Entscheidungsstichwort (Thema)
Übergangsrecht. DDR-Recht. Berufskrankheit. Kausalitätsnachweis. generelle Geeignetheit. Gruppentypik. Kehlkopfkrebs. ionisierende Strahlung
Leitsatz (amtlich)
Kehlkopfkrebs, der durch die Einwirkung ionisierender Strahlen am Arbeitsplatz verursacht worden ist, ist eine Berufskrankheit nach Nr 92 BKVO-DDR.
Normenkette
SGB VII §§ 212, 215; BKVMBVDBest 1 Nr. 92; BKV Anl. 1 Nr. 2402; RVO § 1150 Abs. 2
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beigeladenen gegen das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 27. März 2003 wird zurückgewiesen.
Die Beigeladene hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Der im früheren Uran-Bergbau der DDR eingesetzte Kläger begehrt die Anerkennung und Entschädigung eines Larynxkarzinoms als Berufskrankheit (BK).
Der 1925 geborene Kläger erkrankte im Jahre 1985 an einem Plattenepithelkarzinom der Stimmbänder des Kehlkopfes (Larynxkarzinom). Im Juni 1991 beantragte er erstmals dessen Anerkennung und Entschädigung als BK nach Nr 92 der Liste in der Anlage der 1. Durchführungsbestimmung vom 21. April 1981 (GBl DDR I Nr 12 S 139; ber Nr 25 S 312) zur Verordnung über die Verhütung, Meldung und Begutachtung von Berufskrankheiten vom 26. Februar 1981 (GBl DDR I Nr 12 S 137 ≪BKVO-DDR≫) – “Bösartige Neubildungen oder ihre Vorstufen durch ionisierende Strahlung”. Nach den Feststellungen des Technischen Aufsichtsdienstes (TAD) der Beklagten hat er von November 1951 bis September 1956 als Schweißer unter Tage im Objekt , Schacht , der SAG/SDAG Wismut 4,8 Jahre unter strahlenexponierten Bedingungen gearbeitet. Seine Gesamtäquivalentdosis für die Kehlkopfschleimhaut betrug 38,76 Sievert (Sv), die Exposition gegenüber Radon- und Radonzerfallsprodukten 551 WLM (working level months). Den Antrag lehnte die Beigeladene mit bestandskräftigem Bescheid vom 13. Juli 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. August 1993 (auf der Grundlage der Gutachten und Stellungnahmen von Dr. L.…, Dr. La.…, Prof. Dr. A.…, Dr. N.…, Dr. K.…) ab, da ein ursächlicher Zusammenhang der Erkrankung mit den Strahlenbelastungen am Arbeitsplatz nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit bestehe.
Streitgegenständlich ist der Überprüfungs- und Neufeststellungsantrag des Klägers von Oktober 1995 nach Maßgabe des § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X), den die Beklagte mit Bescheid vom 21. April 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Juli 1998 ablehnte. Mittlerweile lag das im Auftrag des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften erstellte “Gutachten Jacobi II” (W. Jacobi und P. Roth, GSF – Forschungszentrum, Institut für Strahlenschutz, März 1995, Risiko- und Verursachungswahrscheinlichkeit von extrapulmonalen Krebserkrankungen durch berufliche Strahlenexposition von Beschäftigten der ehemaligen Wismut AG) vor. Auf dessen Grundlage gingen – unter Verwertung der vom TAD festgestellten individuellen Belastungsdaten – die bereits zum Erstantrag gehörten Sachverständigen Prof. Dr. A.… im Gutachten vom 14. März 1997 und Dr. N.… in der gewerbeärztlichen Stellungnahme vom 27. Mai 1997 – unter Aufgabe der bisher vertretenen Meinung – von einer Verursachungswahrscheinlichkeit der Krebserkrankung von 66 % aus und schlugen deren Anerkennung und Entschädigung (nach einer MdE um 50 vH) vor. Die Beklagte schloss sich dem jedoch nicht an, weil der nach ihrer Auffassung erforderliche epidemiologische Nachweis für ein vermehrtes Auftreten bösartiger Neubildungen an Organen außerhalb der Lunge – speziell am Kehlkopf – infolge der Strahlenbelastung am Arbeitsplatz bisher nicht geführt worden sei (so genannte “generelle Kausalität”).
Mit Urteil vom 14. Mai 2001 hat das Sozialgericht Chemnitz (SG) die Bescheide der Beklagten aufgehoben und die Beigeladene verpflichtet, “das Kehlkopfkarzinom als Berufskrankheit Nr 92 BKVO-DDR anzuerkennen und ab 1. Januar 1992 nach einer MdE von 20 vH zu entschädigen”. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen: Im Anschluss an das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. med. H.… vom 12. Januar 1999 hätten sich die Folgen des Tumorleidens gebessert, für den Leistungszeitraum, der nach Maßgabe des § 44 Abs 4 SGB X zu begrenzen sei, sei nur noch eine MdE um 20 vH angemessen. Mit Urteil vom 27. März 2003 hat das Sächsische Landessozialgericht (LSG) die Berufung der Beigeladenen gegen das Urteil des SG zurückgewiesen: Da der Kläger bereits im Jahre 1985 erkrankt sei, sei übergangsrechtlich die BK-Nr 92 BKVO-DDR einschlägig. Es komme nicht darauf an, dass nach der Verwaltungspraxis der DDR extrapulmonale Krebserkrankungen von Wismut-Beschäftigten nicht als BK anerkannt worden seien, denn “zweifelsfrei” (Bezugnahme auf BSG Urteil vom 4. Dezember 2001 – B 2 U 35/00 R – SozR 3-8440 Nr 50 Nr 1) lasse sich eine solche “Ablehnungspraxis” nicht feststellen, weil zB diese Erkrankungen nicht ins Feststellungsverfahren gelangt seien. Zudem sei im DDR-Standardwerk “Berufskrankheiten” (Konetzke/Rebohle/Heuchelt, Berlin, 3. Aufl 1988, S 153) auch eine Beteiligung der oberen Atemwege am Krankheitsgeschehen angesprochen. Anders als bei der Feststellung einer so genannten Quasi-BK komme es hier auf das Vorliegen epidemiologischer Studien, die ohnehin in der Fragestellung kaum zu definieren seien und wenig Aussagekraft hätten, nicht an. Vielmehr habe der Verordnungsgeber der DDR die BK-Nr 92 BKVO-DDR “offen” formuliert, dh grundsätzlich seien alle bösartigen Neubildungen entschädigungsfähig. Insoweit liege ein Rechtssetzungsakt vor, der nur in begrenztem Umfange einer gerichtlichen Nachprüfung unterliege. Innerhalb seines normativen Ermessens könne der Verordnungsgeber auch ordnungs- und sozialpolitische Gesichtspunkte einfließen lassen, er müsse sich auch nicht der herrschenden medizinischen Lehrmeinung anschließen. Es liege deshalb im Rahmen seines zulässigen Ermessens, Krankheiten in die BK-Liste aufzunehmen, deren konkrete epidemiologische Signifikanz zwar noch nicht nachgewiesen sei, die jedoch nach allgemeiner Meinung in einer besonderen Nähe zum Risiko gesehen würden. Mit der Verknüpfung “bösartige Neubildungen” … “durch ionisierende Strahlung” sei vom Verordnungsgeber bereits die generelle Kausalität festgestellt worden. Für Verwaltung und Gerichte bleibe dann nur noch die Prüfung der Kausalität im Einzelfall. Ob dies entsprechend auch für die (bundesdeutsche) BK Nr 2402 der Anlage 1 zur BKVO gelte, könne dahingestellt bleiben. Hinsichtlich der individuellen Verursachungswahrscheinlichkeit schließe sich der Senat den überzeugenden Darlegungen der Professoren Dr. A.… und Dr. H.… an, die sich auf die Methodik im Gutachten Jacobi II stützten. Der dort vertretene “dosimetrische Lösungsweg” entspreche dem derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand. Dies sei den fachwissenschaftlichen Einzelbeiträgen, dokumentiert im Berichtsband über das Fachgespräch in Hennef am 12. Februar 1998 (BK-Report 4/99), zu entnehmen. Das im Gutachten Jacobi II aufgezeigte Rechenmodell garantiere eine Gleichbehandlung und ermögliche die Einbeziehung aller Arten von Krebserkrankungen.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt die Beigeladene die Verletzung des § 9 Abs 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) iVm Nr 92 der BKVO-DDR. Die BK “bösartige Neubildungen oder ihre Vorstufen durch ionisierende Strahlung” sei – ebenso wie die nahezu inhaltsgleiche bundesdeutsche BK Nr 2402 der Anlage 1 zur BKVO – allgemein formuliert. Welche bösartigen Neubildungen erfasst seien, sei zunächst durch Auslegung zu ermitteln, wobei der Verwaltungspraxis der DDR – entgegen der Meinung des LSG – besonderes Gewicht beizumessen sei. Extrapulmonale Krebserkrankungen seien von den DDR-Behörden niemals als BK anerkannt worden, Leiterkrankung sei allein die “Schneeberger Lungenkrankheit” gewesen, die seit jeher als BK anerkannt worden sei. Eine Erweiterung habe die BKVO-DDR erst im Jahre 1981 erfahren. Gerade die vom LSG angeführte Literaturstelle zeige, dass der Erkenntnisprozess hinsichtlich der extrapulmonalen Krebserkrankungen durch Strahleneinwirkung auch in der DDR noch nicht abgeschlossen gewesen sei. Allein ausgehend vom Recht der DDR in der damaligen Auslegung durch die DDR-Behörden sei deshalb der Revision stattzugeben. Sollte es hingegen zur Beurteilung des streitigen Anspruchs nicht auf die Rechts- und Verwaltungspraxis in der ehemaligen DDR ankommen, so fehle es an den notwendigen Tatsachenfeststellungen. Ehe überhaupt eine individuelle Kausalitätsprüfung einsetze, sei für die Anerkennung bzw Entschädigung einer BK der Nachweis der “generellen Kausalität” erforderlich. Dieser Begriff umschreibe die Frage, inwieweit die Zusammenhänge zwischen bestimmten gefährdenden Einwirkungen, denen bestimmte Personengruppen überdurchschnittlich ausgesetzt seien, und bestimmten Krankheiten, bezogen auf die jeweilige konkrete Gefährdungssituation, nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft generell hinreichend geklärt seien. Eine solche Klärung erfolge in der Regel durch die Aufnahme der schädigenden Einwirkung und des Krankheitsbildes in die BK-Liste; und der Vorteil für den Betroffenen liege dann darin, dass sofort die Prüfung des individuellen Kausalzusammenhangs erfolgen könne. Für die Nr 92 der BKVO-DDR treffe dies jedoch entgegen der Ansicht des LSG nicht zu, denn diese sei “offen” formuliert, und die Rechtslage sei keine andere als bei schädigenden Einwirkungen durch einen “Listenstoff” (vgl zB die Nr 1302 und Nr 2402 der Anlage 1 zur BKVO). Es müsse dann vorab und generell festgestellt werden, ob der “Listenstoff” geeignet sei, ein bestimmtes Krankheitsbild zum Entstehen zu bringen oder zu verschlimmern. Es müsse eine Gruppentypik bestehen, dh die Erkrankung müsse innerhalb einer bestimmten Personengruppe im Rahmen der versicherten Tätigkeit häufiger auftreten als bei der übrigen Bevölkerung. Im Ergebnis müssten dieselben Voraussetzungen wie bei einer Entschädigung einer Quasi-BK erfüllt sein und es bestehe für den Versicherten keine Beweiserleichterung. Bei den offen formulierten BK-Tatbeständen habe der Gesetzgeber den eingeräumten Gestaltungsspielraum entgegen der Meinung des LSG nicht genutzt, sondern dem Rechtsanwender eine eigene Überprüfungs- und Entscheidungskompetenz eingeräumt. Dieser müsse im Rahmen der Gleichbehandlung nach objektiven Kriterien und unter Berücksichtigung der fortschreitenden Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft prüfen, ob eine generelle Geeignetheit der schädigenden Einwirkung für eine bestimmte Erkrankung gegeben sei. Für die Feststellung der generellen Geeignetheit sei der Beweismaßstab der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit erforderlich (Hinweis auf BT-Drucks 13/2204, S 78). Ausgehend von seiner Rechtsauffassung habe das LSG zu dieser Fragestellung keine Feststellungen getroffen.
Die Beigeladene beantragt,
das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 27. März 2003 sowie das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 14. Mai 2001 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Beklagte schließt sich dem Antrag der Beigeladenen an.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beigeladenen ist unbegründet. Wie von den Vorinstanzen zu Recht entschieden, hat der Kläger Anspruch auf Entschädigung seines Kehlkopfkrebsleidens als BK. Da der Antrag des Klägers vom Oktober 1995 als Überprüfungsantrag nach § 44 Abs 1 SGB X zu verstehen ist, verbleibt es – wie vom LSG zutreffend ausgeführt – bei der Zuständigkeit der Beigeladenen (Anl I Kap VIII Sachgeb I Abschn III Abs 8 Nr 2 bb des Einigungsvertrages ≪EinigVtr≫, Verteilungsschlüssel; vgl BG 1992, 326). Es ist deshalb insoweit unerheblich, dass der Kläger den Überprüfungsantrag – in der irrigen Annahme ihrer sachlichen Zuständigkeit – bei der Beklagten gestellt und diese das Verwaltungsverfahren durchgeführt hat. Denn die Beigeladene blieb gleichwohl nach § 44 Abs 3 erster Halbsatz SGB X zuständige Behörde und demzufolge stand ihrer Verurteilung nach § 75 Abs 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht entgegen, dass sie bereits einen bindend gewordenen ablehnenden Bescheid erlassen hatte (vgl zu anderen Fallgestaltungen BSG Urteil vom 31. Mai 1988 – 2 RU 67/87 – HVBG-INFO 1988, 1607 ff sowie veröffentlicht in JURIS, mwN).
Der Anspruch des Klägers gegen die Beigeladene auf Rücknahme ihres bindenden Bescheides vom 13. Juli 1993 (in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. August 1993) ergibt sich aus § 44 Abs 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass dieses Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt worden ist oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Ein solcher Fall liegt hier vor, wobei ausgehend von dem Überprüfungsantrag im Jahre 1995 die zeitliche Begrenzung (vgl § 44 Abs 4 SGB X) der rückwirkenden Gewährung der Leistung ab 1. Januar 1992 nicht entgegensteht.
Der Ausgangsbescheid der Beigeladenen vom 13. Juli 1993 war nach der im Zeitpunkt seiner Bekanntgabe gegebenen Sach- und Rechtslage rechtswidrig. Auszugehen ist dabei – wie bereits die Vorinstanzen zutreffend ausgeführt haben – von § 1150 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) idF des Rentenüberleitungsgesetzes (RÜG) vom 25. Juli 1991 (BGBl I 1606), in Kraft ab 1. Januar 1992 (Art 42 RÜG), weil die vom Kläger als BK geltend gemachte Krebserkrankung nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) im Jahre 1985, also vor dem 1. Januar 1992, im Beitrittsgebiet eingetreten ist (vgl §§ 212, 215 Abs 1 SGB VII).
Nach § 1150 Abs 2 Satz 1 RVO gelten Unfälle und Krankheiten, die vor dem 1. Januar 1992 eingetreten sind und die nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht Arbeitsunfälle und BKen der Sozialversicherung waren, als Arbeitsunfälle und BKen im Sinne des Dritten Buches der RVO. Dies gilt (ua) nicht für Krankheiten, die einem ab 1. Januar 1991 für das Beitrittsgebiet zuständigen Träger der Unfallversicherung erst nach dem 31. Dezember 1993 bekannt werden und die nach dem Dritten Buch der RVO nicht zu entschädigen wären (Abs 2 Satz 2 Nr 1 aaO). In letzterem Falle muss die betreffende Krankheit die Voraussetzungen für die Anerkennung als BK sowohl nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht als auch nach der RVO erfüllen (vgl Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung, BT-Drucks 12/405, S 116, unter II Buchst b). Im Falle des Klägers müssen diese kumulativen Anspruchsvoraussetzungen indes nicht erfüllt sein, denn er hatte gegenüber der Beigeladenen den Erstantrag auf Entschädigung einer BK bereits mit Schreiben vom 6. Juni 1991 gestellt.
Nach § 221 des Arbeitsgesetzbuches der DDR (AGB) vom 16. Juni 1977 (GBl DDR I S 185) und § 2 Abs 1 BKVO-DDR (GBl DDR I S 137) ist eine BK eine Erkrankung, die durch arbeitsbedingte Einflüsse bei der Ausübung bestimmter beruflicher Tätigkeiten bzw Arbeitsaufgaben hervorgerufen wird und die in der vom Minister für Gesundheitswesen in Übereinstimmung mit dem Bundesvorstand des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) herausgegebenen Liste der BKen (Anlage zur Ersten Durchführungsbestimmung der BKVO-DDR vom 21. April 1981 ≪GBl DDR I S 139≫) genannt ist. Diese Rechtsvorschriften sind im Beitrittsgebiet bis zum 31. Dezember 1991 in Kraft geblieben (Anl II Kap VIII Sachgeb I Abschn III Nr 4 und 5 EinigVtr) und gemäß § 162 SGG revisibel (vgl Senatsurteil vom 29. April 1997 – 8 RKnU 1/96 – SozR 3-8440 Nr 70 Nr 1).
In der Liste der BKen nach der BKVO-DDR sind Erkrankungen durch ionisierende Strahlung an zwei Stellen erwähnt. Zum einen unter Abschnitt III “Krankheiten durch physikalische Einwirkungen” in Nr 51: “Alle Krankheiten, Ausnahme: Bösartige Neubildungen werden unter Nr 92 erfasst”, zum anderen unter Abschnitt VII “Beruflich verursachte bösartige Neubildungen” in Nr 92: “Bösartige Neubildungen oder ihre Vorstufen durch ionisierende Strahlung”.
Im Vergleich dazu hat die Anlage 1 zur (bundesdeutschen) “BKVO” bis 1997 bzw danach “BKV” (vom 31. Oktober 1997, BGBl I 2623) seit der Neufassung durch die Änderungsverordnung vom 8. Dezember 1976 (BGBl I 3329) eine andere Systematik. Die Obergliederung der Nr 2 “Durch physikalische Einwirkungen verursachte Krankheiten” führt zur Untergliederung der Nr 24 “Strahlen” und zu den weiteren Untergliederungen Nr 2401 “Grauer Star durch Wärmestrahlung” und Nr 2402 “Erkrankungen durch ionisierende Strahlen”. Im Gegensatz zur Liste nach der BKVO-DDR sind die beruflich bedingten Krebserkrankungen durch ionisierende Strahlung also nicht eigens erfasst, sodass jedenfalls dem Text unmittelbar nicht zu entnehmen ist, ob der Verordnungsgeber ua strahlenbedingte Krebserkrankungen im Blick hatte (anders als zB bei der BK Nr 5102 “Hautkrebs oder zur Krebsbildung neigende Hautveränderungen durch Ruß, Rohparaffin, Teer, Anthrazen, Pech oder ähnliche Stoffe”).
Entgegen der Meinung der Revision kommt es jedenfalls im vorliegenden Fall nicht darauf an, auf Grund welcher Ermächtigungsnorm (zB § 551 Abs 1 RVO oder § 9 Abs 1 Satz 2 SGB VII) der bundesdeutsche Verordnungsgeber berechtigt war oder ist, eine Krankheit als BK zu bezeichnen. Anzuwenden ist allein die BKVO-DDR auf Grund der dortigen Ermächtigungsnorm. Der Rechtssetzungsakt des Verordnungsgebers der DDR kann deshalb nicht an den Beschränkungen gemessen werden, denen der bundesdeutsche Verordnungsgeber bei der Entscheidung über die so genannte BK-Reife unterworfen ist, also zB nach § 9 Abs 1 Satz 2 SGB VII nur solche Krankheiten als BKen zu bezeichnen, “die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind”. Erst recht kommt es im vorliegenden Fall nicht darauf an, nach welchen Kriterien eine Entschädigung “wie für eine Berufskrankheit” zB nach § 9 Abs 2 SGB VII gewährt wird. Der Kläger begehrt eine solche Entschädigung nicht. Der Hinweis der Beigeladenen auf die Gesetzesbegründung zu § 9 Abs 2 SGB VII (BT-Drucks 13/2204, S 78), die die Beweisanforderungen an die generelle Geeignetheit von Einwirkungen für gruppentypische Erkrankungen präzisiert, liegt deshalb neben der Sache (zur Frage, ob damit der bundesdeutsche Verordnungsgeber auf den Vollbeweis hinsichtlich der generellen Geeignetheit festgelegt wird – vgl mwN BSG Urteil vom 23. März 1999 – B 2 U 12/98 R – BSGE 84, 30 = SozR 3-2200 § 551 Nr 12; Koch in Lauterbach Komm SGB VII, Stand November 2002, § 9 RdNr 15, 259, 260).
Wie eingangs bereits erwähnt, ist nach § 221 des AGB der DDR eine BK eine Erkrankung, die durch arbeitsbedingte Einflüsse bei der Ausübung bestimmter beruflicher Tätigkeiten bzw Arbeitsaufgaben hervorgerufen wird und in der “Liste der Berufskrankheiten” genannt ist (Satz 1). Einzelheiten werden in Rechtsvorschriften festgelegt (Satz 2). Diese Begriffsbestimmung wird in § 2 Abs 1 Satz 1 der BKVO-DDR vom 26. Februar 1981 wiederholt und in Satz 2 bestimmt, dass die Liste vom Minister für Gesundheitswesen in Übereinstimmung mit dem Bundesvorstand des FDGB herausgegeben wird. An keiner Stelle sind hier Kriterien wie “generelle Geeignetheit” oder der “Gruppentypik” oder gar “epidemiologischer Nachweis der Gruppentypik” normiert, wenngleich solche Überlegungen schon aus der gemeinsamen Rechtstradition heraus – auch – maßgeblich für Aufnahme einer BK in die Liste gewesen sind. Mit der Aufnahme der Erkrankung “Bösartige Neubildungen oder ihre Vorstufen durch ionisierende Strahlung” in die Nr 92 der Anlage zur BKVO-DDR hat der DDR-Verordnungsgeber die Ursächlichkeit einer beruflichen Schädigung generell anerkannt und damit alle Krebserkrankungen, auch die extrapulmonalen, als solche für entschädigungswürdig befunden. Die Entscheidung des DDR-Verordnungsgebers muss deshalb für Berufskrankheiten im Sinne des als partielles Bundesrecht fortgeführten Rechts der DDR hingenommen werden (so speziell zur Nr 92 der Anlage zur BKVO-DDR, BSG Beschluss vom 18. Juni 2001 – B 2 U 104/01 B – veröffentlicht in JURIS).
Bei der BK Nr 92 der Anlage zur BKVO-DDR handelt es sich nicht um eine “offene” BK, die hinsichtlich der generellen Geeignetheit noch einer ausführenden Verwaltungsentscheidung bedurfte. Die generelle Geeignetheit – im Sinne der bundesdeutschen Terminologie – hinsichtlich aller durch ionisierende Strahlung am Arbeitsplatz verursachten bösartigen Neubildungen (dh der Krebserkrankungen) und ihrer Vorstufen hat der DDR-Verordnungsgeber bereits entschieden. Die sprachliche Fassung der Nr 92 der BKVO-DDR ist eindeutig.
Die – nach dem Vortrag der Beigeladenen negative – Anerkennungspraxis der Verwaltung der Sozialversicherung der DDR (speziell der SV Wismut als eigene Behörde) ist unerheblich. Eine Verwaltungspraxis der DDR-Sozialversicherungsbehörden dergestalt, dass diese hinsichtlich extrapulmonaler Krebserkrankungen im Zusammenhang mit ionisierenden Strahlen eine “generelle Ungeeignetheit” im Sinne der hiesigen Terminologie festgestellt hätten, ist weder festgestellt noch wird sie behauptet. Es ist lediglich bekannt, dass keine Anerkenntnisse erfolgten. Falls insoweit in der Tat ablehnende Entscheidungen durch die SV Wismut ergangen sind, können diese schon deshalb nicht auf der Annahme einer fehlenden “generellen Geeignetheit” beruhen, da nach Nr 92 der Liste der BKVO-DDR die “generelle Geeignetheit” nicht zu prüfen war. Prüfungsgegenstand war dagegen die individuelle Verursachungswahrscheinlichkeit. Hinsichtlich der dabei zu berücksichtigenden Kriterien (insbesondere hinsichtlich der Expositionswerte, dh Art und Dosis der Strahlung am jeweiligen Arbeitsplatz) gab es jedoch für die Zeit vor 1955 überhaupt keine veröffentlichten Daten. Man behalf sich mit Schätzungen und hat so bis 1990 immerhin 5.275 Bronchialkarzinome nach der Nr 92 der Liste der BKVO-DDR anerkannt. Eine Differenzierung nach Strahlenart oder gar nach Organbelastung, was ja für die positive wie negative Feststellung der generellen Geeignetheit sowie der individuellen Verursachungswahrscheinlichkeit hinsichtlich der extrapulmonalen Krebserkrankungen das Entscheidende wäre, erfolgte nicht.
Dank dem im Dezember 1998 vorliegenden Abschlussbericht zum Forschungsvorhaben des Hauptverbandes der Gewerblichen Berufsgenossenschaften “Belastungen durch ionisierende Strahlung im Uranerzbergbau der ehemaligen DDR” (HVBG, Sankt Augustin 1998, S 20 f) existiert erst jetzt eine Datenbasis, und es sind nunmehr mit dem Berechnungsmodell nach dem Gutachten Jacobi II verlässliche individuelle Feststellungen der Verursachungswahrscheinlichkeit extrapulmonaler Krebserkrankungen möglich.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Urteil des 2. Senats des BSG vom 4. Dezember 2001 (B 2 U 35/00 R – SozR 3-8440 Nr 50 Nr 1), auf das die Beigeladene Bezug nimmt. In dieser Entscheidung ging es um die Frage, nach welchen Kriterien der Schwellenwert für die Anerkennung der BK Nr 50 nach der Liste zur BKVO-DDR bemessen wird, dh wann eine “Schwerhörigkeit von sozialer Bedeutung” vorliegt, die nach dem Verordnungstext dann gegeben ist, “wenn die Hörschädigung zu Verständigungsschwierigkeiten mit anderen Personen führt”. Insoweit hat das BSG schon aus Gründen der Gleichbehandlung auf eine gefestigte Verwaltungspraxis der DDR und die dortige Auslegung der BK mit der Listennummer 50, die in ministeriellen Richtlinien ihren Niederschlag gefunden hatte, abgestellt. Davon ist die schlichte Nichtanwendung oder die fehlerhafte Anwendung einer Norm durch die Sozialversicherungsbehörden der DDR, weil keine Tatsachengrundlagen vorhanden waren bzw diese geheim gehalten wurden, zu unterscheiden.
Gegenteiliges ergibt sich – entgegen der Rechtsauffassung der Beigeladenen – auch nicht aus dem im Urteil des BSG vom 4. Dezember 2001 (aaO) herangezogenen Urteil dieses Senats vom 11. September 2001 (B 2 U 32/00 R – SozR 3-8100 Art 19 Nr 8). Es betrifft allein die Frage, ob hinsichtlich ablehnender und bestandskräftig gewordener Verwaltungsakte der DDR-Behörden, die nach Art 19 Satz 3 EinigVtr nur beschränkt abänderbar sind, die verwaltungsverfahrensrechtliche Regelung des § 44 SGB X Anwendung findet. Ein Verwaltungsakt einer DDR-Behörde ist im Falle des Klägers aber nicht ergangen, vielmehr wird die Überprüfung eines bereits nach Maßgabe des SGB X ergangenen Verwaltungsaktes eines bundesdeutschen Sozialversicherungsträgers begehrt. Allein die Möglichkeit, dass der Kläger hier übergangsrechtlich gegenüber einem anderen Beschäftigten privilegiert sein könnte, zu dessen Lasten bereits zu DDR-Zeiten eine ablehnende Entscheidung ergangen war, führt zu keiner Einschränkung seiner Rechtsposition. Denn jedenfalls für sein Feststellungsverfahren ist allein bundesdeutsches Recht maßgebend, da frühere Entscheidungen aus DDR-Zeiten nicht vorliegen. Ob der Senat dem Urteil des 2. Senats folgen würde, kann daher offen bleiben (es sei darauf hingewiesen, dass zurzeit gegen die Entscheidung eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht – Az: 1 BvR 1982/01 – anhängig ist).
Es stellt sich deshalb im Rahmen des § 44 Abs 1 SGB X allein die Frage, ob die Beigeladene, die insoweit an die Stelle der DDR-Behörden getreten ist, nach der Sach- und Rechtslage bei Erlass der zu überprüfenden Bescheide (des Jahres 1993), jedoch aus heutiger Sicht, die Kehlkopfkrebserkrankung des Klägers hätte anerkennen müssen. Entscheidungsgrundlage sind die konkreten und organspezifischen Expositionsdaten des Klägers und die sachverständige Feststellung einer Verursachungswahrscheinlichkeit von über 60 % auf der Grundlage des Gutachtens Jacobi II.
Das LSG hat rechtsfehlerfrei die individuellen Voraussetzungen für die Anerkennung und Entschädigung des Kehlkopfkrebsleidens als BK bejaht. Nach den Feststellungen des LSG, an die der Senat nach § 163 SGG gebunden ist, ist von folgenden Anknüpfungstatsachen auszugehen: Der Kläger leidet an einer Krebserkrankung des Kehlkopfes, die hinsichtlich ihres Schweregrades jedenfalls für den allein noch streitigen Zeitraum ab 1. Januar 1992 mit einer MdE von 20 vH zu bewerten ist. Letzteres ist außer Streit, denn der Kläger hat gegen das Urteil des SG keine Berufung eingelegt. Weiter ist aber auch die Strahlenexposition des Klägers bindend festgestellt. Er war während seiner langjährigen Tätigkeit im Objekt der SAG/SDAG Wismut in der Zeit zwischen 1951 bis 1956 einer kumulativen Organdosis – bezogen auf den Kehlkopf – von 38,76 Sv und einer Exposition gegenüber Radon einschließlich der strahlenden kurz- und langlebigen Zerfallsprodukte (vgl Gutachten Jacobi II S 3) von insgesamt 551 WLM (unter Berücksichtigung der besonderen Situation im Schacht sowie der tatsächlichen Arbeitstätigkeit des Klägers unter Tage nach den Feststellungen des TAD der Beklagten unter Zugrundelegung der Erkenntnisse des Forschungsberichts “Belastungen durch ionisierende Strahlung im Uranerzbergbau der ehemaligen DDR”, HVBG, Sankt Augustin 1998) ausgesetzt. Es war vom LSG deshalb nur noch die Frage zu klären, ob die Krebserkrankung durch diese Belastungen iS des sozialrechtlichen Kausalbegriffs mit Wahrscheinlichkeit nach dem medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand wesentlich verursacht oder (bei Mitwirkung weiterer Faktoren, wie Anlage, Alter, sonstige Noxen wie Zigarettenrauch oder Alkohol) mitverursacht wurde. Insoweit konnte sich das LSG mit der Annahme einer Verursachungswahrscheinlichkeit von über 60 % auf die Beurteilung durch die gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. A.… und Prof. Dr. H.… stützen, deren Meinung es zudem nicht kritiklos übernommen, sondern anhand der wissenschaftlichen Äußerungen beim Fachgespräch “Extrapulmonale Krebserkrankungen Wismut” (HVBG BK-Report 4/99) sowie des Gutachtens Jacobi II überprüft hat. Diese Beweiswürdigung des Gerichts (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) ist nicht mit zulässigen und begründeten Rügen angegriffen. Ebenso wenig hat die Revision sonstige Verfahrensrügen (zB mangelhafte Aufklärung des Sachverhalts, Übergehen von Beweisanträgen) erhoben.
Das LSG hat demzufolge zu Recht die Entscheidung des SG bestätigt, das unter Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 21. April 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Juli 1998 für die Zeit ab 1. Januar 1992 einen Anspruch des Klägers auf Anerkennung und Entschädigung seines Kehlkopfkarzinoms als BK gemäß § 1150 Abs 2 Satz 1 RVO bejaht hat. Auch wenn es im Tenor der Entscheidung des SG nicht erwähnt wird, ergibt sich jedenfalls aus den Entscheidungsgründen sinngemäß, dass die Beigeladene auch gemäß § 44 Abs 1 iVm Abs 3 erster Halbsatz SGB X verpflichtet worden ist, ihren Ausgangsbescheid vom 13. Juli 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. August 1993 zurückzunehmen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1256674 |
NJ 2005, 189 |
SozR 4-8440 Nr 92, Nr. 1 |
AUR 2004, 351 |