Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 3. März 1966 wird auf gehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beklagte gewährte dem Kläger für die Folgen eines Arbeitsunfalls, der ihm am 31. Dezember 1961 zustieß, durch Bescheid vom 18. Oktober 1963 anstelle der bisher gewährten vorläufigen Rente von 20 v.H. der Vollrente vom Tage der Zustellung des Bescheides an die Dauerrente in gleicher Höhe. Der Bescheid wurde dem Kläger am 4. November 1963 ausgehändigt. Die Beklagte entzog die Rente durch Bescheid vom 13. Oktober 1964 mit Wirkung vom Ablauf des Monats November 1964 wegen wesentlicher Besserung der Unfallfolgen. Dieser Bescheid wurde dem Kläger am 22. Oktober 1964 ausgehändigt.
Auf die Klage hin hat das Sozialgericht (SG) Dortmund die Beklagte zur Weitergewährung der Dauerrente über den 30. November 1964 hinaus verurteilt, weil eine wesentliche Besserung der Unfallfolgen nicht nachgewiesen sei. Die Berufung hiergegen hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 3. März 1966 zurückgewiesen und zur Begründung u. a. ausgeführt: Der Bescheid vom 13. Oktober 1964 über die Entziehung der Dauerrente sei rechtswidrig, weil er nicht vor dem 4. November 1964 hätte zugestellt werden dürfen. Ob in den Unfallfolgen eine wesentliche Besserung eingetreten sei, könne daher ungeprüft bleiben. Nach § 622 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der Fassung des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) vom 30. April 1963, der auch für den Arbeitsunfall des Klägers vom Jahre 1961 gelte (Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG), dürfe eine Dauerrente nur in Abständen von mindestens einem Jahr geändert werden. Diese Frist beginne mit dem Zeitpunkt, in dem der Dauerrentenbescheid zugestellt worden sei. Im vorliegenden Fall hätte daher die Rente nicht vor dem 4. November 1964 geändert werden dürfen; unter „ändern” im Sinne des § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO sei die Zustellung des Bescheides über die neue Feststellung der Dauerrente und nicht deren Wirksamwerden nach § 623 Abs. 2 RVO zu verstehen. Diese Jahresfrist habe die Beklagte nicht beachtete. Da sie den Entziehungsbescheid dem Kläger bereits am 22. Oktober 1964 zugestellt habe, sei das Schutzjahr, das erst am 4. November 1964 abgelaufen wäre, nicht eingehalten worden. Der sonach rechtswidrige Bescheid sei daher aufzuheben.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist der Beklagten am 24. März 1966 zugestellt worden. Die Beklagte hat gegen das Urteil am 22. April 1966 Revision eingelegt und diese am 16. Mai 1966 begründet: Das LSG habe verkannt, daß im Gesetz das Ende der Jahresfrist des § 622 Abs. 2 RVO nicht eindeutig festgelegt sei. Es sei zu beachten, daß das Schutzjahr als Mindestzeit nur zum Tragen kommen könne, wenn der Entziehungsbescheid schon vor Ablauf der Jahresfrist zugestellt werde. Entscheidend sei, daß der Versicherte die Dauerrente unverändert ein Jahr lang beziehe. Wenn es die Verhältnisse nicht rechtfertigten, solle er die Rente jedenfalls nicht länger als ein Jahr erhalten. Ein unberechtigter längerer Rentenbezug ergebe sich jedoch, wenn die Auffassung des LSG zutreffe, daß von der Zustellung des Rentengewährungsbescheides an ein Jahr lang gewartet werden müsse, bis der Entziehungsbescheid zugestellt werden dürfe. Im vorliegenden Streitfall habe der Versicherte trotz des vor Ablauf der Jahresfrist seit Zustellung des Rentenbewilligungsbescheides erteilten Entziehungsbescheides die Rente ein volles Jahr unverändert bezogene.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Kläger hat sich im Revisionsverfahren nicht geäußert.
Die Beklagte hat durch Bescheid vom 10. August 1966 die auf Grund der Urteile der Vorinstanzen weiterzugewährende Dauerrente mit Ablauf des Monats September 1966 entzogen, weil die Unfallfolgen nunmehr abgeklungen seien. Diesen Bescheid hat der Kläger vor dem SG Dortmund mit der Klage angefochten.
II
Die Revision ist zulässig; sie hatte auch insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen war.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß noch kein Jahr vergangen war, als dem Kläger der Bescheid vom 13. Oktober 1964 zugestellt wurde, durch den die bisher gewährte Dauerrente mit Wirkung vom 1. Dezember 1964 an entzogen wurde (§ 622 Abs. 2, § 623 Abs. 2 RVO). Die hieraus vom LSG gezogene Folgerung, dieser Bescheid sei rechtswidrig, trifft indessen nicht zu.
Das LSG hat seiner Beurteilung der Rechtslage zwar zu Recht die Neuregelung der §§ 622 und 623 RVO in der Fassung des am 1. Juli 1963 in Kraft getretenen UVNG vom 30. April 1963 (BGBl I 241) zugrunde gelegt (Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG). Es hat hierbei aber die Regelung des § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO, nach der eine Dauerrente nur in Abständen von mindestens einem Jahr geändert werden darf, nicht ihrem Sinn und Zweck entsprechend angewandt. Nach dieser Vorschrift muß sichergestellt sein, daß der Rentenempfänger mindestens ein ganzes Jahr lang in dem ungeschmälerten Genuß der Dauerrente geblieben ist. Ist dies – gegebenenfalls unter Berücksichtigung der Schutzvorschrift des § 623 Abs. 2 RVO – der Fall, so braucht der Versicherungsträger mit der Zustellung eines Bescheides, durch den die bisher gewährte Dauerrente herabgesetzt oder entzogen wird, nicht unbedingt ein ganzes Jahr, gerechnet von der Zustellung des letzten Dauerrentenbescheides an, zu warten. Das Änderungsverbot des § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO schließt also nicht aus, daß der Versicherungsträger bereits gegen Ende des Schutzjahres tätig wird, indem er einen Bescheid erläßt, durch den er die Rente herabsetzt oder entzieht. Entscheidend ist, daß der Verletzte die Dauerrente mindestens ein Jahr lang bezogen hat, bis sie auf Grund einer neuen Feststellung gemindert oder entzogen wird. Dies muß der Versicherungsträger allerdings unbedingt beachten, wenn er dem Verletzten einen Entziehungsbescheid schon vor Ablauf der Jahresfrist des § 622 Abs. 2 Satz 3 RVO bekanntgibt. Da es sich hierbei nur um eine kurze Zeitspanne handeln darf, ist, worauf der erkennende Senat in seiner Entscheidung vom 30. Juli 1965 (BSG 23, 218, 220) hingewiesen hat, in einem solchen Fall für eine Beunruhigung des Rentenempfängers durch die Erteilung eines Herabsetzungs- oder Entziehungsbescheides keine Besorgnis begründet.
Der Auffassung, daß der Versicherungsträger schon gegen Ende des durch § 622 Abs. 2 RVO bestimmten Zeitraumes einen Bescheid erlassen darf, durch den er die Rente herabsetzt oder entzieht, steht das Urteil des 10. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 23. Februar 1960 (BSG 12, 16) zu § 62 Abs. 2 Satz 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) nicht entgegen. Diese Vorschrift, nach der grundsätzlich die Minderung der Erwerbsfähigkeit eines rentenberechtigenden Beschädigten nicht vor Ablauf von zwei Jahren nach Zustellung des Feststellungsbescheides niedriger festgesetzt werden darf, stimmt mit § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO im Wortlaut nicht überein. Nach der Auffassung des 10. Senats hat § 62 Abs. 2 Satz 1 BVG einen mehrdeutigen Inhalt; § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO hingegen stellt es maßgebend darauf ab, daß eine Dauerrente nur in Abständen von wenigstens einem Jahr geändert werden darf. Deshalb besteht nach Auffassung des erkennenden Senats kein zwingender Grund dafür, daß schon die Neufeststellung, d. h. die Erteilung des Änderungsbescheides an den Rentenberechtigten, vor Ablauf des Schutzjahres unterbleiben müsse.
Den Ausführungen des angefochtenen Urteils ist nicht mit Eindeutigkeit zu entnehmen, ob das LSG diesen Gesichtspunkten Rechnung tragen wollte. Es ist zwar der Meinung, daß nur nach der Sach- und Streitlage im Zeitpunkt der Bescheiderteilung beurteilt werden könne, ob dieses Tätigwerden des Versicherungsträgers vor Ablauf des Schutzjahres nach dem Gesetz erlaubt war. Aus welchem Grund aber die Umstände des vorliegenden Falles nach der Ansicht des LSG dazu führen müßten, den Entziehungsbescheid als verfrüht und deshalb als rechtswidrig zu erachten, ist aus den Entscheidungsgründen des Berufungsurteils nicht ersichtlich. Das LSG hat, obwohl der Kläger die Dauerrente vom 4. November 1963 bis 30. November 1964, somit länger als ein Jahr, bezogen hat, den Entziehungsbescheid aufgehoben, weil dieser Bescheid dem Kläger am 22. Oktober 1964 (also etwa zwei Wochen vor Ablauf der in § 622 Abs. 2 RVO bezeichneten Jahresfrist) ausgehändigt worden war. Dieses Ergebnis ist auch nicht mit den aus der angeführten Entscheidung des erkennenden Senats vom 30. Juli 1965 unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes in AN 1911, 447 ersichtlichen Grundsätzen vereinbar.
Hiernach ist der Entziehungsbescheid der Beklagten vom 13. Oktober 1964 nicht schon deshalb rechtswidrig, weil er vor Ablauf der Jahresfrist des § 622 Abs. 2 RVO erteilt worden ist. Die Dauerrente hätte allerdings nur unter den Voraussetzungen des § 622 Abs. 1 RVO entzogen werden dürfen. Hierzu hat das LSG – von seinem Rechts Standpunkt aus zu Recht – keine tatsächlichen Feststellungen getroffen. Dem erkennenden Senat ist somit keine Entscheidung darüber möglich, ob die Beklagte wegen einer wesentlichen Besserung der Unfallfolgen die Dauerrente zu Recht entzogen hat.
Das angefochtene Urteil war sonach aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes).
Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Unterschriften
Brackmann, Dr. Kaiser, Hunger
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 19.12.1968 durch Hoppe, Reg.-Hauptsekretär als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 707698 |
BSGE, 71 |