Entscheidungsstichwort (Thema)
Übernahme von Reisekosten bei Inanspruchnahme ärztlicher Behandlung
Leitsatz (amtlich)
1. Einer der "nächsterreichbaren" Ärzte iS des § 368d Abs 2 RVO ist ein solcher Arzt, bei dessen Inanspruchnahme durch den Versicherten - gegenüber den durch die Inanspruchnahme des nächsterreichbaren Arztes entstehenden Fahrkosten (= Mindestkosten) - nur geringfügige Mehrkosten entstanden sind.
2. Ein an der kassenärztlichen Versorgung teilnehmender Arzt kann nicht schon deshalb zum Kreis der "nächsterreichbaren" gerechnet werden, weil er für den Versicherten - sei er auch noch so weit von ihm entfernt - der zweitnächst erreichbare ist.
3. Als "geringfügig" iS der Ziffer 1 sind Mehrkosten jedenfalls dann nicht anzusehen, wenn sie das siebenfache der Mindestkosten betragen.
Leitsatz (redaktionell)
Nimmt der Versicherte ohne zwingenden Grund nicht einen der nächsterreichbaren, sondern einen weiter entfernt praktizierenden Kassenarzt in Anspruch, so hat er die dadurch entstandenen Mehrkosten, auch soweit sie auf Fahrkosten entfallen, selbst zu tragen.
Normenkette
RVO § 194 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1974-08-07, § 368d Abs. 2 Fassung: 1976-12-28
Verfahrensgang
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin ein Anspruch auf Erstattung weiterer Fahrkosten zusteht als derjenigen, die bei Inanspruchnahme des nächsten Facharztes entstanden wären.
Die bei der Beklagten pflichtversicherte Klägerin wurde vom 13. März bis 29. Juli 1977 an 22 Tagen wegen einer Wochenbettpsychose von dem - an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden - Nervenfacharzt Dr. L in V (Dr. L) behandelt. Für die Fahrt (mit Pkw und Begleitperson) über jeweils 25 Kilometer einfacher Strecke sind Kosten in Höhe von 308,-- DM entstanden (22 x 50 km x 0,28 DM). Die Beklagte hat nur 59,50 DM erstattet, nämlich diejenigen (fiktiven) Fahrkosten, die entstanden wären, wenn die Klägerin den für sie nächsterreichbaren Neurologen - Dr. S in dem 3,5 km entfernten Cloppenburg (Dr. S) - aufgesucht hätte. Die Klägerin beruft sich auf den Grundsatz der freien Arztwahl - § 368d Abs 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) -; einen Grund für die Wahl des Arztes Dr. L wollte sie nicht angeben. Das Sozialgericht (SG) hat ihre Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat - unter Aufhebung der entgegenstehenden Entscheidungen - die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung des Restbetrages (248,50 DM) verurteilt. Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Versicherte habe nach § 368d Abs 2 RVO (übereinstimmend mit § 184 Abs 2 Satz 2 RVO für den Fall der Krankenhausbehandlung und auch mit den Versicherungsbedingungen der Beklagten) nur dann die Mehrkosten zu tragen, wenn (ohne zwingenden Grund) ein anderer als einer der nächsterreichbaren Ärzte in Anspruch genommen werde. Entsprechend dem Grundsatz der freien Arztwahl müsse dem Versicherten daher mindestens die Möglichkeit bleiben, einen zweitnächst erreichbaren Arzt aufzusuchen. Jedenfalls handele es sich bei einer Wegstrecke von nur 25 km um keine Entfernung, deren Kosten für die Solidargemeinschaft nicht mehr tragbar wäre.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten. Hierzu trägt sie vor: Bei der Ermittlung dessen, was nach § 368d Abs 2 RVO unter "einer der nächsterreichbaren Ärzte" zu verstehen sei, müsse das sich aus § 182 Abs 2 RVO ergebende Gebot der Wirtschaftlichkeit herangezogen werden. Der Versicherte könne ein Wahlrecht demnach nur dann ausüben, wenn mehrere Ärzte zur Verfügung stehen, die von seinem - des Versicherten - Wohnort aus gleich weit oder allenfalls geringfügig weiter entfernt praktizierten als andere Ärzte. Das sei hier aber nicht der Fall.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen
vom 29. Oktober 1980 - L 4 Kr 32/79 - aufzuheben
und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des
Sozialgerichts Oldenburg vom 30. Mai 1979
- S 6 Kr 74/78 - zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Wird ohne zwingenden Grund ein anderer als einer der nächsterreichbaren an der Kassenärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte (nachfolgend: Ärzte) in Anspruch genommen, so hat der Versicherte die Mehrkosten zu tragen (§ 368d Abs 2 RVO). Die Regelungsmaterie des § 368d Abs 2 RVO - der auch nach den Versicherungsbedingungen der beklagten Ersatzkasse anwendbar ist - betrifft nicht die im Vierten Abschnitt des 2. Buches der RVO geregelte "Verfassung" der Krankenversicherung und hat daher innerhalb des VI. Unterabschnittes ("Verhältnis zu Ärzten, Zahnärzten, Krankenhäusern, Apotheken, Hebammen und Einrichtungen für Haushaltshilfe"; §§ 368 bis 376b RVO) nicht ihren eigentlichen, systemgerechten Regelungsort. Als leistungsrechtliche Materie gehört sie vielmehr in den Zweiten Abschnitt ("Gegenstand der Versicherung"), speziell in den II. Unterabschnitt ("Krankenhilfe"; §§ 182 bis 194). Nach § 194 Abs 1 Satz 1 RVO gehören zu den Leistungen der Krankenkasse auch die erforderlichen Fahrkosten. Davon macht die eingangs angeführte Regelung eine Ausnahme: soweit der Versicherte ohne zwingenden Grund nicht einen der nächsterreichbaren Ärzte, sondern einen weiter entfernt liegenden Arzt in Anspruch nimmt, hat er die dadurch entstandenen Mehrkosten selbst zu tragen, so daß sein Leistungsanspruch insoweit entfällt.
Da das gesamte Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung - worauf das SG zutreffend hingewiesen hat - von dem Prinzip der Wirtschaftlichkeit beherrscht, die gesetzliche Leistung nämlich auf das Notwendige (§ 182 RVO) bzw das nicht Unwirtschaftliche (§ 368c RVO) beschränkt wird (vgl Töns, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit als Anspruchsbestimmungen im Leistungswesen der gesetzlichen Krankenversicherung in Grundlagen der Sozialversicherung, Festschrift für Brackmann, S. 81 ff), steht auch der Anspruch auf Übernahme der Fahrkosten unter diesem ökonomischen Gebot. Die unter § 368d Abs 2 RVO geregelte Ausnahme ist gerade ein Ausfluß dieses Prinzips der krankenversicherungsrechtlichen Leistung: es ist wirtschaftlich nicht vertretbar und gegenüber der Versichertengemeinschaft unzumutbar, die Mehrkosten auch dann zu übernehmen, wenn der Versicherte ohne zwingenden Grund einen anderen als einen der nächstliegenden Ärzte in Anspruch genommen hat. Daß dabei unter Mehrkosten nicht jede von den Minimalkosten abweichende Summe zu verstehen ist, ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetzeswortlaut. Mit der Formulierung "einer der nächsterreichbaren Ärzte" (anstelle der Formulierung: den nächsterreichbaren Arzt) kommt zum Ausdruck daß relativ geringfügige Abweichungen unter den Fahrkostensummen zu keinen den Selbstbehalt rechtfertigenden "Mehrkosten" führen, oder, mit anderen Worten, daß dann, wenn unter einer typisierenden Betrachtung mehrere Ärzte fahrkostenmäßig noch als "nächsterreichbar" angesehen werden können, eventuelle Mehrkosten also nur geringfügig differieren, bei der Inanspruchnahme eines dieser Ärzte die Leistungsausnahme - der Selbstbehalt - nicht eintreten soll. Mit den Worten "einer der nächsterreichbaren Ärzte" soll daher verhindert werden, daß den Versicherten die Mehrkosten schon dann treffen, wenn er - ohne zwingenden Grund - zwar nicht den nächsterreichbaren, aber einen anderen von mehreren relativ naherreichbaren Ärzten in Anspruch nimmt und damit relativ geringe Mehrkosten verursacht.
Entsprechend dem Gebot der Wirtschaftlichkeit der krankenversicherungsrechtlichen Leistungen verbleibt es aber beim Selbstbehalt dann, wenn der Versicherte ohne zwingenden Grund einen Arzt außerhalb dieses Umkreises beansprucht. Dementsprechend ist die Entscheidung darüber, wann ein Arzt noch zu den für den Versicherten nächsterreichbaren gezählt werden kann, unter dem Gesichtspunkt des Wirtschaftlichkeitsgebots zu treffen. Jede andere Betrachtung würde, wie ausgeführt, zu unzumutbaren Mehrbelastungen der Versichertengemeinschaft führen. Daher kann ein Arzt nicht schon deshalb zum Kreis der "nächsterreichbaren" Ärzte gerechnet werden, weil er für den Versicherten, sei er auch noch so weit von ihm entfernt, der zweitnächst erreichbare ist. Dem Versicherten kann es auch unter Berücksichtigung der freien Arztwahl nicht freistehen, die Solidargemeinschaft der Versicherten, zu der er selbst gehört, mit unzumutbar hohen Fahrkosten zu belasten, wenn ihm in nächster Nähe ein Kassenarzt zur Verfügung steht, für dessen Nichtinanspruchnahme er keinen zwingenden Grund hat. Unter diesem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit ist hier daher zu prüfen, ob gegenüber dem nur 3,5 km von der Klägerin entfernten Arzt Dr. S der von der Klägerin in Anspruch genommene, 25 km von ihrem Wohnsitz entfernte Dr. L noch als einer der "nächsterreichbaren" Ärzte angesehen werden kann. Das ist zu verneinen. Der einfache Kostenaufwand einer Hin- und Rückfahrt hätte im Falle einer Inanspruchnahme des Dr. S 1,96 DM (7 km x 0,28 DM) betragen; bei der Inanspruchnahme des Dr. L betrug er dagegen 14,-- DM. Dieser Betrag liegt um über 7 mal höher, geht also um über 700 % über den erstgenannten Betrag hinaus, ganz abgesehen davon, daß er durch die notwendige Behandlungsdauer um ein vielfaches angefallen ist. Unter diesen Umständen hätte die Klägerin bei einer Inanspruchnahme des Dr. L nur dann den Selbstbehalt der Mehrkosten vermeiden können, wenn sie dafür einen zwingenden Grund iS des § 368 Abs 2 RVO vorgebracht hätte. Das war aber nicht der Fall.
Auf die Revision der Beklagten war daher das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen
NJW 1982, 1350 |
Breith. 1982, 849 |