Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 30. Oktober 2001 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Beklagte hat dem Beigeladenen zu 1. ua Halbwaisengrundrente nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) bewilligt. Die laufenden Leistungen wurden zunächst an das zum Amtsvormund bestellte Jugendamt der klagenden Stadt erbracht, die zugleich als örtlicher Träger der Jugendhilfe für den Beigeladenen zu 1. Vollzeitpflege nach §§ 27, 33 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) gewährte. Am 10. Dezember 1998 wurden die Pflegeeltern des Beigeladenen zu 1., die Eheleute C…, zum Vormund bestellt. Diese erhielten nunmehr als Personensorgeberechtigte die Erziehungshilfeleistungen der Klägerin. Die Zahlung der Versorgungsbezüge des Beigeladenen zu 1. erfolgte weiterhin durch den Beklagten an die Klägerin.
Mit Schreiben vom 3. Mai 2000 teilte der Beklagte der Klägerin mit, die Halbwaisengrundrente müsse ab sofort an die Eheleute C… als Vormund gezahlt werden, denn diese Leistung gehöre nach § 76 Abs 1 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) nicht zum anrechenbaren Einkommen. Die Klägerin widersprach dem: Nur eine Beschädigtengrundrente sei ausgenommen, nicht die hier zu zahlende Hinterbliebenenrente. Der Beklagte blieb bei seiner Auffassung und teilte der Klägerin durch Schreiben vom 17. Juli 2000 mit, ab 1. August 2000 werde die Zahlung der Halbwaisengrundrente vorsorglich eingestellt. Tatsächlich wurde die Rente für August 2000 noch überwiesen.
Das von der Klägerin angerufene Sozialgericht Karlsruhe (SG) hat den Beklagten “unter Aufhebung des Bescheides vom 3. 5. 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. 7. 2000” verurteilt, der Klägerin – antragsgemäß – ab 1. September 2000 deren gesetzlichen Erstattungsanspruch in Höhe der sich in entsprechender Anwendung von § 46 BVG ergebenden Halbwaisenrente zu erfüllen (Urteil vom 10. April 2001). Das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) hat die Berufung des Beklagten im Wesentlichen mit folgender Begründung zurückgewiesen (Urteil vom 30. Oktober 2001): Die Klägerin habe Anspruch auf Erstattung der von ihr erbrachten Jugendhilfeleistungen – auch – in Höhe der Halbwaisengrundrente, denn nach den im Jugendhilferecht entsprechend anzuwendenden Bestimmungen des BSHG zähle nur die Beschädigtengrundrente wegen ihrer besonderen – immateriellen – Zweckbestimmung nicht zum anrechenbaren Einkommen. Hinterbliebenenrenten dagegen hätten reinen Unterhaltsersatzcharakter und seien deshalb sozialhilferechtlich als Einkommen zu berücksichtigen.
Der Beklagte macht mit seiner Revision geltend: Das LSG habe § 1 Abs 8 OEG iVm §§ 45, 46 BVG sowie § 76 Abs 1 BSHG verletzt. Nach Auffassung des ehemaligen Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (BMA) und auch des jetzt zuständigen Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS) sowie nach der überwiegenden Meinung in der Kommentarliteratur zu § 76 BSHG seien Grundrenten unterschiedslos nicht als Einkommen anrechenbar. Zur Beschädigtengrundrente habe das Bundessozialgericht (BSG) entsprechend entschieden. Es sei nicht ersichtlich, weshalb zwischen Beschädigten- und Hinterbliebenengrundrenten ein Unterschied gemacht werden müsse. Soweit das BSG in einer Entscheidung aus dem Jahre 1979 (BSGE 49, 104) Funktionsunterschiede zwischen Hinterbliebenenrenten nach dem BVG und solchen nach dem OEG erkannt habe, sei das nur im Hinblick auf den – in jenem Urteil behandelten – Versagungsgrund der Unbilligkeit nach § 2 OEG geschehen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 30. Oktober 2001 sowie das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 10. April 2001 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen,
die Revision zurückzuweisen.
Sie verteidigt die Entscheidungen der Instanzgerichte.
Die Beigeladene zu 2. schließt sich dem Antrag des Beklagten an.
Der Beigeladene zu 1. hat sich nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.
Die Instanzgerichte haben für den der Klägerin zugesprochenen Erstattungsanspruch eine Rechtsgrundlage nicht benannt. Von den in §§ 102 ff Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) geregelten Erstattungsansprüchen der Leistungsträger untereinander kommt hier allein ein Anspruch des nachrangig verpflichteten Leistungsträgers in Betracht (§ 104 SGB X). Zwar besteht zwischen den Leistungen der Klägerin (Vollzeitpflege nach §§ 27, 33 SGB VIII) und des Beklagten (Hinterbliebenenrente nach dem OEG iVm dem BVG) kein Vorrang-/Nachrangverhältnis iS von § 104 Abs 1 Satz 1 SGB X; denn der Träger der Jugendhilfe hat Vollzeitpflege ohne Rücksicht auf Einkommen und Vermögen des Kindes oder Jugendlichen (brutto) zu erbringen (§ 92 Abs 3 iVm § 91 Abs 1 Nr 4 SGB VIII) und erhebt von diesem ggf einen Kostenbeitrag (§ 93 Abs 1 SGB VIII). Für diese Fälle nicht in dem an sich geforderten Rangverhältnis stehender Leistungen ordnet jedoch § 104 Abs 1 Satz 4 SGB X an, Satz 1 der Vorschrift entsprechend anzuwenden. Diese Bestimmung gestattet es dem Träger der Jugendhilfe, wegen eines solchen Kostenbeitrages ua auf einen Sozialleistungsanspruch des Kindes zuzugreifen und die direkte Auszahlung an sich zu verlangen. Dieser Auszahlungsanspruch ist im Streitfall mittels einer allgemeinen Leistungsklage (§ 54 Abs 5 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) gegenüber dem anderen Leistungsträger geltend zu machen, ohne dass einer der beiden beteiligten Träger darüber einen Verwaltungsakt zu erlassen hätte; denn diese stehen sich insoweit wie bei gewöhnlichen Erstattungsansprüchen nach §§ 102 ff SGB X gleichrangig gegenüber. Mithin ist der Sachverhalt einer einseitigen hoheitlichen Regelung nicht zugänglich (vgl BSG SozR 3-1300 § 104 Nr 13 S 44 f). Dementsprechend sind hier – wie bereits vom LSG erkannt – entgegen der Auffassung des SG die Schreiben des Beklagten vom 3. Mai und 17. Juli 2000 nicht als Verwaltungsakte zu qualifizieren.
Für den Auszahlungsanspruch nach § 104 Abs 1 Satz 4 SGB X reicht es nicht aus, dass der Anspruch des Trägers der Jugendhilfe auf Kostenbeitrag aus dem Einkommen des Kindes oder Jugendlichen (§ 93 Abs 3 SGB VIII) nur nach dem Gesetz besteht. Abgesehen davon, dass § 93 Abs 1 Satz 2 SGB VIII vom Jugendhilfeträger fordert, den Kostenbeitrag nach Maßgabe der Absätze 2 bis 4 dieser Vorschrift sowie des § 94 SGB VIII zu ermitteln und durch Leistungsbescheid festzusetzen (vgl zur Begründung dieser – zunächst in § 81 Abs 5 SGB VIII enthaltenen – Regelung BT-Drucks 11/5948 S 109), ist – trotz des insoweit etwas undeutlichen Gesetzestextes (“… ein Kostenbeitrag erhoben werden kann”) aus Gründen der Rechtssicherheit und eines effektiven Rechtsschutzes des Betroffenen auch im Rahmen des § 104 Abs 1 Satz 4 SGB X das Vorliegen eines entsprechenden Leistungsbescheides zu verlangen (vgl BSG SozR 3-1300 § 104 Nr 13 S 45 f).
Ob hier ein die Halbwaisengrundrente des Beigeladenen zu 1. betreffender Leistungsbescheid der Klägerin ergangen ist, lässt sich den im Berufungsurteil getroffenen Feststellungen nicht entnehmen. Das Revisionsgericht kann insoweit keine eigenen Feststellungen treffen (§ 163 SGG). Die Sache ist deshalb an das LSG zurückzuverweisen.
Sollte das LSG im wiedereröffneten Berufungsverfahren einen schriftlichen Leistungsbescheid gegen den Beigeladenen zu 1. ermitteln, wonach die Klägerin von diesem einen Kostenbeitrag unter Einrechnung der Grundrente fordert, so wird allein deshalb die Berufung des Beklagten zurückzuweisen und damit das erstinstanzliche Urteil – allerdings ohne den Ausspruch einer Aufhebung von “Bescheiden” des Beklagten – zu bestätigen sein. Die unter den Beteiligten streitige und im bisherigen Verfahren diskutierte Frage, ob auch die Hinterbliebenengrundrente nach OEG iVm BVG unter § 76 Abs 1 BSHG fällt, wäre dann – für den vorliegenden Fall – bereits im Verfahren über die Heranziehung zu den Kosten der Jugendhilfe geklärt.
Sollte das LSG keinen Leistungsbescheid oder nur einen mündlich – etwa von einem Bediensteten der Klägerin (Jugendhilfeträger) an einen anderen Bediensteten (Amtsvormund des Beigeladenen zu 1.) – erlassenen Verwaltungsakt über den Kostenbeitrag feststellen können, so wird das erstinstanzliche Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen sein. Dabei werden folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen sein: Ein Verwaltungsakt kann nach dem auch hier anzuwendenden § 33 Abs 2 Satz 1 SGB X schriftlich, mündlich oder in anderer Weise erlassen werden. Das Verwaltungsverfahrensrecht nennt nicht allgemein die Fälle, in denen ein Verwaltungsakt der Schriftform bedarf; dies überlässt es speziellen Vorschriften der einzelnen Sozialleistungsbereiche (vgl von Wulffen/Engelmann, SGB X, 4. Aufl 2001, § 33 RdNr 13). An einer ausdrücklichen Regelung dieser Art fehlt es für die nach § 93 Abs 1 Satz 2 SGB VIII zu erlassenden Leistungsbescheide. Ein solcher Verwaltungsakt wird jedoch aus Gründen der Rechtssicherheit jedenfalls dann in schriftlicher Form vorliegen müssen, wenn er als Grundlage für Vollstreckungsmaßnahmen des Jugendhilfeträgers dienen soll (vgl Schellhorn, SGB VIII, 2. Aufl 2000, § 93 RdNr 12). Nicht anders verhält es sich bei dem in § 104 Abs 1 Satz 4 SGB X vorgesehenen vollstreckungsähnlichen Zugriff auf Sozialleistungen des Kostenpflichtigen (vgl dazu BSG SozR 3-1300 § 104 Nr 13). Dies gilt insbesondere in solchen Fällen, in denen der in Anspruch genommene Leistungsträger – wie hier – die Berechtigung des Jugendhilfeträgers bestreitet, die von ihm gewährte Leistung als Einkommen zu berücksichtigen.
Das LSG wir auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 886201 |
Jugendhilfe 2003, 102 |
Jugendhilfe 2004, 97 |