § 53 Abs 1 Satz 1 Nr 1 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI). Das LSG folge insoweit dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 1. Dezember 1982 (4 RJ 9/82 – BSGE 54, 199 = SozR 2200 § 1252 Nr 3). Diese Entscheidung sei zwar zu der seinerzeit geltenden Reichsversicherungsordnung ergangen, doch ergebe sich für die Rechtslage nach dem SGB VI keine entscheidungsrelevante Änderung. Nichts anderes folge aus der Verordnung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV) 1612/68 vom 15. Oktober 1968 (Verordnung des Rates über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft), die bereits zur Zeit der BSG-Entscheidung im Jahre 1982 gegolten habe.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger die fehlerhafte Anwendung materiellen Rechts (§ 43 Abs 1 Satz 1 Nr 2, § 43 Abs 5, § 53 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB VI sowie § 8 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch ≪SGB VII≫). Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor: Es verstoße gegen europarechtliche Vorschriften, wenn der Tauchunfall, der von dem spanischen Sozialversicherungsträger als Arbeitsunfall anerkannt worden sei, nicht einem Arbeitsunfall im deutschen Rentenversicherungsrecht gleichgestellt werde. Andernfalls bestehe eine Lücke in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung. Denn aufgrund seiner gesundheitlichen Einschränkungen habe er keine Möglichkeit mehr, weitere Rentenversicherungsbeiträge zu erwirtschaften. Bei der Beurteilung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung könne es keinen Unterschied machen, wo sich letztendlich der Arbeitsunfall ereignet habe und dadurch der Fall der verminderten Erwerbsfähigkeit eingetreten sei. Gerade im Hinblick auf die im europäischen Recht gewährleistete Freizügigkeit dürfe es nicht zu einer Diskriminierung von Arbeitnehmern aus Mitgliedstaaten kommen, wenn es sich um einen in einem anderen Mitgliedstaat erlittenen Arbeitsunfall handele. Vor diesem europarechtlichen Hintergrund könne die Entscheidung des BSG vom 1. Dezember 1982 keinen Bestand mehr haben. Die Rechte von Arbeitnehmern in der Europäischen Union seien höher zu bewerten als das Territorialitätsprinzip des SGB VII.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 4. August 2004 sowie des Sozialgerichts Dortmund vom 8. Januar 2004 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 11. März 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Oktober 2003 zu verurteilen, ihm Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Berufungsurteil in vollem Umfang für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG begründet. Dem erkennenden Senat ist eine abschließende Entscheidung über den vom Kläger erhobenen Rentenanspruch nicht möglich. Es fehlen Feststellungen des LSG zum Leistungsvermögen des Klägers, so dass derzeit noch nicht feststeht, ob er erwerbsgemindert ist.
Rechtsgrundlage für den Anspruch des Klägers auf Rente wegen Erwerbsminderung ist § 43 SGB VI idF der Bekanntmachung vom 19. Februar 2002 (BGBl I 754). Nach dieser Vorschrift haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen teilweiser bzw voller Erwerbsminderung, wenn sie 1. teilweise bzw voll erwerbsgemindert sind, 2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und 3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (§ 43 Abs 1 Satz 3 bzw § 43 Abs 2 Satz 1 SGB VI).
Die allgemeine Wartezeit beträgt für Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit fünf Jahre (§ 50 Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB VI). Das LSG hat zwar keine ausdrücklichen Feststellungen zur Erfüllung der Wartezeit durch den Kläger getroffen, aus den vom LSG in Bezug genommenen Verwaltungsakten ergibt sich jedoch eindeutig und zweifelsfrei, dass der Kläger die erforderliche fünfjährige Wartezeit erfüllt hat. Hierüber besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit, zumal die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid diese Feststellung ausdrücklich getroffen hat.
Entgegen der Rechtsansicht der Vorinstanzen und der Beklagten kann der Kläger aber auch die besondere versicherungsrechtliche Voraussetzung der so genannten Drei-Fünftel-Belegung des § 43 Abs 1 Satz 1 Nr 2 bzw Abs 2 Satz 1 Nr 2 SGB VI erfüllen. Allerdings hat er in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung keine drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit aufzuweisen.
Dies gilt unabhängig davon, dass das LSG nicht ausdrücklich festgestellt hat, ob und wann die Erwerbsminderung eingetreten sein könnte. Als frühester Zeitpunkt für den Eintritt der Erwerbsminderung kommt vorliegend nur der 22. Juni 2002 in Betracht, dh der Tag des Tauchunfalls. Ausgehend von diesem Zeitpunkt hat der Kläger in dem davor liegenden Fünf-Jahres-Zeitraum, der sich dann auf die Zeit vom 22. Juni 1997 bis 21. Juni 2002 erstreckt, nur 34 Monate an Pflichtbeiträgen aufzuweisen. In diesem Zeitraum liegen insgesamt 32 Monate Pflichtbeiträge zur deutschen Rentenversicherung; hierzu treten weitere zwei Monate an Pflichtbeiträgen zum spanischen Versicherungsträger (Beiträge vom 16. Mai bis zum 21. Juni 2002).
Eine Verlängerung des Fünf-Jahres-Zeitraums gemäß § 43 Abs 4 SGB VI scheidet aus, weil nach den vom LSG getroffenen und von der Revision nicht angegriffenen und somit für den Senat bindenden Feststellungen (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫) keiner der in dieser Vorschrift genannten Verlängerungstatbestände vorliegt.
Entgegen der Rechtsansicht der Vorinstanzen und der Beklagten kann der Kläger jedoch die versicherungsrechtlichen Voraussetzung nach § 43 Abs 5 SGB VI erfüllen. Nach dieser Vorschrift ist eine Pflichtbeitragszeit von drei Jahren für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit nicht erforderlich, wenn die Erwerbsminderung aufgrund eines Tatbestandes eingetreten ist, durch den die allgemeine Wartezeit vorzeitig erfüllt ist. Damit verweist diese Vorschrift auf § 53 SGB VI, wonach aufgrund verschiedener Tatbestände die allgemeine Wartezeit vorzeitig erfüllt sein kann. Vorliegend kommt allein § 53 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB VI in Betracht. Hiernach ist die allgemeine Wartezeit ua vorzeitig erfüllt, wenn Versicherte wegen eines Arbeitsunfalls vermindert erwerbsunfähig geworden sind. Die in § 53 Abs 1 Satz 2 SGB VI genannten weiteren versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die vorzeitige Erfüllung der Wartezeit gelten im Rahmen des § 43 Abs 5 SGB VI nicht, da dieser nur auf die Verwirklichung eines in § 53 SGB VI genannten Tatbestands, nicht aber auf die weiteren versicherungsrechtlichen Voraussetzungen in dieser Vorschrift verweist (Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung – SGB VI, § 43 RdNr 195).
Zu Unrecht haben die Vorinstanzen und die Beklagte die Anwendung des § 43 Abs 5 SGB VI von vornherein ausgeschlossen, weil die vorzeitige Wartezeiterfüllung aufgrund einer durch einen Arbeitsunfall eingetretenen Erwerbsminderung nur möglich sei, wenn es sich um einen nach deutschem Sozialversicherungsrecht versicherten Arbeitsunfall iS von § 8 SGB VII handele. Denn nach dieser Vorschrift seien Arbeitsunfälle nur Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Aufgrund der Bestimmungen über den räumlichen Geltungsbereich des SGB (§§ 1, 3 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch ≪SGB IV≫) könne daher die Wartezeit nur durch einen nach deutschen Vorschriften versicherten Arbeitsunfall vorzeitig erfüllt werden (so zu einem italienischen Arbeitsunfall BSG 4. Senat, Urteil vom 1. Dezember 1982, BSGE 54, 199 = SozR 2200 § 1252 Nr 3, mwN; und – diesem Urteil folgend – Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, aaO, § 53 RdNr 28; Klattenhoff in Hauck/Noftz, SGB VI, § 53 RdNr 27; Niesel in Kasseler Komm, § 53 SGB VI, RdNr 8; Löns in Kreikebohm, SGB VI, 2. Aufl 2003, § 53 RdNr 6).
Diese Rechtsansicht ist jedoch mit dem Gemeinschaftsrecht der EU nicht vereinbar. Dieses Recht geht den nationalen deutschen Bestimmungen vor (§ 6 SGB IV, vgl auch § 30 Abs 2 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch) und führt dazu, dass jedenfalls solche im Ausland erlittenen Arbeitsunfälle den unter die deutschen Rechtsvorschriften fallenden Arbeitsunfällen gleichzustellen sind, die im Wesentlichen den Anforderungen eines Arbeitsunfalls nach deutschem Recht entsprechen. § 53 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB VI muss demgemäß gemeinschaftsrechtskonform ausgelegt werden.
Das Gebot, im Ausland erlittene Arbeitsunfälle den nach deutschem Recht zu beurteilenden Arbeitsunfällen gleichzustellen, lässt sich allerdings nicht direkt aus den koordinationsrechtlichen Vorschriften der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (EWGV 1408/71) entnehmen. Art 45 Abs 1 EWGV 1408/71, der iVm Art 40 Abs 1 EWGV 1408/71 die Berücksichtigung der nach den Rechtsvorschriften jedes anderen Mitgliedstaats zurückgelegten Versicherungs- oder Wohnzeiten vorsieht, wenn der Erwerb des Anspruchs davon abhängig ist, dass Versicherungs- oder Wohnzeiten zurückgelegt worden sind, enthält keine weitergehende Gleichstellung von anderen anspruchsbegründenden Tatbeständen. Art 9a EWGV 1408/71 enthält zwar eine Gleichstellung von bestimmten Aufschub- und Dehnungstatbeständen, jedoch ebenfalls keine Gleichstellung von weiteren anspruchsbegründenden Tatbeständen zur Erfüllung der Wartezeit. Andererseits ergibt die Gesamtschau dieser Vorschriften, insbesondere auch die erst durch Art 1 Nr 2 EWGV 2332/89 vom 18. Juli 1989 (ABl L 224, 51) mit (Rück-)Wirkung vom 1. Januar 1984 eingefügte Regelung des Art 9a EWGV 1408/71, dass Versicherte, die Versicherungszeiten in mehreren Mitgliedstaaten zurückgelegt haben, hierdurch keine rentenrechtlichen Nachteile erleiden sollen. Anlass und Leitbild für die Gleichstellungsregelung des Art 9a EWGV 1408/71 war insbesondere die Einführung der besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für den Erwerb von Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach deutschem Recht durch das Haushaltsbegleitgesetz 1984 mit Wirkung vom 1. Januar 1984 (s hierzu Schuler in Fuchs ≪Hrsg≫, Europäisches Sozialrecht, 4. Aufl 2005, Art 9a EWGV 1408/71 RdNr 1). Diese Regelung wurde erforderlich, weil Zeiten der so genannten Dehnungs- oder Aufschubtatbestände nicht unmittelbar der Aufrechterhaltung des Leistungsanspruchs dienen, neben Wohn- und Versicherungszeiten auch andere Zeiten umfassen und daher nicht unter Art 45 EWGV 1408/71 subsumiert werden können. Das gemeinschaftsrechtliche Gebot zur Gleichstellung von Aufschubtatbeständen folgt bereits aus Art 39 Abs 2 (ex-Art 48 Abs 2) des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (in der seit dem 1. Mai 1999 geltenden Fassung – EG) und Art 42 (ex-Art 51) EG (Schuler, aaO, RdNr 3). So entspricht es der stRspr des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), dass der Zweck der Art 48 bis 51 des Vertrags zur Gründung der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft – Fassung bis zum 30. April 1999 (EWGVtr ≪jetzt Art 39 bis 42 EG≫) verfehlt würde, wenn Wanderarbeitnehmer, die vom Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen, Vergünstigungen verlören. Dies hat der EuGH zu den besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen ausdrücklich entschieden (EuGH vom 4. Oktober 1991, EuGHE 1991, I-4501 RdNr 22 = SozR 3-6030 Art 48 Nr 5, Rs Paraschi), und dem trägt Art 9a EWGV 1408/71 nunmehr Rechnung.
Ganz entsprechend aber würde entgegen Art 39 Abs 1 EG die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft ebenfalls dann eingeschränkt, wenn – im Sinne der Beklagten und der Vorinstanzen – § 53 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB VI so auszulegen wäre, dass lediglich solche Arbeitsunfälle, die nach dem nationalen deutschen Recht versichert sind, die Wartezeitfiktion auslösten bzw zur Erfüllung der besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen dienten. Deshalb ergibt sich hier ebenfalls ein Gebot der Gleichstellung aus Art 39 Abs 1 und Art 42 EG, auch wenn die Bestimmungen der Verordnung der EWGV 1408/71 keine ausdrückliche Anordnung zur Gebietsgleichstellung von in einem anderen Mitgliedstaat erlittenen Arbeitsunfällen mit Arbeitsunfällen nach dem nationalen deutschen Recht für die Erfüllung von versicherungsrechtlichen Voraussetzungen im Rentenrecht enthalten.
Für die Notwendigkeit dieser Gleichstellung spricht auch die Überlegung, dass letztlich der Tatbestand des Arbeitsunfalls die fehlenden Beitragszeiten für den Erwerb des Rentenanspruchs im so genannten Fünf-Jahres-Zeitraum des § 43 Abs 1 Satz 1 Nr 2 bzw Abs 2 Satz 1 Nr 2 SGB VI ersetzt. So hätte der Kläger im vorliegenden Fall ohne den Eintritt des Tauchunfalls im Ausland weitere Beitragszeiten zurücklegen und die erforderliche Anzahl von Beitragszeiten erwerben können, weil die ausländischen Beitragszeiten anspruchsbegründend nach Art 45 Abs 1 EWGV 1408/71 ebenso zu berücksichtigen wären wie etwaige zwischenzeitliche Dehnungs- und Aufschubtatbestände im Ausland, die über Art 9a EWGV 1408/71 anspruchserhaltend gleichzustellen wären.
Eine sachliche Begründung, warum der im Ausland erlittene Arbeitsunfall nicht dem in Deutschland erlittenen Arbeitsunfall gleichzustellen ist, ist bei diesem Verständnis der Freizügigkeitsbestimmung nicht zu erkennen. Insbesondere kann sich die Gegenansicht nicht auf Art 13 Abs 1 EWGV 1408/71 stützen. Diese Vorschrift enthält kollisionsrechtliche Grundnormen, die vor allem Doppelversicherungen ausschließen sollen (Steinmeyer in Fuchs ≪Hrsg≫ Europäisches Sozialrecht, 4. Aufl 2005, Art 13 EWGV 1408/71 RdNr 1). Entsprechend dieser Regelung erhält der Kläger auch keine Rente aus der deutschen Unfallversicherung, weil er zum Zeitpunkt des Unfalls nicht nach deutschem, sondern nach spanischen Recht versichert war. Hiervon zu unterscheiden ist die Frage der Gleichstellung von Sachverhalten zur Erfüllung der Voraussetzungen für den Anspruchserwerb nach dem Recht eines Mitgliedstaats, da – wie erwähnt – eine fehlende Gleichstellung geeignet ist, die Freizügigkeit von Arbeitnehmern einzuschränken.
Einer Vorlage gemäß Art 234 (ex-Art 177) EG an den EuGH bedarf es nicht. Denn nach dieser Vorschrift ist zwar das BSG als letztinstanzliches Gericht der Sozialgerichtsbarkeit zur Anrufung des EuGH verpflichtet, wenn sich eine europarechtliche Frage in einem schwebenden Verfahren stellt. Dies gilt jedoch dann nicht, wenn der EuGH entweder die Frage in einem gleich gelagertem Fall bereits beantwortet hat oder wenn bereits eine gesicherte Rechtsprechung des EuGH vorliegt, durch die die Rechtsfrage geklärt ist, selbst wenn die strittigen Fragen nicht vollkommen identisch sind; schließlich ist dann eine Vorlage nicht geboten, wenn die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig ist, dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel bleibt (EuGH vom 6. Oktober 1982, EuGHE 1982, 3415 RdNr 13-16 – Rs CILFIT). So aber liegt der Fall hier. Denn der EuGH hat nicht nur mit dem og Urteil in der Rs Paraschi bereits die Gleichstellung von Auslandstatbeständen zur Erfüllung der besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen gefordert; er hat auch mit Urteil vom 18. April 2002 (EuGHE 2002, I-3567, 3586, Rs Duchon = SozR 3-2200 § 53 Nr 2; auszugsweise veröffentlicht in ZESAR 2002, 32-36 mit zustimmender Anm von Mayr) für einen Fall aus dem österreichischen Pensions-(Renten-)Recht entschieden, dass versicherungsrechtliche Voraussetzungen österreichischen Rechts auch durch den Bezug von Arbeitsunfallrenten eines anderen Mitgliedstaats erfüllt werden können. Denn sonst würden Wanderarbeitnehmer entgegen Art 39 Abs 2 und Art 42 EG (ex-Art 48 Abs 2, 51 EWGVtr) benachteiligt. Er hat ausgeführt, dass eine nationale Vorschrift, die eine Ausnahme vom Erfordernis einer Wartezeit als Voraussetzung für den Anspruch auf eine Pension wegen BU, wenn diese Folge eines Arbeitsunfalls ist, nur für den Fall vorsieht, dass das Opfer zur Zeit des Unfalls nach den Rechtsvorschriften dieses Staats – unter Ausschluss der Rechtsvorschriften sämtlicher anderer Mitgliedstaaten – pflicht- oder selbstversichert war, mit dem Gemeinschaftsrecht nicht zu vereinbaren ist.
Auch die Aussagen des EuGH in dieser Entscheidung zu einer Tatbestandsgleichstellung von in einem anderen Mitgliedstaat erlittenen Arbeitsunfällen sind damit so eindeutig, dass sich vorliegend eine Vorlage an den EuGH erübrigt.
Dieselben Gründe, die nach Auffassung des EuGH eine Gleichstellung in einem von einem anderen Mitgliedstaat erlittenen Arbeitsunfall mit einem inländischen Arbeitsunfall für die Erfüllung eines Dehnungstatbestands gebieten, müssen auch für den Fall gelten, in dem die Erfüllung der besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzung durch einen Arbeitsunfall möglich ist. Denn Art 39 und 42 EG (ex-Art 48 und ex-Art 51 EWGVtr) stehen generell einer nationalen Regelung entgegen, die unter bestimmten Voraussetzungen eine Verlängerung des Rahmenzeitraums gestattet, ohne jedoch eine Verlängerungsmöglichkeit für den Fall vorzusehen, dass Tatsachen und Umstände, die den verlängerungswirksamen Tatsachen und Umständen entsprechen, in einem anderen Mitgliedstaat eintreten. Hieraus kann jedoch für den vorliegenden Fall nur die Schlussfolgerung gezogen werden, dass eine andere als die vom erkennenden Senat vorgenommene Auslegung des § 53 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB VI gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen würde.
Es bedarf auch keiner Anfrage gemäß § 41 Abs 3 SGG beim weiterhin für Streitigkeiten aus der Rentenversicherung zuständigen 4. Senat des BSG, ob dieser an seiner bisherigen Rechtsprechung festhalte, dass auch unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts eine Gleichstellung von Arbeitsunfällen im europäischen Ausland, die nicht nach deutschem Sozialversicherungsrecht versichert seien, mit Arbeitsunfällen im Inland ausscheide (BSGE 54, 199 = SozR 2200 § 1252 Nr 3). Diese Entscheidung ist angesichts der dargestellten Rechtsprechung des EuGH als überholt anzusehen. An die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH sind aufgrund des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts alle nationalen Behörden und Gerichte gebunden. Eine derartige Anfrage sowie die Anrufung des Großen Senats des BSG sind nicht erforderlich, wenn sich ein Senat – abweichend von der Entscheidung eines anderen Senats dieses Gerichts – in der Auslegung einer Norm des Gemeinschaftsrechts einer Entscheidung des EuGH anschließen will (BSG vom 29. Januar 1974, BSGE 37, 88 = SozR 1500 § 42 Nr 1).
Gebietet die Anwendung des Gemeinschaftsrechts demnach eine Gleichstellung eines im EU-Ausland erlittenen Arbeitsunfalls mit einem nach deutschem Sozialversicherungsrecht erlittenen Arbeitsunfall, so kann der Kläger nach den von dem LSG getroffenen Feststellungen die versicherungsrechtliche Voraussetzung des § 43 Abs 5 SGB VI iVm § 53 SGB VI erfüllen, wenn aufgrund des Arbeitsunfalls vom 22. Juni 2002 in Spanien eine Erwerbsminderung in rentenberechtigendem Ausmaß eingetreten ist. Hierbei bedarf es für den vorliegenden Fall keiner abschließenden Entscheidung des Senats darüber, ob der deutsche Rentenversicherungsträger an die Feststellungen eines ausländischen Unfall- oder Rentenversicherungsträgers, es liege ein Arbeitsunfall nach dessen Vorschriften vor, in gleichem Maße gebunden ist wie an Feststellungen des ausländischen Versicherungsträgers zu im Ausland zurückgelegten Versicherungszeiten (vgl hierzu Schuler in Fuchs ≪Hrsg≫, Europäisches Sozialrecht, 4. Aufl 2005, Art 45 EWGV 1408/71 RdNr 5, 8; BSG SozR 3-6050 Art 45 Nr 2 S 3f). Eine solche Bindungswirkung unterstellt, wäre der Tauchunfall des Klägers schon deshalb als Arbeitsunfall iS von § 43 Abs 5 iVm § 53 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB VI zu werten, weil nach dem in der Rentenakte vorliegenden Bescheid des spanischen Versicherungsträgers ein Arbeitsunfall der Grund für die Zahlung der spanischen Rente ist. Auch das LSG ist in dem angefochtenen Urteil vom Vorliegen eines Arbeitsunfalls (in Spanien) ausgegangen. Gegen diese Feststellung sind weder Rügen noch Gegenrügen erhoben worden. Im Übrigen könnte für eine entsprechende Bindungswirkung der Feststellung des spanischen Sozialversicherungsträgers auch sprechen, dass das spanische Konzept des Arbeitsunfalls im Wesentlichen keine Besonderheiten im Vergleich zum deutschen Recht enthält (Pabst, ZESAR 2003, 355, 358 Anm 44, mwN).
Selbst wenn man die Sachverhaltsgleichstellung einschränkend davon abhängig machen wollte, dass es sich bei dem im Ausland erlittenen Arbeitsunfall um einen solchen Unfall handeln muss, der auch nach den Grundsätzen des deutschen Sozialversicherungsrechts als Arbeitsunfall (zum Begriff des Arbeitsunfalls zB neuestens BSG, Urteil vom 12. April 2005 – B 2 U 27/04 R, Breith 2005, 929, mwN) zu werten wäre, wenn er sich im Inland ereignet hätte, so ist nach den Sachverhaltsfeststellungen des LSG davon auszugehen, dass diese Voraussetzungen im Falle des Klägers erfüllt sind. Der Kläger war als Tauchassistent versicherungspflichtig beschäftigt und hat in Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit den Tauchunfall erlitten. Auch wenn das LSG nähere Einzelheiten zum Unglücksgeschehen nicht festgestellt hat, so sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass dieser Unfall nicht auch nach den deutschen Vorschriften als Arbeitsunfall anzusehen wäre. Im Übrigen ist die Beklagte dieser Wertung des Tauchunfalls als Arbeitsunfall bislang nicht entgegengetreten.
Kann der Kläger somit durch den in Spanien erlittenen Arbeitsunfall die versicherungsrechtliche Voraussetzung des § 43 Abs 5 SGB VI erfüllen, ist dem erkennenden Senat eine abschließende Entscheidung über den erhobenen Rentenanspruch gleichwohl nicht möglich. Das LSG hat – aufgrund seiner Rechtsansicht – das Vorliegen einer rentenberechtigenden Erwerbsminderung beim Kläger aufgrund des Tauchunfalls offen gelassen. Insbesondere besteht insoweit auch keine Bindungswirkung an die vom spanischen Sozialversicherungsträger getroffene Entscheidung über das Vorliegen von “dauernder vollständiger BU” nach den spanischen sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften, weil Spanien und die Bundesrepublik Deutschland keine übereinstimmenden Erklärungen über die gegenseitige Anerkennung der Invalidität bzw Erwerbsminderung iS von Art 40 Abs 4 EWGV 1408/71 (s hierzu Schuler in Fuchs ≪Hrsg≫, Europäisches Sozialrecht, 4. Aufl 2005, Art 40 EWGV 1408/71 RdNr 9; Eichenhofer, ebenda, Art 87 EWGV 1408/71 RdNr 3) abgegeben haben. Insoweit kommt es unabhängig von den Feststellungen des spanischen Versicherungsträgers allein darauf an, ob eine Erwerbsminderung iS von § 43 Abs 1 oder Abs 2 SGB VI durch den Tauchunfall eingetreten ist.
Zur entsprechenden weiteren Sachaufklärung, die dem erkennenden Senat verwehrt ist, ist der Rechtsstreit daher an das LSG zurückzuverweisen. Es wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 1489516 |
BSGE 2006, 293 |
NWB 2005, 4437 |
EuroAS 2006, 50 |
KrV 2006, 54 |
NZS 2006, 141 |
SGb 2006, 165 |
SGb 2006, 91 |
AUR 2006, 39 |
NWB direkt 2005, 12 |
NJOZ 2006, 1808 |
sis 2006, 310 |