Entscheidungsstichwort (Thema)
Ordentliche Kündigung. Sonderkündigungsschutz. Abfindung. Tarifvertrag. Betriebsvereinbarung. Sozialplan. Fiktive Kündigungsfrist. Revisibles Recht
Leitsatz (redaktionell)
§ 117 Abs. 2 S. 4 AFG erfasst typisierend die Fälle, in denen die Möglichkeit einer ordentlichen Kündigung für den Arbeitgeber (vertraglich oder gesetzlich) grundsätzlich ausgeschlossen, aber (vertraglich oder gesetzlich) für den Fall wieder eröffnet ist, dass die Kündigung von der Zahlung einer Abfindung abhängt.
Normenkette
AFG § 117 Abs. 2, § 242 Abs. 3; SGB III §§ 124, 427 Abs. 6; SGG § 162
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichtes vom 28. April 2004 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Rechtsstreit betrifft einen Anspruch auf Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit vom 1. Oktober 1998 bis 4. Februar 1999. Für diesen Zeitraum hat die Beklagte das Ruhen wegen einer der Klägerin gezahlten Abfindung festgestellt.
Die im Jahre 1940 geborene Klägerin war ab Oktober 1979 bei der A… GmbH (Fa A…) im Werk K… als Montiererin beschäftigt. Durch Aufhebungsvertrag vom 12. März 1998 wurde das Arbeitsverhältnis zum 30. September 1998 beendet; die Klägerin erhielt auf Grund eines Sozialplans eine Abfindung in Höhe von 42.000 DM. Die für die Arbeitgeberin nach dem Gemeinsamen Manteltarifvertrag (GMTV) für Arbeiter und Angestellte in der Eisen-, Metall- und Elektroindustrie des Landes Hessen vom 15. Januar 1982 in der Fassung vom 18. Dezember 1996 maßgebliche tarifliche Frist für die ordentliche Kündigung betrug allgemein sechs Monate zum Schluss eines Kalendervierteljahres. Nach dem GMTV konnte allerdings Arbeitnehmern, die das 55. Lebensjahr vollendet und seit mindestens 10 Jahren ununterbrochen in dem Unternehmen beschäftigt waren, nur noch aus wichtigem Grund gekündigt werden; dies sollte beim Vorliegen eines Sozialplanes nicht gelten (§ 21 Ziff 5 Satz 1 und Satz 2).
Am 16. Februar 1998 schlossen die Fa A…, der Gesamtbetriebsrat, die örtlichen Betriebsräte der drei Werke in N…, R… und K…, die Industriegewerkschaft Metall (Bezirksleitung München und Frankfurt) sowie der Verband der Bayerischen Metall- und Elektroindustrie eV München und der Verband der Metall- und Elektro-Unternehmen Hessen, Bezirksgruppe Nordhessen eV, Kassel, eine Vereinbarung, die als Betriebsvereinbarung und zugleich als Interessenausgleich und Sozialplan und Tarifvertrag bezeichnet wurde. Darin war ua die Außerkraftsetzung der tarifvertraglichen Regelung über die Unkündbarkeit älterer Arbeitnehmer mit langjähriger Betriebszugehörigkeit für einen befristeten Zeitraum enthalten (§ 3 – Tariföffnung). § 5 (Sozialplan) dieser Vereinbarung lautete wie folgt: “Zum Ausgleich bzw. der Milderung der Nachteile, die den zu entlassenden Arbeitnehmern durch die Betriebsänderung und die damit verbundenen Entlassungen entstehen, vereinbaren die Parteien hiermit den als Anlage 3 beigefügten Sozialplan vom heutigen Tage, der ebenfalls im Wege einer zusammengesetzten Urkunde integraler Bestandteil dieser Vereinbarung ist.”
Die Klägerin meldete sich mit Wirkung zum 1. Oktober 1998 arbeitslos und beantragte die Gewährung von Alg. Die Beklagte stellte zunächst den Eintritt einer Sperrzeit für die Zeit vom 1. Oktober 1998 bis zum 23. Dezember 1998 fest (Bescheid vom 17. Dezember 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Juli 1999). Mit weiterem Bescheid vom 17. Dezember 1998 stellte die Beklagte zunächst ein weiteres Ruhen des Leistungsanspruchs nach § 117a Arbeitsförderungsgesetz (AFG) für die Zeit vom 24. Dezember 1998 bis zum 25. Februar 1999 fest. Mit Bescheid vom 8. März 1999 in der Gestalt des (weiteren) Widerspruchsbescheides vom 22. Juli 1999 stellte die Beklagte dann fest, dass der Leistungsanspruch wegen der gezahlten Abfindung gemäß § 117 Abs 2 und 3 AFG für die Zeit bis zum 4. Februar 1999 und für die Zeit vom 5. Februar bis zum 5. März 1999 gemäß § 117a AFG ruhe. Nach § 110 Abs 1 Nr 1a AFG sei der Leistungsanspruch um 29 Tage gemindert. Der Bescheid vom 17. Dezember 1998 über das Ruhen nach § 117a AFG vom 24. Dezember 1998 bis zum 25. Februar 1999 werde aufgehoben. Im März 1999 bewilligte die Beklagte Alg ab 6. März 1999. Während des Klageverfahrens hob die Beklagte im Februar 2001 den Sperrzeitbescheid vom 17. Dezember 1998 sowie den Bescheid über das Ruhen nach § 117a AFG in der Zeit vom 5. Februar 1999 bis 5. März 1999 und die Minderung (§ 110 Abs 1 Nr 1a AFG) auf und bewilligte mit Bescheid vom 7. Februar 2001 Alg ab 5. Februar 1999.
Während das Sozialgericht ≪SG≫ (Urteil vom 3. Juli 2001) die Klage abgewiesen hat, hat das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte verurteilt, der Klägerin Alg auch für die Zeit vom 1. Oktober 1998 bis 4. Februar 1999 zu gewähren (Urteil vom 28. April 2004). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, der Anspruch habe nicht geruht, weil § 117 Abs 2 Satz 1 AFG nicht zur Anwendung komme. Zwar habe die Klägerin wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine Abfindung erhalten. Jedoch sei das Arbeitsverhältnis auf Grund des Aufhebungsvertrages vom März 1998 entsprechend der ordentlichen Kündigungsfrist von sechs Monaten zum 30. September 1998 beendet worden. Dem stehe auch nicht der in § 21 Ziffer 5 GMTV geregelte Sonderkündigungsschutz entgegen, denn diese Regelung sei in zulässiger Weise von den Tarifvertragsparteien außer Kraft gesetzt worden. Dem Umstand, dass mit der Tariföffnung zeitgleich ein Interessensausgleich sowie ein Sozialplan vereinbart worden seien, komme keine Bedeutung zu.
Mit der Revision rügt die Beklagte, das LSG hätte nach § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ermitteln müssen, ob die Partei des GMTV, die für die Arbeitgeberverbände den Tarifvertrag geschlossen hat (Verband der Metall- und Elektro-Unternehmen Hessen eV, Frankfurt am Main), mit der Partei der “Betriebsvereinbarung” (Verband der Metall- und Elektro-Unternehmen Hessen, Bezirksgruppe Nordhessen eV, Kassel) identisch gewesen sei und ob verneinendenfalls die Vertragspartei, die namens des Verbandes der Metall- und Elektrounternehmen Hessen eV die “Betriebsvereinbarung” unterzeichnet habe, nach dem Inhalt ihrer Satzung zur Änderung des GMTV befugt gewesen sei. Auf diesem Verfahrensfehler könne das Urteil des LSG beruhen; denn hätte die Sachverhaltsaufklärung ergeben, dass § 21 Ziffer 5 GMTV mangels Identität der Parteien des GMTV und der Betriebsvereinbarung nicht hätte geändert werden können, hätte der Klägerin nur bei Vorliegen eines Sozialplanes und damit nur bei Zahlung einer Abfindung gekündigt werden können. Materiell liege insbesondere ein Verstoß gegen § 117 Abs 2 AFG vor. Der Sonderkündigungsschutz nach § 21 Ziffer 5 GMTV sei nicht in zulässiger Weise außer Kraft gesetzt worden, so dass das Arbeitsverhältnis – entgegen dem LSG – ohne Einhaltung einer der ordentlichen Kündigungsfrist des Arbeitgebers entsprechenden Frist beendet worden sei. Zum einen habe die “Bezirksgruppe Nordhessen” den vom “Verband der Metall- und Elektrounternehmen Hessen eV, Frankfurt aM” als Tarifvertragspartner geschlossenen GMTV nicht zu Lasten der Arbeitnehmer abändern können. Zum anderen sei auf den vorliegenden Fall die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zu den sog wohlerworbenen Rechten sinngemäß anzuwenden: Soweit tarifvertragliche Regelungen dem Arbeitnehmer den Status der Unkündbarkeit einräumten, könne diese Rechtsposition nicht tarifvertraglich entzogen werden. Zwar habe vorliegend im Hinblick auf § 21 Ziffer 5 GMTV kein absoluter Kündigungsschutz für die Klägerin bestanden, jedoch müsse die durch den GMTV erlangte Rechtsstellung der Klägerin – das Recht zu arbeitgeberseitiger ordentlicher Kündigung nur gegen Zahlung einer Abfindung – als sog wohlerworbenes Recht im Sinne der zitierten Rechtsprechung des BAG betrachtet werden. Daher bleibe es bei der tarifvertraglichen Regelung, dass der Klägerin nur bei Zahlung einer Abfindung habe ordentlich gekündigt werden können.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 28. April 2004 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 3. Juli 2001 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Nach Auffassung der Klägerin hat das LSG zu Recht entschieden, dass nach tarifvertraglich wirksamer Aufhebung der “Unkündbarkeit” ihr Arbeitsverhältnis durch Aufhebungsvertrag mit ordentlicher Kündigungsfrist beendet worden sei. Ein Ruhen des Anspruchs auf Alg sei daher ausgeschlossen.
Entscheidungsgründe
II
1. Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Aufhebung der Entscheidung des LSG und Zurückverweisung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Ob der Anspruch auf Alg in der Zeit vom 1. Oktober 1998 bis 4. Februar 1999 ruhte, kann auf Grund der vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen (§ 163 SGG) nicht abschließend entschieden werden.
Zu Unrecht hat das LSG jedoch entschieden, dass § 117 Abs 2 AFG (in der Fassung, die § 117 AFG durch das Gesetz zur Förderung eines gleitenden Übergangs in den Ruhestand vom 23. Juli 1996 – BGBl I 1078 – erhalten hat) im Fall der Klägerin nicht zur Anwendung kommen kann. Denn sowohl der alte Vertrag als auch die neue Vereinbarung setzen für das Entfallen des Kündigungsschutzes zwingend einen Sozialplan voraus, so dass nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) § 117 Abs 2 Satz 4 AFG zur Anwendung kommt (BSG SozR 3-4100 § 117 Nr 15; BSGE 87, 250 ff = SozR 3-4100 § 117 Nr 22). Nach den bisherigen Feststellungen des LSG lässt sich andererseits nicht abschließend beurteilen, ob bei der Klägerin die Voraussetzungen für eine fristgebundene Kündigung aus wichtigem Grund vorgelegen hätten, wenn der Ausschluss der ordentlichen Kündigung unterstellt würde (§ 117 Abs 2 Satz 3 Nr 2 Alt 2 AFG). Wäre die vorgenannte Frage zu bejahen, müsste die in § 117 Abs 2 Satz 4 AFG vorgesehene fiktive Kündigungsfrist von einem Jahr, die vorliegend nicht eingehalten ist, auf die ordentliche Kündigungsfrist reduziert werden, wie dies § 117 Abs 2 Satz 3 Nr 2 Alt 2 AFG für die befristete außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grund vorsah. In diesem Falle würde der Alg-Anspruch der Klägerin nicht ruhen, weil die ordentliche Kündigungsfrist tatsächlich eingehalten worden ist.
2. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist einmal der Bescheid vom 8. März 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Juli 1999 (§ 95 SGG), soweit die Beklagte das Ruhen des Alg-Anspruchs für die Zeit vom 1. Oktober 1998 bis 4. Februar 1999 festgestellt hat. Insoweit schließt sich der Senat dem Urteil des 11. Senats (BSG, Urteil vom 3. Juni 2004 – B 11 AL 71/03 R) an, der entgegen der bisherigen Rechtsprechung (vgl dazu nur: Eicher in Kasseler Handbuch des Arbeitsförderungsrechts, 2003, § 40 RdNr 9 mwN) einen eigenen Verfügungssatz über die Feststellung des Ruhens angenommen hat (vgl auch zur entsprechenden Situation beim Sperrzeitbescheid das Urteil des Senats vom 15. Dezember 2005 – B 7a AL 46/05 R –, zur Veröffentlichung im SozR vorgesehen). Mit diesem Bescheid hat die Beklagte allerdings nicht (nur) über den Eintritt einer Sperrzeit bzw über das Vorliegen von Ruhenszeiträumen entschieden, sondern gleichzeitig die Gewährung von Alg für den Zeitraum vom 1. Oktober 1998 bis 4. Februar 1999 abgelehnt (vgl BSGE 84, 225, 227 mwN = SozR 3-4100 § 119 Nr 17, BSG SozR 3-4100 § 119 Nr 15 S 62 f mwN). Diese Verfügungen korrespondieren mit der Verfügung des Bewilligungsbescheids vom März 1999 und des diesen abändernden Bescheids vom 7. Februar 2001 über die Zahlung von Alg (erst) ab 5. Februar 1999 (= Ablehnung für die davor liegende Zeit); die Bescheide stellen insoweit eine einheitliche rechtliche Regelung dar (vgl BSG SozR 3-1300 § 104 Nr 9 S 27; BSGE 84, 270, 271 = SozR 3-4100 § 119 Nr 19; BSG SozR 4-4300 § 144 Nr 4, RdNr 5).
Nicht mehr Gegenstand des Verfahrens ist auf Grund des ausdrücklichen Antrags der Klägerin (bereits im Verfahren beim SG) der Eintritt der Sperrzeit in der Zeit vom 1. Oktober 1998 bis zum 23. Dezember 1998 und der Anspruch auf Alg in der Zeit vom 5. Februar 1999 bis 5. März 1999. Die Beklagte hat während des gerichtlichen Verfahrens (SG Kassel, S 5 AL 1212/99) den Sperrzeitbescheid vom 17. Dezember 1998 sowie den Bescheid betreffend das weitere Ruhen nach § 117a AFG in der Zeit vom 5. Februar 1999 bis 5. März 1999 und die entsprechende Minderung der Anspruchsdauer aufgehoben und Alg für diesen Zeitraum bewilligt (Bescheid vom 7. Februar 2001).
3. Die Anwendung des § 117 AFG ergibt sich aus § 427 Abs 6 Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung – (SGB III) iVm § 242x Abs 3 Ziff 1 AFG (jeweils in der Fassung des Arbeitsförderungs-Reformgesetzes vom 24. März 1997, BGBl I 594). Denn nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) hat die Klägerin innerhalb der Rahmenfrist gemäß § 124 SGB III vom 1. Oktober 1995 bis 30. September 1998 mindestens 360 Kalendertage vor dem 1. April 1997 in einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung gestanden. Nach § 117 Abs 2 Satz 1 AFG ruht der Anspruch auf Alg im näher bestimmten Umfang, wenn der Arbeitslose wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine Abfindung, Entschädigung oder ähnliche Leistung erhalten oder zu beanspruchen hat und das Arbeitsverhältnis ohne Einhaltung einer der ordentlichen Kündigung des Arbeitgebers entsprechenden Frist beendet worden ist. Konnte dem Arbeitnehmer nur bei Zahlung einer Abfindung ordentlich gekündigt werden, so gilt gemäß § 117 Abs 2 Satz 4 AFG eine fiktive Kündigungsfrist von einem Jahr. Insoweit ist für die Anwendung des § 117 Abs 2 Satz 4 AFG die Wirkung der Vereinbarung vom 16. Februar 1998 von Bedeutung. Einwände gegen die neue Vereinbarung könnten sich in formeller und materieller Hinsicht ergeben.
4. Problematisch ist bereits, ob durch die getroffene Vereinbarung ein Tarifvertrag geändert werden konnte. Dabei ergibt sich die Frage, ob die Mitwirkung der nicht tariffähigen Parteien (Gesamtbetriebsrat der A… GmbH, Betriebsrat der A… GmbH für die Standorte N…, R… und K…) am Abschluss der “Betriebsvereinbarung” dazu führt, dass überhaupt ein wirksamer Tarifvertrag zustande gekommen ist, der den ursprünglichen geändert hat. Daran könnte es fehlen, weil nicht tariffähige Parteien entscheidend an der Willensbildung beteiligt waren (vgl Zachert, NZA 2006, 10, 13, mwN).
Ob bei Bejahung eines formell wirksamen neuen Tarifvertrages der von den Arbeitnehmern erworbene Kündigungsschutz der Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien entzogen war oder ob nicht vielmehr die Vertragsparteien die tarifvertragliche Regelung des § 21 Ziffer 5 GMTV mit einem Änderungstarifvertrag wirksam außer Kraft setzen konnten, könnte ebenfalls zweifelhaft sein. Nach der neueren Rechtsprechung des BAG (Urteil vom 2. Februar 2006, 2 AZR 58/05, vgl Pressemitteilung Nr 7/06 vom 2. Februar 2006) tragen tarifvertragliche Regelungen den immanenten Vorbehalt ihrer nachträglichen Änderung unter bestimmten Voraussetzungen durch Tarifvertrag in sich. Dies gilt auch für Regelungen über einen Sonderkündigungsschutz. Ist bisher tarifvertraglich die ordentliche Kündigung nach entsprechender Beschäftigungszeit und ab einem bestimmten Lebensalter nicht ausnahmslos ausgeschlossen, sondern bleibt bei bestimmten Betriebsänderungen eine ordentliche Kündigung zulässig, so sind die Tarifvertragsparteien grundsätzlich nicht gehindert, die Ausnahmevorschrift über die Zulässigkeit betriebsbedingter Kündigungen an geänderte Verhältnisse anzupassen. Auch das Vertrauen des Arbeitnehmers in die Aufrechterhaltung seines Sonderkündigungsschutzes im bisherigen Umfang steht einer solchen Modifizierung der tariflichen Regelung nicht entgegen. Zwar hat das BAG seine frühere Rechtsprechung, wonach die auf Grund bisheriger Kollektivregelung vom Arbeitnehmer bereits fest erworbene Rechtsposition der Unkündbarkeit durch eine spätere tarifvertragliche Regelung nicht entzogen werden könne (BAG AP Nr 11 zu § 4 TVG Günstigkeitsprinzip, Bl 172 ff; vgl auch BAGE 43, 305, 310 f = AP Nr 9 zu § 1 TVG Rückwirkung), insoweit (wohl) aufgegeben, als ein Sonderschutz gegen Veränderungen sog wohlerworbener Rechte nicht mehr bestehe (vgl BAGE 78, 309, 326 f = AP Nr 12 zu § 1 TVG Rückwirkung; BAG AP Nr 20 zu § 1 TVG Tarifverträge: Lufthansa, Bl 1041). Vorliegend bedarf dies aber keiner abschließenden Entscheidung.
5. Sollte die neue Vereinbarung unwirksam sein, würde weiterhin die alte Vereinbarung nach dem GMTV gelten. Dabei sind die tatsächlichen Feststellungen des LSG zu § 21 Ziffer 5 GMTV für den Senat bindend; die Entscheidung des Berufungsgerichts über das Bestehen und den Inhalt von Gesetzen, auf deren Verletzung die Revision nicht gestützt werden kann, ist für die auf die Revision ergehende Entscheidung maßgebend (§ 202 SGG, § 560 Zivilprozessordnung). § 21 GMTV enthält kein nach § 162 SGG revisibles Recht. Denn der Geltungsbereich des Tarifvertrages erstreckt sich nicht über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus; räumlich gilt der Tarifvertrag nur für das Land Hessen (§ 1 Nr 1 GMTV). Zwar wäre § 21 GMTV dennoch revisibel, wenn nicht nur zufällig, sondern bewusst und gewollt inhaltlich gleiche Vorschriften außerhalb Hessens vereinbart wären. Ob das der Fall ist, hat der Senat jedoch mangels entsprechenden Vorbringens der Beteiligten nicht zu prüfen (BSGE 56, 45, 50 f = SozR 2100 § 70 Nr 1; BSGE 79, 197, 198 f = SozR 3-4100 § 69 Nr 3; SozR 4100 § 117 Nr 14 S 63; SozR 3-4100 § 117 Nr 15 S 103).
Unter Zugrundelegung des § 21 Ziffer 5 GMTV ist die Vorschrift des § 117 Abs 2 Satz 4 AFG einschlägig. Zur Aufhebung des Sonderkündigungsschutzes wird das Vorliegen eines für den betroffenen Arbeitnehmer geltenden Sozialplans nach § 21 Ziffer 5 Satz 2 GMTV gefordert. Nach den Feststellungen des LSG waren die persönlichen Voraussetzungen für den Eintritt des Kündigungsschutzes nach § 21 Ziff 5 Satz 1 GMTV im Falle der Klägerin gegeben. Der Klägerin konnte – den Fall der hier nicht relevanten Änderungskündigung einmal ausgenommen – nur noch aus wichtigem Grund gekündigt werden, die ordentliche Kündigung war ausgeschlossen. Das LSG hat zudem festgestellt, dass nur bei Vorliegen eines für den betroffenen Arbeitnehmer geltenden Sozialplans eine Ausnahme von diesem erweiterten Kündigungsschutz vorgesehen war. Damit ist die Vorschrift des § 117 Abs 2 Satz 4 AFG anwendbar. Wie der Senat bereits entschieden hat (BSGE 87, 250, 254 = SozR 3-4100 § 117 Nr 22), erfasst diese Regelung von vornherein nicht die Fälle, in denen der Arbeitgeber im Hinblick auf das Kündigungsschutzgesetz mangels ausreichender Kündungsgründe im Einzelfall nicht (wirksam) ordentlich kündigen kann und sich die Auflösung des Arbeitsverhältnisses durch Abfindung “erkaufen” muss. Erfasst sind vielmehr typisierend die Fälle, in denen die ordentliche Kündigung für den Arbeitgeber (vertraglich oder gesetzlich grundsätzlich ausgeschlossen, aber für den Fall (vertraglich oder gesetzlich) wieder eröffnet ist, dass die Kündigung von der Zahlung einer Abfindung abhängig ist. Ausgehend von der Systematik und Gesetzgebungsgeschichte hat die Rechtsprechung in typisierender Betrachtungsweise die Anwendbarkeit des § 117 Abs 2 Satz 4 AFG auf die Fälle erweitert, in denen dem Arbeitgeber die ordentliche Kündigung für den Fall des Bestehens eines Sozialplanes vorbehalten ist (ebenso BSG SozR 3-4100 § 117 Nr 15).
6. Keine andere Bewertung der Rechtslage ergibt sich, wenn die neue Vereinbarung als wirksam zugrunde gelegt wird. Hier war zwar von den Tarifvertragsparteien, dem Arbeitgeber und den Betriebsräten eine Vereinbarung geschlossen worden, durch die der bisherige tarifvertragliche Sonderkündigungsschutz für ältere Arbeitnehmer nach § 21 Ziffer 5 GMTV (Kündigung nur bei Vorliegen eines Sozialplans) vorübergehend außer Kraft gesetzt werden sollte. Jedoch setzt die neue Vereinbarung für die Kündigung selbst wiederum zwingend einen Sozialplan voraus; sie enthält damit im Ergebnis dieselbe Rechtsfolge: Sie hebt den Sonderkündigungsschutz zwar auf, aber nur unter der Voraussetzung, dass auch ein Sozialplan erstellt wird.
Dabei kann es dahinstehen, ob es sich bei dem neuen Vertrag um einen Tarifvertrag oder um eine Betriebsvereinbarung handelt. Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG (vgl BAGE 60, 94, 98; BAGE 103, 312, 314) sind Betriebsvereinbarungen wie Gesetze auszulegen. Das gilt auch für die Auslegung eines Sozialplans, der ebenfalls eine Betriebsvereinbarung ist (BAG AP Nr 2 zu § 112 BetrVG 1972, Bl 463 f). Dem schließt sich der Senat an. Damit ist maßgeblich auf den Wortlaut, und, falls dieser nicht eindeutig ist, auf den wirklichen Willen der Betriebsparteien nur insoweit abzustellen, als er in den Vorschriften seinen Niederschlag gefunden hat. Ferner sind der Gesamtzusammenhang und der Sinn und Zweck der Regelung zu beachten (vgl BAG AP Nr 112 zu § 112 BetrVG 1972; BAGE 103, 312, 314). Zur Auslegung einer Betriebsvereinbarung ist das Revisionsgericht berufen. Eine vom Berufungsgericht vorgenommene Auslegung ist – anders als bei der Auslegung des GMTV – für das Revisionsgericht nicht bindend. Das Gleiche gilt vorliegend für die Auslegung des neuen Vertrages, wenn er als Tarifvertrag zu werten wäre. Die §§ 3 und 5 der “Betriebsvereinbarung” haben Bundesrecht (§ 162 SGG) zum Inhalt, denn der Geltungsbereich der Vereinbarung erstreckt sich über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus. So gilt diese Vereinbarung nicht nur in Hessen, sondern auch in Bayern (vgl BSGE 50, 121, 123 f = SozR 4100 § 117 Nr 3).
Anhand dieser Maßstäbe kann die Vereinbarung nur dahin ausgelegt werden, dass bei Entfallen des Kündigungsschutzes ein Sozialplan zwingend vorgeschrieben, also eine Kündigung ohne einen solchen nicht zulässig ist. Zwar ist durch § 3 (Tariföffnung) der Vereinbarung die in § 21 Ziffer 5 GMTV vereinbarte Alterssicherung vorübergehend für die Zeit vom Abschluss der Vereinbarung (18. Februar 1998) bis einschließlich 31. März 1999 außer Kraft gesetzt worden. Daraus könnte zunächst geschlossen werden, dass für diese Arbeitnehmer ohne weitere Bedingungen die ordentliche Kündigungsmöglichkeit gemäß § 21 Ziffer 4 GMTV wieder eröffnet worden ist. Diese Regelung des § 3 kann aber nach dem Wortlaut sowie dem Sinn und Zweck der Vereinbarung entgegen der Auffassung des LSG nur im Zusammenhang mit § 5 (Sozialplan) der Vereinbarung vom 16. Februar 1998 gesehen werden. Denn die Parteien hatten zum Ausgleich bzw zur Milderung der Nachteile, die den zu entlassenden Arbeitnehmern durch die Betriebsänderung und die damit verbundenen Entlassungen entstehen, einen Sozialplan zu erstellen. Der am selben Tag als Anlage 3 beigefügte Sozialplan war sogar im Wege einer zusammengesetzten Urkunde integraler Bestandteil dieser Vereinbarung. Damit war die Außerkraftsetzung des Kündigungsschutzes durch § 3 der Vereinbarung untrennbar mit der Notwendigkeit des Aufstellens eines Sozialplans verbunden: Der Klägerin hätte ohne Sozialplan nicht gekündigt werden dürfen. Das bedeutet dann aber auch, dass die Regelung des § 117 Abs 2 Satz 4 AFG Anwendung findet.
7. Das LSG wird jedoch noch aufzuklären haben, ob die Arbeitgeberin der Klägerin aus wichtigem Grund (fiktiv) hätte kündigen können. Der Senat hat bereits entschieden (vgl BSGE 87, 250, 259 = SozR 3-4100 § 117 Nr 22), dass es aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht zulässig ist, die fiktive Kündigungsfrist von einem Jahr des § 117 Abs 2 Satz 4 AFG in Fällen anzuwenden, in denen die Möglichkeit bestanden hätte, dem betroffenen Arbeitnehmer mit sozialer Auslauffrist zu kündigen, wenn er unkündbar gewesen wäre. Für diesen Fall muss die in § 117 Abs 2 Satz 3 Nr 2 AFG vorgegebene ordentliche Kündigungsfrist mit der Folge gelten, dass ein Ruhen des Alg-Anspruchs nicht in Frage kommt, wenn tatsächlich die ordentliche Kündigungsfrist eingehalten worden ist. Dies hätte zur Folge, dass nicht auf die fiktive Kündigungsfrist von einem Jahr nach § 117 Abs 2 Satz 4 AFG abzustellen wäre, sondern die – teleologisch reduzierte – ordentliche Kündigungsfrist maßgebend wäre, die hier eingehalten worden ist.
Das LSG wird deshalb festzustellen haben, ob bei der Klägerin – die tariflichen Regelungen bzw die Regelungen des den GMTV ändernden Vertrages hinweggedacht – die Voraussetzungen für eine fristgebundene außerordentliche Kündigung vorgelegen hätten. Dies kann nach der Rechtsprechung des BAG gerechtfertigt sein, wenn eine Versetzung innerhalb des Unternehmens nicht möglich gewesen ist und der Ausschluss der ordentlichen Kündigung zur unzumutbaren Belastung des Arbeitgebers würde, weil dieser die Dienste nicht mehr in Anspruch zu nehmen in der Lage ist, andererseits aber über Jahre hinweg zur Zahlung des vereinbarten Entgelts verpflichtet bliebe (BAGE 48, 220, 226 = AP Nr 86 zu § 626 BGB; BAGE 88, 10, 17 = AP Nr 143 zu § 626 BGB).
Wegen der ohnedies erforderlichen Zurückverweisung der Sache an das LSG bedarf es keiner Entscheidung, ob der von der Beklagten gerügte Verfahrensfehler vorliegt. Das LSG wird auch ggf abschließend über die Kosten des Rechtsstreits zu entscheiden haben. Ggf wird das LSG auch zu beachten haben, dass die Klägerin durch die Rücknahme von Bescheiden schon teilweise Erfolg gehabt hat.
Fundstellen