Entscheidungsstichwort (Thema)
Verlautbarung der Urteilsformel. Selbstbindung des Gerichts
Leitsatz (amtlich)
Hat das Gericht ohne mündliche Verhandlung (SGG § 124 Abs 2) ein Urteil gefällt und gelangt die von allen - auch den ehrenamtlichen - Richtern unterschriebene Urteilsformel entsprechend dem Geschäftsgang an die Geschäftsstelle und gibt diese den Inhalt der Urteilsformel einem Beteiligten bekannt, ist das Gericht an das Urteil gebunden; es kann seine Entscheidung nicht mehr zurücknehmen und anders entscheiden. Ein gleichwohl in derselben Sache später ergangenes anderslautendes Urteil ist vom Rechtsmittelgericht aufzuheben.
Normenkette
SGG § 124 Abs 2 Fassung: 1953-09-03, § 125 Fassung: 1953-09-03, § 111 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 318
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts vom 5. Januar 1977 aufgehoben.
Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin hat sich durch ihre berufliche Beschäftigung am 29. August 1967 eine infektiöse Gelbsucht (Hepatitis) zugezogen (Berufskrankheit nach Nr 37 "Infektionskrankheit" der Anlage zur Sechsten Berufskrankheiten-Verordnung – 6.BKVO – vom 28. April 1961 – BGBl I 505). Der Beklagte gewährte ihr deswegen zuletzt durch Bescheid vom 25. Januar 1972 ab 1. März 1972 eine Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 v.H. Diesem Bescheid lag ein Gutachten der Dres. S und W von der Medizinischen Klinik I des Stadtkrankenhauses K vom 30. Dezember 1971 zugrunde. Durch Bescheid vom 25. Juni 1973 entzog der Beklagte die Rente mit Ablauf des Monats Juli 1973, weil die Erwerbsfähigkeit der Klägerin durch Folgen der Berufskrankheit nicht mehr in meßbarem Grade gemindert sei. Es seien nunmehr keine Zeichen für einen aktiven Leberprozeß mehr vorhanden; die chronisch persistierende Hepatitis sei ausgeheilt. Der Beklagte stützte sich dabei auf ein Gutachten des Facharztes für innere Krankheiten Dr. B in F vom 23. Mai 1973.
Mit der beim Sozialgericht (SG) ... erhobenen Klage, den Bescheid vom 25. Juni 1973 aufzuheben, hat die Klägerin geltend gemacht, daß der Bescheid nicht den formellen Voraussetzungen des § 1583 der Reichsversicherungsordnung (RVO) entspreche und zudem eine wesentliche Besserung in den Folgen der Berufskrankheit seit der letzten Feststellung nicht eingetreten sei. Das SG hat die Klage durch Urteil vom 23. Mai 1975 abgewiesen. Es ist, ua gestützt auf ein von ihm verwertetes Gutachten des Prof. Dr. S und des Dr. I von der Medizinischen Klinik II ... ... vom 3. Februar 1975, zu dem Ergebnis gekommen, daß eine Konsolidierung des Krankheitsverlaufs eingetreten sei. Nachdem die laborchemischen Werte seit drei Jahren konstant geblieben seien, müsse eine Ausheilung angenommen werden. Eine MdE in rentenberechtigtem Grade sei nicht mehr anzunehmen. Die absolute Sicherheit in der Beurteilung der chronischen Hepatitis sei zwar nur durch eine feingewebliche Untersuchung des durch Punktion gewonnenen Lebergewebes zu erbringen, jedoch sei die Klägerin mit dieser Untersuchung nicht einverstanden, so daß der absolut sichere Beweis nicht erbracht werden könne.
Dagegen hat die Klägerin bei dem ... Landessozialgericht (LSG) Berufung eingelegt. Sie hat erneut gerügt, daß der Bescheid vom 25. Juni 1973 in einem fehlerhaften Verfahren zustande gekommen sei. Der Bescheid lasse nicht erkennen, wer bei seiner Beschlußfassung mitgewirkt habe, er sei auch lediglich mit einem Handzeichen unterzeichnet und enthalte keine Angaben über die Höhe der noch verbliebenen MdE. Das vom SG verwertete Gutachten sei nicht entsprechend dem Beweisbeschluß von Prof. Dr. B, sondern von Prof. Dr. S erstattet worden. In den Folgen der Berufskrankheit sei keine wesentliche Besserung im Sinne des § 622 RVO eingetreten. In Fällen, in denen zur Begründung einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse Erfahrungssätze der medizinischen Wissenschaft herangezogen würden, sei das Vorliegen konkreter Anhaltspunkte dafür erforderlich, daß sich die medizinischen Erfahrungssätze auch im konkreten Fall bewahrheitet haben. Der bloße Zeitablauf genüge nicht für den Nachweis der wesentlichen Änderung. Durch Urteil vom 5. Januar 1977 hat das LSG die Berufung der Klägerin, mit der sie ihr Klagebegehren weiterverfolgt hat, zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Bescheid vom 25. Juni 1973 sei zwar in wesentlichen Teilen nicht vom Rentenausschuß des Beklagten beschlossen worden und trage auch nicht die erforderlichen Unterschriften von dessen Mitgliedern. Jedoch mache die Verletzung der Verfahrens- und Formvorschriften den Bescheid nicht nichtig; die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit dürften sich nicht allein darauf beschränken, allein die formellen Seiten nachzuprüfen, weil dies einer Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde gleichkäme. Der Bescheid sei vielmehr sachlich nachzuprüfen gewesen und erweise sich im Ergebnis als rechtmäßig. In den für die Feststellung der Leistung maßgeblich gewesenen Verhältnissen sei insofern eine wesentliche Besserung eingetreten, als im Hinblick auf die seit drei Jahren normalisierte Leberfunktion mit Wahrscheinlichkeit eine Ausheilung der chronisch-persistierenden Hepatitis angenommen werden könne. Das Gutachten des Prof. Dr. S und des Dr. I vom 3. Februar 1975 habe das SG, wenn auch nicht als Sachverständigengutachten im Sinne der §§ 106, 118 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) iVm § 411 der Zivilprozeßordnung (ZPO), so doch als ärztliche Äußerung gemäß § 128 SGG verwerten dürfen.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt und wie folgt begründet: Das LSG habe in dieser Sache bereits am 3. November 1976 ihrer Berufung stattgegeben gehabt. Dies sei ihrem Prozeßbevollmächtigten durch den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des LSG wiederholt, und zwar Ende November 1976 bei einer Vorsprache auf der Geschäftsstelle und Ende Dezember 1976 fernmündlich, mitgeteilt worden. Erst danach habe dann das LSG am 5. Januar 1977 nochmals und nunmehr zu ihren Ungunsten entschieden, wobei andere ehrenamtliche Richter mitgewirkt hätten. Die mehrfachen Verstöße im Verwaltungsverfahren führten zur Nichtigkeit des Bescheides vom 25. Juni 1973. Die vom LSG für seine gegenteilige Ansicht zitierten Entscheidungen, daß der Bescheid nur anfechtbar sei, träfen auf den vorliegenden Fall nicht zu. Denn sie habe keine Leistungsklage, sondern eine reine Anfechtungsklage erhoben. Im übrigen sei eine wesentliche Änderung in den Folgen der Berufskrankheit nicht eingetreten. Von einer Ausheilung der chronisch-persistierenden Hepatitis könne keine Rede sein.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des ... LSG vom 5. Januar 1977
aufzuheben,
hilfsweise,
das Urteil des ... LSG vom 5. Januar 1977,
das Urteil des SG ... vom 23. Mai 1975 und
den Bescheid des Beklagten vom 25. Juni 1973 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er trägt vor, daß die von der Klägerin erhobenen Verfahrensrügen fehl gingen. Beiden Beteiligten, die sich nach § 124 Abs 2 SGG mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt hatten, sei gemäß § 133 SGG ein ordnungsgemäßes Urteil zugestellt worden. Auch der der Klägerin zugestellte Bescheid vom 25. Juni 1973 sei formell nicht zu beanstanden. Er sei sowohl ordnungsgemäß unterschrieben als auch begründet worden und habe sich auf den Beschluß des Rentenausschusses bezogen. Selbst wenn aber formelle Mängel vorhanden sein sollten, führe dies nicht zur Aufhebung des Bescheides. Das LSG habe überdies zutreffend entschieden, daß in den für die Feststellung maßgebend gewesenen Verhältnissen eine wesentliche Besserung eingetreten war, die eine Entziehung der Rente gerechtfertigt habe.
Der Senat hat vom ... LSG einen Auszug aus dem Erledigungsregister 1976 lfd Nr ..., die Terminzettel der Sitzungen des ... Senats des ... LSG vom 3. November 1976 und 5. Januar 1977 sowie eine die Klägerin betreffende Suchkarteikarte beigezogen. Aufgrund des Beweisbeschlusses vom 16. März 1978 sind die Mitglieder des ... Senats des ... LSG – Vorsitzender Richter A und die Richter am LSG B und C-, der Rentner D sowie der Präsident des ... LSG aD ... durch das SG ... am 13. Juli 1978 als Zeugen vernommen worden. Hinsichtlich ihrer Aussagen wird auf das Protokoll des SG ... vom 13. Juli 1978 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist im wesentlichen begründet.
Das LSG hat in dieser Sache bereits am 3. November 1976 ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entschieden. Aus dem Terminzettel des ... Senats des ... LSG geht hervor, daß an diesem Tage der Rechtsstreit der Klägerin zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil heranstand. Es ist auch eine Entscheidung durch Urteil erfolgt. Der Vorsitzende des Senats, Vorsitzender Richter A, hat bei seiner Vernehmung durch den ersuchten Richter am 13. Juli 1978 ausgesagt, daß in der Sache der Klägerin am 3. November 1976 ohne mündliche Verhandlung beraten, das Ergebnis der Beratung in Gestalt einer Urteilsformel schriftlich niedergelegt und die Niederschrift von den Berufsrichtern und den ehrenamtlichen Richtern des Senats unterschrieben worden ist. Die Berufsrichter des Senats, Richter am LSG B und C, haben dies in ihren Aussagen vom 13. Juli 1978 bestätigt. Die Urteilsformel lautete auf Aufhebung des Urteils des SG ... vom 23. Mai 1975 und des mit der Klage angefochtenen Bescheides des Beklagten. Dies haben A und B ebenfalls am 13. Juli 1978 bekundet, wobei B, der in dieser Sache zum Berichterstatter bestellt war, ergänzend angab, er glaube, daß die Revision zugelassen worden ist. Richter am LSG C konnte sich zwar nicht an den Wortlaut der Urteilsformel sowie an die Daten des sozialgerichtlichen Urteils und des angefochtenen Bescheides erinnern. Jedoch hat er nach seinen Bekundungen vom 13. Juli 1978 dem Erledigungsregister und der Sitzungsrolle entnommen, daß die Klägerin Berufungsklägerin war, ein Urteil zu ihren Gunsten ergangen und die Revision zugelassen worden ist. Das stimmt auch mit den vom Senat beigezogenen Urkunden überein. Auf dem Terminzettel vom 3. November 1976 steht rechts neben der Bezeichnung der Parteien in der Sache der Klägerin nachträglich hinzugefügt "U + Rev. zugel.", was als Urteil zugunsten der Klägerin, Revision zugelassen" gedeutet werden kann. Dies wird durch die Eintragungen im Erledigungsregister und Gebührenverzeichnis (lfd Nr) bestätigt. Dort ist bei der Sache der Klägerin eingetragen, daß die Berufung am 3. November 1976 ohne mündliche Verhandlung durch Urteil mit vollem Erfolg für die Versicherte entschieden und die Revision zugelassen worden ist. Das entspricht auch den Eintragungen auf den Seiten 1 und 3 des Aktendeckels der Gerichtsakte des LSG, die von dem am 13. Juli 1978 als Zeugen vernommenen früheren Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des LSG D stammen. Er hat, wie er bekundete, diese Eintragungen aufgrund der handschriftlich vorliegenden Entscheidungsformel gemacht. Damit sieht der erkennende Senat als erwiesen an, daß der ... Senat des ... LSG am 3. November 1976 unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter ohne mündliche Verhandlung auf die Berufung der Klägerin das Urteil des SG ... vom 23. Mai 1975 und den Bescheid der Beklagten vom 25. Juni 1973 aufgehoben sowie die Revision zugelassen hat.
An dieses Urteil war ... der Senat des LSG gebunden, weil die Entscheidung dem Prozeßbevollmächtigten der Klägerin bekanntgegeben worden ist.
Während die Berufsrichter des ... Senats des ... LSG bei ihrer Vernehmung am 13. Juli 1978 angaben, nicht zu wissen, ob die von ihnen und den ehrenamtlichen Richtern am 3. November 1976 beschlossene und unterschriebene Urteilsformel an die Geschäftsstelle des Senats gelangt ist, sagte der damalige Urkundsbeamte der Geschäftsstelle D aus, daß er die Eintragungen auf dem Aktendeckel bzw in dem Erledigungsregister hinsichtlich der Entscheidung vom 3. November 1976 nur aufgrund der schriftlich vorliegenden Entscheidungsformel gemacht haben kann. Der Berichterstatter des LSG in dieser Sache, B, bekundete, daß es üblich war, die Sitzungsakten nach der Entscheidung der Protokollführerin zuzuleiten, von wo aus sie im allgemeinen zur Geschäftsstelle gelangten. Der erkennende Senat sieht es danach als bewiesen an, daß die von allen Richtern unterschriebene Urteilsformel, entsprechend dem damaligen Geschäftsgang, der Geschäftsstelle vorgelegen hat. Aufgrund der Aussage des Zeugen D ist ferner erwiesen, daß dem Prozeßbevollmächtigten der Klägerin der Inhalt der Urteilsformel durch den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bekanntgegeben worden ist. D hat in seinem Geschäftszimmer dem Prozeßbevollmächtigten der Klägerin im November 1976 an Hand des Terminzettels über die Sitzung vom 3. November 1976 mitgeteilt, daß in der Sache der Klägerin ein Urteil zu ihren Gunsten ergangen und die Revision zugelassen worden ist.
Es kann dahinstehen, ob das am 3. November 1976 durch den Senat des ... LSG beschlossene Urteil, das den Beteiligten nicht gemäß § 133 iVm § 63 SGG zugestellt worden ist, durch die Bekanntgabe der Urteilsformel an den Prozeßbevollmächtigten der Klägerin nach außen bereits wirksam geworden ist (vgl BGHZ 14, 39; 32, 370; VGH Mannheim NJW 1974, 1399; Dräger MDR 1963, 808,809 Fußnote 27). Zumindest ist aber durch die Verlautbarung für das Gericht eine Bindung eingetreten, die für die Beteiligten jede Ungewißheit darüber, ob und was das Gericht entschieden hat, ausschließt (Bayer VGH VGHE 27, 33; Meyer-Ladewig SGG § 125 Anm 4 und § 132 Anm 2; Eyermann/Fröhler, VwGO, 7. Aufl § 116 Anm 17 unter Hinweis auf BVerfGE 38, 220; Wieczorek ZPO 2. Aufl § 310 Anm A IIb2 und § 318 Anm A und AI). Dies bedeutet, daß der durch eine solchermaßen bekanntgegebene Entscheidung beschwerte Beteiligte schon vor der gemäß § 133 SGG vorzunehmenden Zustellung das zulässige Rechtsmittel einlegen kann (vgl VGHE 27, 37) und auch, weil dies möglich ist, daß das Gericht derselben Instanz seine Entscheidung nicht zurücknehmen oder ändern, also nicht mehr anders entscheiden kann (vgl BGHZ 32, 370, 375; Meyer-Ladewig aaO; Wieczorek aaO § 318 Anm AI).
Da das LSG an sein am 3. November 1976 beschlossenes und bekanntgegebenes Urteil bereits gebunden war, muß das entgegen dieser Bindung in derselben Sache am 5. Januar 1977 ohne mündliche Verhandlung mit anderem Ergebnis beschlossene und den Beteiligten gemäß § 133 SGG zugestellte Urteil aufgehoben werden. Für eine weitergehende Entscheidung, nämlich die Aufhebung des Urteils des SG ... und des Bescheides der Beklagten vom 25. Juni 1973, besteht in diesem Verfahren kein Anlaß; darüber hat das LSG im Sinne des Antrags der Klägerin bereits am 3. November 1976 entschieden, ohne daß dagegen von dem Beklagten, der durch jene Entscheidung allein beschwert ist, bisher das zugelassene Rechtsmittel eingelegt worden ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen