Verfahrensgang
SG Heilbronn (Urteil vom 22.10.1980) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 22. Oktober 1980 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Es ist streitig, ob dem Kläger – als Mann – Anspruch auf das vorzeitige Frauen-Altersruhegeld (§ 25 Abs. 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes –AVG–) zusteht.
Der 1919 geborene Kläger ist Witwer mit eigenem Hausstand und drei Kindern. Er beantragte im Juli 1979 bei der beklagten Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) die Gewährung vorgezogenen Altersruhegeldes nach § 25 Abs. 3 AVG, da seines Erachtens diese, dem gesetzlichen Wortlaut nach nur weiblichen Versicherten zustehende Leistung auch ihm gebühre. Diese Regelung begründe sich daraus, Doppelbelastungen durch Beruf und Haushaltsführung auszugleichen. Da auch er einer solchen Doppelbelastung ausgesetzt gewesen sei, müsse auch ihm vorgezogenes Altersruhegeld bewilligt werden. Er beruft sich zur Begründung seines Anspruchs auf Art. 4 der Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichberechtigung von Männern und Frauen im Bereich der Sozialen Sicherheit (Amtsblatt der EG vom 10. Januar 1979).
Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 22. August 1979 ab.
Seine hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Heilbronn mit Urteil vom 22. Oktober 1980 zurückgewiesen. Es führt in der Begründung seiner Entscheidung aus; Da der Kläger nicht weiblichen Geschlechts sei, komme die Gewährung vorgezogenen Altersruhegeldes nicht in Betracht, § 25 Abs. 3 AVG lasse sich nicht verfassungskonform dahin auslegen, daß auch männliche Versicherte seinem Anwendungsbereich unterfielen. Der Gesetzgeber habe bewußt nur weiblichen Versicherten diesen Anspruch einräumen wollen. Es bestehe auch keine Veranlassung, dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Frage zur Entscheidung zu unterbreiten, ob angesichts gewandelter sozialer Verhältnisse § 23 Abs. 3 AVG mit dem Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter (Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes –GG–) in Einklang stehe. Denn die Frage sei hier nicht entscheidungserheblich. Selbst wenn die vom Kläger für sein Begehren in Anspruch genommene Bestimmung verfassungswidrig wäre, so wäre sie nichtig, gewährte dem Kläger indessen keinen unmittelbaren Anspruch auf die von ihm begehrte Leistung.
Gegen dieses, die Sprungrevision zulassende Urteil wendet sich der Kläger mit Zustimmung der Beklagten. Er ist der Ansicht, angesichts gewandelter gesellschaftlicher Verhältnisse sei es geboten, auch männlichen Versicherten vorgezogenes Altersruhegeld nach § 25 Abs. 3 AVG zu gewähren. Denn dieser Personenkreis habe eine geringere Lebenserwartung. Es sei – soweit dem Klagebegehren nicht entsprochen werden könne – zuwenigst geboten, eine Entscheidung des BVerfG herbeizuführen, ob § 25 Abs. 3 AVG mit dem Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter (Art. 3 Abs. 2 GG) vereinbar ist.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Heilbronn vom 22. Oktober 1980 sowie des Bescheides der Beklagten von 22. August 1979 die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab 1. Dezember 1979 Altersruhegeld zu gewähren,
hilfsweise:
das Verfahren auszusetzen und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber einzuholen, ob § 25 Abs. 3 AVG insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar ist, als nur weibliche Versicherte mit Vollendung des 60. Lebensjahres Altersruhegeld gewährt erhalten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beklagte ist der Ansicht, die unterschiedliche Behandlung der Frauen gegenüber Männern ergebe sich vorrangig aus den natürlichen Unterschieden der körperlichen Belastbarkeit. Diese hätten sich auch nicht aufgrund der gesellschaftlichen Wandlungen verändert. Da ferner die Frauen nach wie vor die Hauptlasten der Haushaltsführung zu tragen hätten, solle ihnen zumindest ein früheres Ausscheiden aus dem Berufsleben ermöglicht werden.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist zulässig, sachlich jedoch nicht begründet.
Für einen Anspruch des Klägers auf vorzeitiges Altersruhegeld liefert § 25 Abs. 3 AVG (= § 1248 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung –RVO–) keine Rechtsgrundlage. Nach dieser Vorschrift erhält Altersruhegeld die Versicherte, die das 60. Lebensjahr vollendet und die Wartezeit von 180 Kalendermonaten erfüllt hat, wenn sie in den letzten 20 Jahren überwiegend eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat. Aus diesem Wortlaut und aus dem Wortsinn ergibt sich zweifelsfrei, daß nur weibliche Versicherte das vorzeitige Altersruhegeld beanspruchen können.
Das Begehren des Klägers wäre sonach nur dann begründet, wenn § 25 Abs. 3 AVG trotz und entgegen seinem Wortlaut und Wortsinn dahin umgedeutet werden könnte, daß Männer wie Frauen nach Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen bei Vollendung des 60. Lebensjahres das vorzeitige Altersruhegeld beanspruchen könnten.
Eine solche Umdeutung verbietet sich. Sie überschritte die Grenzen der den Gerichten möglichen Auslegung eines Gesetzes. Gesetze lassen sich naturgemäß nur dann verfassungskonform auslegen, wenn sie mehrere Auslegungsmöglichkeiten zulassen, von denen sich eine als verfassungsmäßig und die andere als verfassungswidrig erweist. Unter diesen Umständen gebietet der Vorrang der Verfassung vor dem einfachen Gesetzesrecht, diejenige Auslegung vorzuziehen, die mit dem Grundgesetz übereinstimmt (BVerfGE 33, 52, 69; 51, 304, 323; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl, 329). Die Grenzen verfassungskomformer Auslegung sind jedoch überschritten, wenn sie sich über Wortlaut und Bedeutungszusammenhang einer gesetzlichen Vorschrift hinwegsetzt (BVerfGE 8, 28, 34).
Würde § 25 Abs. 3 AVG dahin ausgelegt, daß auch männliche Versicherte Anspruch auf das vorzeitige Altersruhegeld hätten, so wäre dies im übrigen nicht nur mit dem Wortlaut, sondern auch mit dem Regelungszweck, der Entstehungsgeschichte und dem sich daraus ergebenden inneren Bedeutungszusammenhang der Vorschrift nicht vereinbar: Das vorzeitige Altersruhegeld für weibliche Versicherte ab vollendetem 60. Lebensjahr wurde durch das Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz (AnVNG) vom 23. Februar 1957 (BGBl I, 88) geschaffen. Grund hierfür war, „daß die versicherte Frau einen Doppelberuf als Arbeitnehmer und Hausfrau erfüllt hat, der eine frühzeitige Abnutzung der Kräfte und damit frühzeitige Berufsunfähigkeit hervorruft” (BT-Drucks 2/3080, 10). Der Gesetzgeber wollte mit § 25 Abs. 3 aaO also dem stärkeren Kräfteverbrauch Rechnung tragen, dem seiner Ansicht nach die Frauen unterlagen, die zumeist neben ihren häuslichen Verpflichtungen lange Jahre und noch im vorgerückten Alter einer Berufstätigkeit nachgegangen sind (so der erkennende Senat in BSGE 46, 214, 216 = SozR 2200 § 1265 Nr. 33; Zweng/Scheerer, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 2. Aufl, § 1248 RVO Anm. 3 D). Die Regelung zielt im Ergebnis darauf ab, den begünstigten Frauen zu gestatten, sich einige Jahre früher als ein vergleichbarer männlicher Versicherter aus dem Erwerbsleben zurückzuziehen und in der Form der Altersrente die Früchte ihrer Lebensarbeit in Anspruch zu nehmen (der erkennende Senat aaO, 216).
Nach allem läßt sich dem § 25 Abs. 3 AVG nicht entnehmen, daß durch ihn auch ein männlicher Versicherter berechtigt sein könnte.
Entgegen der Auffassung des Klägers ist § 25 Abs. 3 AVG auch nicht verfassungswidrig.
Der Gesetzgeber war bei Schaffung der Vorschrift, wie dargestellt, der Auffassung, daß die dort näher beschriebenen versicherten Frauen wegen der Doppelbelastung durch Beruf und Haushalt im Vergleich zu versicherten Männern im Wege der Vorverlegung der Altersgrenze für das Altersruhegeld begünstigt werden sollten. Unterstellt, diese – tatsächlichen – Annahmen des Gesetzgebers über eine Doppelbelastung der Frau durch Beruf und Haushalt träfen zu, so wäre eindeutig, daß § 25 Abs. 3 AVG nicht gegen den Grundsatz der Gleichberechtigung und Gleichbehandlung von Mann und Frau nach Art. 3 Abs. 2 GG verstieße: Die tatsächliche Verschiedenheit der gerügten Sachverhalte – hier Frauen mit Doppelbelastung, hier Männer ohne eine solche Belastung – ließe die unterschiedliche Regelung des Gesetzgebers nicht nur nicht willkürlich, sondern sinnvoll erscheinen.
Der Kläger scheint dies im Grundsatz auch nicht anzuzweifeln. Er ist aber der Ansicht, daß sich die tatsächlichen Verhältnisse seit Schaffung des § 25 Abs. 3 AVG in der Weise geändert haben, daß zwischen versicherten Frauen und Männern nunmehr kein wesentlicher Unterschied mehr besteht.
Diesem Angriff gegen die tatsächlichen Annahmen des Gesetzgebers und sein Festhalten hieran trotz angeblich gewandelter Verhältnisse könnte der Senat nur dann nähertreten, wenn diese offenkundig fehlerhaft wären. Dies folgt schon daraus, daß es sich um generelle Tatsachen aus einem vielschichtigen gesellschaftlichen Befund, der beruflichen Rollenteilung zwischen Mann und Frau handelt. Solche komplizierte gesellschaftliche Befunde entziehen sich naturgemäß einer ganz genauen Festlegung und Beschreibung, zumal ein geordnetes und eindeutiges Verfahren, wie sie zu ermitteln sind, nicht besteht. Da die Gerichte insoweit, wie nicht näher belegt zu werden braucht, über keine besseren Erkenntnisquellen und Aufklärungsmöglichkeiten verfügen als der Gesetzgeber, könnten sie dessen Annahmen über die zu regelnden generellen sozialen Verhältnisse nur dort beanstanden, wo sie ganz offensichtlich irrig sind.
Der Gesetzgeber ist daher auch berechtigt, sich mit begründeten Annahmen zu begnügen, wobei er in bezug auf das zu regelnde gesellschaftliche Problem die herrschenden Anschauungen und Wertungen berücksichtigen darf. Von besonderem Gewicht sind hierbei naturgemäß diejenigen Anschauungen und Wertungen, die in anderen, schon bestehenden Gesetzen mit Anspruch auf allgemeine Beachtung niedergelegt oder zumindest klar zu erkennen sind.
Zieht man in Betracht, daß der Gesetzgeber im Jahre 1957 in bezug auf die Frage eines vorzeitigen Altersruhegeldes für Frauen, die das 60. Lebensjahr vollendet, eine Versicherungszeit von mindestens 180 Monaten zurückgelegt und in den letzten 20 Jahren überwiegend pflichtversichert waren, Sachverhalte zu erfassen hatte, die lange Jahre in die Vergangenheit zurückreichen, so lassen sich seine – oben dargestellten – Annahmen über unterschiedliche Belastungen durch Beruf und Haushalt bei Männern und Frauen durchaus hören. Noch bis zum Jahre 1976 sah das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) in seinem § 1356 aF vor, daß die verheiratete Frau ihrer Pflicht zum ehelichen Unterhalt wesentlich durch Haushaltsführung nachkomme, wogegen die Ausübung einer eigenen Erwerbstätigkeit eine von der Zustimmung des Ehemannes abhängige Ausnahme sein sollte (BVerfGE 17, 1, 19; BGH NJW 1957, 537). Schon diese gesetzlich angeordnete Rollenverteilung zwischen Mann und Frau in bezug auf eine Berufstätigkeit einerseits und auf die Führung des Haushalts andererseits, die in der Vergangenheit mit Sicherheit nicht eines engen Bezugs zur Realität entbehrt hatte, berechtigte den Gesetzgeber des AnVNG im Jahre 1957, von den bezeichneten gesellschaftlichen Ausnahmen auszugehen (zur Frage der langsamen Veränderung in der beruflichen Rollenaufteilung zwischen Mann und Frau im Lichte des Art. 3 GG vgl. im einzelnen BVerfGE 39, 169, 182 = SozR 2200 § 1266 Nr. 2). Vor diesem tatsächlichen, auch rechtstatsächlichen Hintergrund war der Gesetzgeber seinerzeit legitimiert, die Alters Sicherung jener Frauen zu verbessern, die abweichend vom gesetzlichen Leitbild des § 1356 BGB aF sowohl den Haushalt führten wie einer Erwerbstätigkeit nachgingen. Rechnet man hinzu, daß der Gesetzgeber bei der Gewährung von Vergünstigungen typisierende Regelungen treffen darf (BVerfGE 9, 20, 23; 11, 50, 60; 11, 245, 253; 17, 1, 23), so war er auch befugt, die Mitbegünstigung von Frauen in Kauf zu nehmen, die der geschilderten kräftezehrenden Doppelbelastung nicht unterlagen (zB unverheiratete Frauen ohne Familie uä). Nun mag sein, daß sich die berufliche Rollenteilung zwischen Mann und Frau seit 1957 geändert hat (vgl. BT-Drucks 7/650, 97; § 1356 idF des Ersten Gesetzes zur Reform des Ehe- und Familienrechts – 1. EheRG – vom 14. Juli 1976 – BGBl I, 1421; vgl. auch BVerfGE 39, 169, 182). Wie weit eine solche Änderung gediehen sein kann, ist aus den oben dargestellten Gründen nicht genauer festzulegen. Dies kann für den vorliegenden Fall auch dahinstehen. Wie schon angedeutet, haben die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung den Versicherten bei Eintritt des Versicherungsfalles in der Regel Leistungen aufgrund und unter Berücksichtigung von Sachverhalten zu gewähren, die weit in die Vergangenheit zurückreichen; bei der Bewilligung des vorzeitigen Frauenaltersruhegeldes nach § 25 Abs. 3 AVG hat der Rentenversicherungsträger Leistungen aufgrund von Versicherungszeiten zu gewähren, die die Versicherte vor mindestens 15 Jahren zurückzulegen begonnen hat; daß Bewerber um Altersruhegeld ein Versicherungsleben von 30 oder mehr Jahren zurückgelegt haben, ist nicht selten (vgl. zB § 25 Abs. 1 iVm Abs. 7 Satz 1 AVG = § 1248 Abs. 1 iVm Abs. 7 Satz 1 RVO). Der Gesetzgeber darf daher davon ausgehen, daß er mit § 25 Abs. 3 aaO auch heute noch in weitem Umfang Frauen begünstigt, die während ihres Versicherungslebens die Doppelbelastung aus Erwerbstätigkeit und Haushalt hinzunehmen gehabt haben. Es läßt sich daher nicht sagen, daß der Gesetzgeber durch Art. 3 Abs. 2 GG jetzt schon genötigt gewesen wäre, wegen eines Wandels der gesellschaftlichen Wirklichkeit das vorzeitige Frauen-Altersruhegeld von Grund auf, etwa im Sinne des Klägers neu zu regeln (zur Verfassungsmäßigkeit von sozialrechtlichen Regelungen, die auf die Bewältigung von in der Vergangenheit liegenden Verhältnissen und Problemen zielen, vgl. BVerfGE 43, 213, 230 = SozR 5050 § 22 Nr. 4).
Das angefochtene Urteil trifft nach allem zu, so daß die Revision des Klägers hiergegen als unbegründet zurückzuweisen war.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten (§ 193 des Sozialgerichtsgesetzes).
Fundstellen