Leitsatz (amtlich)
Eine selbständige Krankengymnastin unterliegt auch dann der Versicherungspflicht nach § 2 Abs 1 Nr 6 AVG, wenn sie in geringfügigem Umfang eine Angestellte beschäftigt.
Normenkette
AVG § 2 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1957-02-23, § 6 Fassung: 1924-05-28; AnVPflV 2 § 1 Fassung: 1932-03-14
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin als selbständige Krankengymnastin der Versicherungspflicht nach § 2 Abs 1 Nr 6 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) unterliegt, weil sie, wie die Beklagte meint, in ihrem Betrieb keine "Angestellten" beschäftigt.
Die Klägerin ist seit dem 1. November 1979 für den Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband als "mobile" Krankengymnastin tätig. Sie erhält für jede durchgeführte Behandlung ein "Bruttohonorar", von dem sie auch ihre - vom Landessozialgericht (LSG) der Art und dem Umfang nach nicht im einzelnen festgestellten - Unkosten zu bestreiten hat.
Die Klägerin beschäftigt regelmäßig für 7 bis 8 Stunden in der Woche eine "Bürohilfe", der sie monatlich einen Festbetrag von 300 DM zahlt.
Die Beklagte hat mit Bescheid vom 14. Februar 1980 und Widerspruchsbescheid vom 19. August 1980 die Klägerin als versicherungspflichtige Selbständige iS des § 2 Abs 1 Nr 6 AVG angesehen und von ihr Beiträge zur Angestelltenversicherung gefordert. Das Sozialgericht (SG) Stade hat mit Urteil vom 15. Januar 1981 die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat das erstinstanzliche Urteil und die angefochtenen Bescheide aufgehoben und Versicherungspflicht der Klägerin nach § 2 Abs 1 Nr 6 AVG verneint: Nach dem 2. Halbsatz dieser Vorschrift entfalle die Versicherungspflicht, wenn der Selbständige auch nur einen Angestellten beschäftige; dabei sei es gleichgültig, ob dessen Beschäftigung versicherungspflichtig oder, wie im vorliegenden Falle, nicht versicherungspflichtig sei. Das Gegenteil folge weder aus dem Wortlaut noch aus der Systematik des Gesetzes. Auch der soziale Schutzzweck des § 2 Abs 1 Nr 6 AVG rechtfertige es nicht, die Versicherungspflicht auf Selbständige auszudehnen, die, wie die Klägerin, eine Hilfskraft nur in geringem Umfange beschäftigten (Urteil vom 22. Januar 1982).
Gegen dieses Urteil richtet sich die - vom LSG zugelassene - Revision der Beklagten. Sie meint, es widerspreche der Zielsetzung des § 2 Abs 1 Nr 6 AVG, wenn bei der Abgrenzung der Versicherungspflicht des Selbständigen unberücksichtigt bleibe, in welchem Umfange er Angestellte beschäftige. Abzuheben sei vielmehr darauf, ob der selbständig Tätige nach dem Gesamtbild seiner Tätigkeit als Unternehmer erscheine. Das sei bei einer nur stundenweisen - wenn auch regelmäßigen - Beschäftigung einer Bürohilfe durch eine Krankengymnastin nicht der Fall. Eine Hilfsperson, die nur in geringem Umfange beschäftigt werde, sei einer vorübergehend beschäftigten vergleichbar, die nach allgemeiner Rechtsauffassung ebenfalls nicht als Angestellte iS des § 2 Abs 1 Nr 6 AVG anzusehen sei.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 22. Januar 1982 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 15. Januar 1981 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Zurückverweisung begründet; die Klägerin ist nicht schon deshalb von der Versicherungspflicht als Krankengymnastin ausgenommen, weil sie eine Bürohilfskraft in geringfügigem Umfange beschäftigt.
Die Versicherungspflicht der Klägerin nach § 2 Abs 1 Nr 6 AVG hängt davon ab, ob sie als eine in der Krankenpflege selbständig tätige Person in ihrem Betrieb keine "Angestellten" beschäftigt. Das LSG hat die Klägerin als eine selbständig tätige Krankengymnastin angesehen, ihre Versicherungspflicht aber im Hinblick auf die regelmäßige Beschäftigung einer Angestellten - ungeachtet des nur geringfügigen Umfanges dieser Beschäftigung - verneint.
Der Begriff des Angestellten ist in § 2 Abs 1 Nr 6 AVG nicht definiert. Er ist daher unter Berücksichtigung der Zielsetzung dieser Norm zu bestimmen, wobei - abweichend vom LSG - die in § 2 Abs 1 Nr 6, 2. Halbs AVG getroffene Ausnahmeregelung enger abzugrenzen ist. § 2 Abs 1 Nr 6 AVG (idF durch das AnVNG vom 23. Februar 1957) geht zurück auf § 4 AVG (idF vom 20. Dezember 1911). Der Gesetzgeber hatte in dem Entwurf dieser Vorschrift den Bundesrat ursprünglich ermächtigen wollen, "allgemein die Versicherungspflicht auf solche Personen (zu) erstrecken, welche eine ähnliche Tätigkeit wie die in § 1 (AVG) genannten auf eigene Rechnung ausüben" (Reichstags-Drucks Nr 1035, 12. Legislaturperiode, II.Session 1909/11). Ziel dieser Regelung sollte es sein, "Personenkreise, deren wirtschaftliche Lage im allgemeinen die gleiche ist wie die Lage der nach diesem Gesetze Versicherungspflichtigen", der Versicherungspflicht zu unterwerfen, soweit für sie "ein besonderes dringendes Bedürfnis nach einer auf Zwang beruhenden Fürsorge" zu bejahen ist (aa0 S 94). Als Beispiele wurden die selbständigen Krankenpfleger und -pflegerinnen genannt. Während der Beratung des Gesetzes wurden aber Bedenken geäußert, der Bundesrat könnte nach dem Wortlaut des § 4 AVG über die in der Begründung des Entwurfs abgesteckte Zielsetzung hinaus "alle Selbständigen unter die Versicherung bringen". Deshalb wurde beantragt und dann auch beschlossen, dem Bundesrat die Beschränkung aufzuerlegen, die Versicherungspflicht nur auf solche Personen auszudehnen, "die keine Angestellten in ihrem Betriebe beschäftigen" (Kommissionsbericht in Nr 1198 der genannten Reichstags-Drucks, S 13, Begründung zum Änderungsantrag Nr 939).
Diese Beschränkung der Ermächtigung ist bei der Neufassung des AVG (Gesetz vom 28. Mai 1924 - RGBl I 563) in dessen § 6 übernommen worden. Sie ist auch Tatbestandsmerkmal des § 1 der Verordnung vom 14. März 1932 (RGBl I 142) geworden, mit der die Versicherungspflicht der selbständig in der Krankenpflege Tätigen eingeführt worden ist. Schließlich ist sie bei der Einarbeitung dieser Bestimmung in das AVG als § 1 Abs 1 Nr 5 (idF der Vereinfachungsverordnung vom 17. März 1945 - RGBl I 41) inhaltlich nicht geändert worden und auch in das geltende Recht (§ 2 Abs 1 Nr 6 AVG idF des AnVNG vom 23. Februar 1957) eingegangen. Daneben hatte der Gesetzgeber die Versicherungspflicht der von § 4 bzw § 6 AVG aF und von § 2 Abs 1 Nr 6 AVG nF erfaßten Selbständigen ursprünglich noch von der Höhe ihres Jahresarbeitsverdienstes abhängig gemacht. Diese weitere Voraussetzung der Versicherungspflicht ist inzwischen für den genannten Personenkreis - ebenso wie für alle anderen Pflichtversicherten - entfallen. Erhalten geblieben ist dagegen für Selbständige iS des § 2 Abs 1 Nr 6 AVG - seit 1911 unverändert - als einziges und nach dem Willen des Gesetzgebers allein maßgebliches Kriterium für die Abgrenzung ihrer Versicherungspflicht, ob sie in ihrem Betrieb Angestellte beschäftigen.
Diese Abgrenzung trägt dem Umstand Rechnung, daß es sich bei den nach § 2 Abs 1 Nr 6 AVG (ähnlich bei den nach § 2 Abs 1 Nr 3 AVG) Versicherungspflichtigen um freiberuflich Tätige handelt, deren Tätigkeit durch persönliche Ausübung ihres Berufes gekennzeichnet ist; eine beliebige Verwendung von Hilfskräften mit dem Ziel der Vervielfältigung der eigenen Arbeitskraft ist mit der Ausübung eines freien Berufes - anders als in der gewerblichen Wirtschaft, die immer stärker zur Arbeitsteilung drängt - nicht vereinbar (BSGE 8, 256, 260; 20, 52, 54). Der Gesetzgeber hat indes berücksichtigt, daß sich auch ein freiberuflich Tätiger bei seiner Berufsausübung in gewissem Umfange der Hilfe von Dritten bedienen kann, ohne daß sich der Charakter seiner Tätigkeit dadurch ändert (vgl für das Steuerrecht die Regelung des § 18 Abs 1 Satz 3 Einkommensteuergesetz, wonach es für die Freiberuflichkeit ua von Krankengymnasten ausreicht, daß der Betriebsinhaber bei Beschäftigung von Hilfspersonen aufgrund eigener Fachkenntnisse leitend und eigenverantwortlich tätig wird).
Ob die Versicherungspflicht der von § 2 Abs 1 Nr 6 AVG erfaßten Selbständigen im Hinblick auf die seit dem 19. Oktober 1972 für alle selbständig Erwerbstätigen durch § 2 Abs 1 Nr 11 AVG eröffnete Möglichkeit, der Pflichtversicherung auf Antrag beizutreten, noch zeitgerecht ist, hat der Senat nicht zu entscheiden; bereits die Begründung zum Entwurf des § 4 AVG (aa0) läßt erkennen, daß der Gesetzgeber des Jahres 1911 von der Ermächtigung, Selbständige im Sinne des damaligen § 4 AVG in die Pflichtversicherung einzubeziehen, möglicherweise abgesehen hätte, wenn bereits damals eine allgemeine "freiwillige Selbstversicherung" oder eine Antragspflichtversicherung iS des § 2 Abs 1 Nr 11 AVG bestanden hätte. Das ändert aber an der dargelegten Abgrenzung des Normgehalts des § 2 Abs 1 Nr 6 AVG nichts; denn die Schaffung der Antragspflichtversicherung hat den Gesetzgeber bisher nicht veranlaßt, den § 2 Abs 1 Nr 6 AVG einzuschränken oder aufzuheben.
Im Schrifttum wird allgemein angenommen, daß die nicht regelmäßige (vorübergehende, gelegentliche) Beschäftigung von Angestellten die Versicherungspflicht der Selbständigen iS des § 2 Abs 1 Nr 6 AVG nicht berührt (vgl ua Peters/Mengert, Handbuch der Krankenversicherung, 17. Aufl, Anm 3 zu § 166 RVO, S 17/109; Zweng/Scheerer/Buschmann, Handbuch der Rentenversicherung, 2. Aufl, Anm B 1 zu § 2 AVG; vgl neuerdings auch § 2 Abs 2 Nr 1 des Künstlersozialversicherungsgesetzes vom 27. Juli 1981, BGBl I 705). Für diese Auffassung spricht, daß im Versicherungsverhältnis der Selbständigen eine gewisse Kontinuität gewährleistet sein muß, vor allem aber die Erwägung, daß die wirtschaftliche Lage der Selbständigen durch eine nur gelegentliche und für den Betrieb belanglose Beschäftigung von Hilfskräften nicht wesentlich beeinflußt wird (vgl auch Koch-Hartmann, Kommentar zum AVG, 2./3. Aufl, Bd IV, Erl C, S V 52 b).
Was hiernach für eine nicht regelmäßige (vorübergehende, gelegentliche) Beschäftigung von Angestellten durch einen Selbständigen gilt, muß nach Ansicht des Senats entsprechend gelten, wenn die Beschäftigung zwar regelmäßig, jedoch nur in geringem Umfange erfolgt; denn für die wirtschaftliche Lage der Selbständigen und die Art ihrer Tätigkeit als einer freiberuflichen - diese Umstände sollen nach dem Willen des Gesetzgebers letztlich über ihre Einbeziehung in den Kreis der Versicherungspflichtigen entscheiden - wird es im allgemeinen nicht oder kaum ins Gewicht fallen, ob Hilfskräfte nur gelegentlich (je nach Arbeitsanfall), dann aber für die volle tägliche oder wöchentliche Arbeitszeit, oder zwar mehr oder minder regelmäßig, jedoch nur für einen unbedeutenden Teil der üblichen Arbeitszeit (einige Stunden in der Woche) beschäftigt werden. Ob die Beschäftigung in der einen oder der anderen Form stattfindet, wird zudem häufig von Zufälligkeiten, zB der zeitlichen Verfügbarkeit der Hilfskräfte, abhängen. Im übrigen werden beide Arten einer Beschäftigung von Hilfskräften in der Praxis nicht selten ineinander übergehen oder schwer zu trennen sein, was die Verwaltung vor schwierige Ermittlungsaufgaben stellen würde und den Selbständigen Möglichkeiten einer Manipulation ihrer Versicherungspflicht geben könnte.
Alles dies gilt in besonderem Maße bei Beschäftigung eines einzigen Angestellten. Erreicht mithin seine Beschäftigung nach zeitlicher Dauer und Höhe des gezahlten Entgelts nur einen geringen Umfang, so hat dies auf die Versicherungspflicht des Selbständigen keinen Einfluß. Dabei können für die Beurteilung der Frage, ob der Umfang einer Beschäftigung noch als gering anzusehen ist, die Maßstäbe des § 8 Abs 1 Nr 1 SGB 4 herangezogen werden. Das bedeutet allerdings nicht, daß die Versicherungspflicht des Selbständigen davon abhängt, ob der von ihm beschäftigte Angestellte seinerseits versicherungspflichtig oder - wegen Geringfügigkeit der Beschäftigung nach § 8 Abs 1 Nr 1 SGB 4 - versicherungsfrei ist. Auf die Versicherungspflicht oder Versicherungsfreiheit des oder der Angestellten kommt es bei § 2 Abs 1 Nr 6 AVG (anders als zB bei § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 4 RVO) nicht an, wie das LSG zutreffend dargelegt hat. Anderenfalls würde, wenn ein geringfügig beschäftigter Angestellter eine weitere geringfügige Beschäftigung aufnimmt, womit er dann wegen Zusammenrechnung von Zeiten und Entgelten beider Beschäftigungen (§ 8 Abs 2 SGB 4) versicherungspflichtig würde, bei dem Selbständigen die Versicherungspflicht entfallen, ohne daß sich an seiner eigenen wirtschaftlichen Situation etwas ändert. Umgekehrt bliebe ein Selbständiger selbst dann versicherungspflichtig, wenn er mehrere oder sogar eine größere Zahl von Angestellten beschäftigte und jeder von ihnen wegen Geringfügigkeit seiner Beschäftigung versicherungsfrei wäre, obwohl die wirtschaftliche Lage eines solchen Selbständigen nicht mehr dem Leitbild der von § 2 Abs 1 Nr 6 AVG erfaßten Personen entspräche.
Im vorliegenden Fall bleibt der vom LSG festgestellte Umfang der Beschäftigung der für die Klägerin tätigen "Bürohilfe" (7 bis 8 Stunden wöchentlich bei einem festen Monatsentgelt von 300 DM) weit unter den in § 8 Abs 1 Nr 1 SGB 4 festgelegten Grenzwerten, so daß diese Beschäftigung den Umfang des Unternehmens der Klägerin weder in qualitativer noch in quantitativer Hinsicht und auch ihr Betriebsergebnis nicht in nennenswertem Umfange beeinflußt.
Die Klägerin unterliegt daher, sofern sie ihre Tätigkeit als Krankengymnastin selbständig ausübt, entsprechend dem Grundsatz des § 2 Abs 1 Nr 6, 1. Halbs AVG der Versicherungspflicht; die Voraussetzungen der Ausnahmeregelung des § 2 Abs 1 Nr 6, 2. Halbs AVG - Beschäftigung von Angestellten - sind bei ihr nicht erfüllt.
Trotzdem ist der Rechtsstreit noch nicht entscheidungsreif. Das LSG ist davon ausgegangen, daß die Klägerin selbständige Krankengymnastin ist. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG ist dies jedoch nicht zweifelsfrei. Die Klägerin ist nur für den Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband als "mobile Krankengymnastin" tätig. Es erscheint deshalb nicht ausgeschlossen, daß die Klägerin zu diesem Verband in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis steht. Sie wäre dann nicht als selbständige Krankengymnastin iS des § 2 Abs 1 Nr 6 AVG versicherungspflichtig; nur darüber ist aber in diesem Verfahren zu entscheiden. Die Entscheidung über eine Versicherungspflicht iS des § 2 Abs 1 Nr 1 AVG obliegt der Einzugsstelle und hätte im Verhältnis zum Arbeitgeber und unter dessen Beteiligung zu erfolgen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen
BSGE, 219 |
Breith. 1983, 790 |