Entscheidungsstichwort (Thema)
Zahlung von Pflichtbeiträgen bei Insolvenzereignis. keine Erstattung von Säumniszuschlägen und Nebenforderungen
Leitsatz (amtlich)
Nach § 208 SGB 3 in der ab 1.1.2004 geltenden Fassung sind Säumniszuschläge und andere Nebenforderungen nicht an die Einzugsstelle zu erstatten (Abgrenzung zu BSG vom 8.4.1992 – 10 RAr 5/91 = BSGE 70, 261 = SozR 3-2400 § 25 Nr 4).
Normenkette
SGB III § 208 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 Fassung: 2003-12-23, S. 1 Hs. 2 Fassung: 2003-12-23, § 434j Abs. 12 Nr. 5; SGB IV § 28d
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 4. November 2004 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.
Tatbestand
I
Streitig ist, ob die beklagte Bundesagentur für Arbeit (BA) bei einem Insolvenzereignis der Einzugsstelle neben rückständigen Beiträgen auch darauf entfallende Nebenforderungen zu zahlen hat.
Die Klägerin forderte im Februar 2004 als zuständige Einzugsstelle von der Beklagten die Zahlung von Pflichtbeiträgen zuzüglich Nebenforderungen für Arbeitnehmer eines insolventen Arbeitgebers, nachdem das zuständige Amtsgericht einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mit Beschluss vom 26. Januar 2004 mangels einer die Kosten des Verfahrens deckenden Masse abgelehnt hatte. Die Beklagte entsprach dem Begehren der Klägerin hinsichtlich der rückständigen Beiträge, verweigerte jedoch die Zahlung der Nebenforderungen (Säumniszuschläge in Höhe von 46,50 €, Mahngebühren von 13,40 €, insgesamt 59,90 €; Bescheid vom 4. Mai 2004).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 4. November 2004). Zur Begründung hat das SG ausgeführt: Die Klägerin könne ihr Begehren nicht mit Erfolg auf § 208 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) stützen. Zwar seien von dieser Vorschrift in ihrer bis 31. Dezember 2003 geltenden Fassung unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur Vorgängervorschrift des § 141n Arbeitsförderungsgesetz (AFG) auch die auf Beitragsansprüche entfallenden Nebenforderungen erfasst. Da das Insolvenzereignis nicht vor dem 1. Januar 2004 liege, komme jedoch die ab 2004 geltende Fassung des § 208 SGB III zur Anwendung, wonach die Zahlungspflicht der Agentur für Arbeit (AA) auf die bloßen Sozialversicherungsbeiträge beschränkt sei. Dies entspreche dem den Gesetzesmaterialien zu entnehmenden Willen des Gesetzgebers, der in der Neufassung zwar gesetzestechnisch nicht in der wünschenswerten Klarheit, jedoch im Ergebnis hinreichend Ausdruck gefunden habe.
Mit der vom SG zugelassenen und mit Zustimmung der Beklagten eingelegten Sprungrevision wendet sich die Klägerin gegen die Auffassung des SG, der Wille des Gesetzgebers, Säumniszuschläge und andere Nebenforderungen künftig von der Erstattung auszuschließen, komme im Gesetzeswortlaut noch zum Ausdruck. Der Einschub des Hinweises auf § 28d Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) und die Regelung, von der Zahlungspflicht seien Säumniszuschläge ausgenommen, “die infolge von Pflichtverletzungen des Arbeitgebers zu zahlen sind”, ließen zunächst die Auslegungsmöglichkeit zu, dass sich die Zahlungspflicht nach alter und neuer Fassung auf den Gesamtsozialversicherungsbeitrag beziehe, dass also – unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BSG – grundsätzlich auch Säumniszuschläge noch im Begriff des Sozialversicherungsbeitrags enthalten seien, dass jedoch nach der neuen Fassung die auf Pflichtverletzungen des Arbeitgebers beruhenden Säumniszuschläge ausgenommen seien. Gehe man aber davon aus, dass – wie es auch das SG verstanden habe – nur noch der reine Gesamtsozialversicherungsbeitrag nach § 28d SGB IV ohne Nebenforderungen zu zahlen sei, so könne die Ausnahmeregelung zu den infolge von Pflichtverletzungen zu zahlenden Säumniszuschlägen auch so verstanden werden, dass gerade diese von dem Ausschluss aus dem Gesamtsozialversicherungsbeitrag ausgenommen, also an die Einzugsstelle zu zahlen seien. Das SG habe deshalb den Inhalt des Rechtsbegriffs der Pflichtverletzung klären und ermitteln müssen, ob eine Pflichtverletzung vorgelegen habe.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des SG vom 4. November 2004 und den Bescheid der Beklagten vom 4. Mai 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, Säumniszuschläge und Mahngebühren zu zahlen, soweit sie sich auf Krankenversicherungsbeiträge beziehen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist unbegründet.
Von Amts wegen zu beachtende Verfahrensfehler liegen nicht vor. Die formalen Voraussetzungen der Sprungrevision nach § 161 Sozialgerichtsgesetz (SGG) – insbesondere Zulassung durch das SG, Einlegung der Revision unter Beifügung der Zustimmung des Gegners – sind erfüllt. Keine Bedenken bestehen hinsichtlich der Zulässigkeit der erhobenen Anfechtungs- und Leistungsklage ohne Vorverfahren (§ 78 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGG, vgl auch BSG SozR 4100 § 141n Nr 10). Der an sich zunächst gebotenen Beiladung des Rentenversicherungsträgers gemäß § 75 Abs 2 SGG (vgl BSG SozR 3-1500 § 75 Nr 9 mwN) bedarf es nicht, nachdem die Klägerin ihren Antrag auf denjenigen Teil der streitigen Nebenforderungen beschränkt hat, der sich auf die Beiträge zur Krankenversicherung bezieht.
Die beklagte BA ist, wie das SG zutreffend entschieden hat, nicht verpflichtet, an die Klägerin die geltend gemachten Säumniszuschläge und Mahngebühren zu zahlen. Ein Anspruch der Klägerin ergibt sich nicht aus § 208 SGB III in der hier anzuwendenden Fassung, die die Vorschrift durch das Dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2003 (BGBl I S 2848) erhalten hat.
Das SG ist zu Recht von der Anwendung der vorbezeichneten, ab 1. Januar 2004 geltenden Fassung des § 208 SGB III ausgegangen. Die weitere Anwendung der bis 31. Dezember 2003 geltenden alten Fassung über § 434j Abs 12 Nr 5 SGB III scheidet aus, da nach den unangegriffenen Feststellungen des SG das zuständige Amtsgericht den Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Arbeitgebers mit Beschluss vom 26. Januar 2004 abgelehnt hat, es also vorliegend um einen Anspruch geht, der auf ein nach dem 1. Januar 2004 liegendes Insolvenzereignis zurückzuführen ist. Dass die Klägerin als Einzugsstelle durch die Rechtsänderung zum 1. Januar 2004 und die auf den Eintritt des Insolvenzereignisses abstellende Übergangsvorschrift des § 434j Abs 12 Nr 5 SGB III unter Vertrauensschutzgesichtspunkten in unvertretbarer Weise benachteiligt sein könnte, ist nicht ersichtlich.
Nach § 208 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGB III in der ab 1. Januar 2004 geltenden Fassung zahlt die AA auf Antrag der zuständigen Einzugsstelle den Gesamtsozialversicherungsbeitrag nach § 28d SGB IV, der auf Arbeitsentgelte für die letzten dem Insolvenzereignis vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses entfällt und bei Eintritt des Insolvenzereignisses noch nicht gezahlt worden ist; davon ausgenommen sind nach Abs 1 Satz 1 Halbsatz 2 Säumniszuschläge, die infolge von Pflichtverletzungen des Arbeitgebers zu zahlen sind sowie Zinsen für dem Arbeitgeber gestundete Beiträge. Aus dieser Gesetzesfassung lässt sich ein Anspruch der Einzugsstelle auf Zahlung von Säumniszuschlägen und Mahngebühren nicht ableiten.
Maßgebend für die Auslegung einer gesetzlichen Vorschrift ist der zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, wie er sich aus dem Gesetzeswortlaut und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den die Vorschrift hineingestellt ist (vgl ua BVerfGE 1, 299, 312; BGHZ 46, 74, 76 mwN), wobei auch der Entstehungsgeschichte wesentliche Bedeutung zukommt.
Der Wortlaut des § 208 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGB III spricht zunächst für die Annahme, dass zu dem von der AA zu zahlenden “Gesamtsozialversicherungsbeitrag nach § 28d des Vierten Buches” Säumniszuschläge oder Mahngebühren nicht gehören; denn solche Nebenforderungen sind in § 28d SGB IV nicht erwähnt. Bestätigt wird diese Auslegung durch die Entstehungsgeschichte. In der Begründung des Gesetzentwurfs zur Änderung des § 208 SGB III mit Wirkung ab 1. Januar 2004 heißt es ausdrücklich, die Änderung stelle sicher, dass künftig nur noch der Gesamtsozialversicherungsbeitrag in der Definition des SGB IV an die Einzugsstellen zu zahlen sei; Säumniszuschläge, Stundungszinsen und Kosten der Zwangsvollstreckung würden mit der Änderung von der Erstattung ausgeschlossen (BT-Drucks 15/1515 S 90, zu Nr 115). Da der damals vorliegende Gesetzesentwurf mit der später Gesetz gewordenen Fassung übereinstimmt, sprechen Gesetzeswortlaut und Entstehungsgeschichte eindeutig für den Ausschluss der Nebenforderungen aus der den Gesamtsozialversicherungsbeitrag betreffenden Erstattungspflicht. Entscheidend ist, dass der Gesetzesgeber von einer änderungsbedürftigen Rechtslage ausging, nach der die AA auch Säumniszuschläge und andere Nebenforderungen zu zahlen hatte. Für die Auslegung der neuen Fassung des § 208 SGB III kann deshalb offen bleiben, ob der früheren Rechtsprechung, die noch zu § 141n AFG unter Geltung der Vorschriften der Konkursordnung (KO) ergangen und von einer Einbeziehung von Nebenforderungen ausgegangen ist (vgl BSG SozR 4100 § 141n Nr 6 und Nr 10; BSGE 70, 261, 262 f = SozR 3-2400 § 25 Nr 4), schon mit der Ablösung der KO durch die Insolvenzordnung die Grundlage entzogen worden ist (vgl Peters-Lange in Gagel, SGB III, Stand Juli 2004, § 208 RdNr 56). Nicht gefolgt werden kann somit der von der Revision zur Diskussion gestellten Auslegungsmöglichkeit, es seien unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BSG sowohl nach alter als auch nach neuer Fassung die Nebenforderungen im Gesamtsozialversicherungsbeitrag enthalten.
Zuzugeben ist der Klägerin allerdings, dass der Wortlaut des § 208 Abs 1 Satz 1 SGB III in der hier anzuwendenden Fassung insofern unklar ist, als Halbsatz 2 Ausnahmeregelungen hinsichtlich bestimmter Säumniszuschläge bzw Zinsen trifft. Sind – wie dargelegt – zB Säumniszuschläge schon nach Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 nicht in die Zahlungspflicht der AA einzubeziehen, so ist nicht ersichtlich, weshalb in Halbsatz 2 dann nochmals darauf hingewiesen wird, dass Säumniszuschläge, die infolge von Pflichtverletzungen des Arbeitgebers zu zahlen sind, ausgenommen werden sollen. Diese Unklarheit kann jedoch unter Berücksichtigung des Wortlauts des Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 iVm der Entstehungsgeschichte nicht zu einer Auslegung im Sinne der Auffassung der Klägerin führen. Vielmehr wird durch Halbsatz 2 die in Halbsatz 1 hinreichend klar zum Ausdruck kommende Absicht des Gesetzgebers, ua Säumniszuschläge aus der Zahlungspflicht der AA herauszunehmen, nicht beseitigt. Zu berücksichtigen ist dabei, dass schon der Wortlaut des Abs 1 Satz 1 Halbsatz 2 keineswegs zwingend für die Annahme spricht, die zuvor in Halbsatz 1 aufgestellte Regel – Gesamtsozialversicherungsbeitrag ohne Nebenforderungen – existiere überhaupt nicht oder Halbsatz 2 enthalte sogar eine Ausnahmeregelung in dem Sinne, dass etwa die besonders erwähnten, auf eine Pflichtverletzung des Arbeitgebers zurückzuführenden Säumniszuschläge anders als nach der Grundregel des Halbsatz 1 doch an die Einzugsstellen zu zahlen seien. Diese von der Revision angeführten Auslegungsmöglichkeiten kommen schon nach dem Wortlaut des Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1, insbesondere aber unter Berücksichtigung der erwähnten Gesetzesmaterialien nicht ernsthaft in Betracht.
Im Ergebnis ist deshalb § 208 Abs 1 Satz 1 SGB III so zu verstehen, dass nach Halbsatz 1 Nebenforderungen wie Säumniszuschläge von der Erstattung ausgeschlossen sind und dass der Ausnahmebestimmung in Halbsatz 2 lediglich klarstellende Bedeutung zukommt. Letzteres kann insofern als sinnvoll angesehen werden, als in § 28e Abs 4 SGB IV ua auch solche Säumniszuschläge in die dort geregelte Haftung einbezogen sind, die infolge einer Pflichtverletzung zu zahlen sind. Entgegen dem Vorbringen der Revision ist folglich auch nicht zu beanstanden, dass sich das SG nicht näher mit dem Begriff der Pflichtverletzung des Arbeitgebers iS des § 208 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 2 SGB III befasst und insoweit keine Ermittlungen durchgeführt hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG iVm § 154 Abs 2 Verwaltungsgerichtsordnung.
Fundstellen