Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Hilfe zum Lebensunterhalt. Nachrang der Sozialhilfe. Anspruch auf Wohngeld
Leitsatz (amtlich)
Der Nachranggrundsatz ist ausschließlich ein Gebot der Sozialhilfe im Sinne eines Programmsatzes und keine isolierte Ausschlussnorm.
Normenkette
SGB XII § 27 Abs. 1, § § 27 ff., § 19 Abs. 1, § 82 Abs. 1 S. 1, § 2 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 28. Oktober 2019 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger auch seine außergerichtlichen Kosten für das Revisionsverfahren zu erstatten.
Tatbestand
Im Streit ist Hilfe zum Lebensunterhalt für Dezember 2017 bis Juni 2018.
Für die von ihm bewohnte Wohnung zahlte der 1952 geborene, alleinlebende Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum eine Bruttowarmmiete von 440,18 Euro. Er bezog eine Altersrente von 798,93 Euro. Die monatliche Prämie für die Sterbegeldversicherung des Klägers betrug 8,76 Euro, die monatliche Prämie für die Haftpflichtversicherung 8,78 Euro, die monatliche Prämie für die Hausratsversicherung 5,81 Euro im Dezember 2017 und 5,84 Euro ab Januar 2018. Der Kläger verfügte nicht über Vermögen in entscheidungserheblichem Umfang.
Ab März 2016 bezog der Kläger Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII). Im Juli 2016 kam er einer Aufforderung des Beklagten, Wohngeld zu beantragen, mit der Folge nach, dass die Bewilligung von Hilfe zum Lebensunterhalt ab dem Zeitpunkt, zu dem Wohngeld gewährt wurde, mangels Bedürftigkeit aufgehoben wurde. Das Wohngeld bezog der Kläger bis November 2017. Einen Weiterbewilligungsantrag stellte er nicht. Stattdessen stellte er wegen der mit dem Bezug von Sozialhilfe verbundenen Vergünstigungen ("Berlin-Pass", der ua den Erwerb eines Sozialtickets für den öffentlichen Personennahverkehr ermöglicht) wieder einen Antrag auf Sozialhilfe, den der Beklagte unter Hinweis auf den sog Nachranggrundsatz (§ 2 Abs 1 SGB XII) ablehnte (Bescheid vom 29.9.2017 mit Berechnungsbögen für August und September 2017; Widerspruchsbescheid unter Beteiligung sozial erfahrener Dritter vom 13.12.2017). Ein vom Beklagten für den Kläger gestellter Wohngeldantrag führte zur Versagung wegen fehlender Mitwirkung des Klägers. Aufgrund einstweiliger Anordnung erbrachte der Beklagte Hilfe zum Lebensunterhalt für Dezember 2017 iHv 73,60 Euro und für Januar bis Juni 2018 iHv monatlich 80,60 Euro.
Das Sozialgericht (SG) Berlin hat den Beklagten unter Aufhebung des angegriffenen Bescheids und Klageabweisung im Übrigen verpflichtet, dem Kläger Hilfe zum Lebensunterhalt zu bewilligen, für Dezember 2017 iHv 64,84 Euro und für Januar bis Juni 2018 iHv monatlich 71,87 Euro (Urteil vom 28.10.2019). Zur Begründung hat es ausgeführt, dass das bloße Bestehen eines Anspruchs auf Wohngeld nicht zu einem auf den Nachranggrundsatz gestützten Leistungsausschluss führe. Die monatliche Prämie der Sterbegeldversicherung sei bei der Leistungsbewilligung nicht von der Altersrente in Abzug zu bringen.
Mit seiner Revision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 2 Abs 1 SGB XII. Selbst wenn § 2 Abs 1 SGB XII einen Leistungsausschluss nur in extremen Ausnahmefällen rechtfertige, liege ein solcher hier vor, weil sich der Kläger trotz Aufforderung zur Beantragung von Wohngeld und Realisierbarkeit des Wohngeldanspruchs einer Antragstellung vollständig verschlossen habe.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 28. Oktober 2019 zu ändern und die Klage insgesamt abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angegriffene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Sprungrevision (§ 161 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Der Kläger hat für den streitgegenständlichen Zeitraum Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt. Der Nachranggrundsatz des § 2 Abs 1 SGB XII steht dem nicht entgegen.
Gegenstand des zulässigerweise im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, § 56 SGG) geführten Verfahrens ist der Bescheid vom 29.9.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.12.2017. Der streitgegenständliche Zeitraum umfasst aufgrund der mit dem erstinstanzlichen Klageantrag erfolgten zeitlichen Beschränkung die Monate Dezember 2017 bis Juni 2018. Dem steht nicht entgegen, dass dem Bescheid vom 29.9.2017 nur Berechnungsbögen für August und September 2017 beigefügt waren. Zwar kann ein Ablehnungsbescheid, dem Berechnungsbögen für einzelne Monate beigefügt sind, dahin auszulegen sein, dass sich die Ablehnung nur auf diese Monate bezieht (Landessozialgericht ≪LSG≫ Baden-Württemberg vom 20.7.2017 - L 7 AS 2130/14 - juris RdNr 31 f). Vorliegend ist jedoch davon auszugehen, dass der Ablehnungsbescheid jedenfalls auch den Zeitraum Dezember 2017 bis Juni 2018 betrifft. Hiervon ist im Ergebnis auch das SG ausgegangen. Maßstab der Auslegung eines Verwaltungsakts ist der Empfängerhorizont eines verständigen Beteiligten, der die Zusammenhänge berücksichtigt, welche die Behörde nach ihrem wirklichen Willen (§ 133 Bürgerliches Gesetzbuch ≪BGB≫) erkennbar in ihre Entscheidung einbezogen hat (Bundessozialgericht ≪BSG≫ vom 28.6.1990 - 4 RA 57/89 - BSGE 67, 104, 110 = SozR 3-1300 § 32 Nr 2 S 11, juris RdNr 31; BSG vom 3.7.2020 - B 8 SO 5/19 R - SozR 4-1200 § 44 Nr 10 RdNr 15). Der Kläger wollte ersichtlich Sozialhilfe für die Zeit nach dem Ende der Wohngeldbewilligung, also ab Dezember 2017. Vor diesem Hintergrund erschließt sich nicht, weshalb die Verwaltungsentscheidung für Monate davor ergehen sollte. Auch der Beklagte, dessen Widerspruchsbescheid die Zeit bis Juni 2018 ausdrücklich nennt, macht nicht geltend, dass die Monate Dezember 2017 bis Juni 2018 von dem streitgegenständlichen Bescheid nicht erfasst seien.
Rechtsgrundlage für den Anspruch des Klägers auf Hilfe zum Lebensunterhalt ist § 19 Abs 1 iVm § 27 Abs 1 SGB XII. Die formellen Voraussetzungen dieser Normen liegen vor. Der Beklagte ist für die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt als örtlicher Träger der Sozialhilfe sachlich (§ 97 Abs 1 SGB XII iVm § 1 Abs 1 Gesetz zur Ausführung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch ≪AG-SGB XII≫ Berlin) und örtlich (§ 98 Abs 1 Satz 1 SGB XII) zuständig. Die erforderliche Kenntnis des Beklagten vom Sozialhilfefall (§ 18 Abs 1 SGB XII) ist gegeben. Auch die materiellen Anspruchsvoraussetzungen liegen vor. Nach § 19 Abs 1 iVm § 27 Abs 1 SGB XII ist Hilfe zum Lebensunterhalt Personen zu leisten, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus ihrem Einkommen und Vermögen, bestreiten können. Zudem darf kein Leistungsausschluss eingreifen. Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger.
Der Kläger ist nicht in der Lage, seinen Bedarf (§ 27a Abs 1 Satz 1 und 2 SGB XII) vollständig aus vorhandenem Einkommen oder Vermögen zu decken. Sein aus Regelbedarf (§ 27a Abs 3 Satz 1 Halbsatz 1 SGB XII iVm § 8 Abs 1 Satz 1 Nr 1 Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz ≪RBEG≫ 2017 bzw § 2 Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung ≪RBSFV≫ 2018) sowie tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung (§ 35 Abs 1 Satz 1 SGB XII) zusammengesetzter Bedarf beträgt nach den unangegriffenen Feststellungen des SG 849,18 Euro für Dezember 2017 und 856,18 Euro ab Januar 2018. Dem Bedarf gegenüber steht kein Vermögen (§ 90 Abs 1 SGB XII) in einer das Schonvermögen (§ 90 Abs 2 und 3 SGB XII) übersteigenden Höhe. Einkommen (§ 82 Abs 1 Satz 1 SGB XII) ist nur in Form einer Altersrente von 798,93 Euro vorhanden, die um die Versicherungsbeiträge für Haftpflicht- und Hausratsversicherung iHv 14,59 Euro für Dezember 2017 und 14,62 Euro ab Januar 2018 zu bereinigen ist (§ 82 Abs 2 Satz 1 Nr 3 SGB XII), sodass ein anzurechnendes Einkommen von 784,34 Euro bzw 784,31 Euro verbleibt. Bei einem eventuellen Wohngeldanspruch nach dem Wohngeldgesetz (WoGG) handelt es sich nicht um Einkommen, das anspruchsmindernd zu berücksichtigen ist. Zum Einkommen gehören grundsätzlich alle Einkünfte in Geld und Geldeswert. Erforderlich ist, dass es sich um bereite Mittel handelt, das Einkommen also tatsächlich zur Verfügung steht (BSG vom 11.12.2007 - B 8/9b SO 23/06 R - BSGE 99, 262 = SozR 4-3500 § 82 Nr 3, RdNr 15). Wohngeld stand dem Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum nicht zur Verfügung. Ob die Prämie für die Sterbegeldversicherung einkommensmindernd zu berücksichtigen oder als Bedarf anzuerkennen ist (§ 33 Abs 2 SGB XII), hat der Senat nicht zu entscheiden, weil der Kläger kein Rechtsmittel eingelegt hat.
Der Kläger, der wegen Altersrentenbezugs nicht dem Leistungssystem des Sozialgesetzbuchs Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) zuzuordnen ist (§ 21 Satz 1 SGB XII iVm § 7 Abs 4 Satz 1 SGB II), ist auch nicht aufgrund des Nachranggrundsatzes des § 2 Abs 1 SGB XII von Leistungen der Sozialhilfe ausgeschlossen, weil (wohl) ein Wohngeldanspruch in einer den ungedeckten Bedarf übersteigenden Höhe bestand. Der Senat hat wiederholt entschieden, dass der Nachranggrundsatz grundsätzlich keine isolierte Ausschlussnorm, sondern lediglich ein Gebot der Sozialhilfe im Sinne eines Programmsatzes darstellt (vgl BSG 22.3.2012 - B 8 SO 30/10 R - BSGE 110, 301 = SozR 4-3500 § 54 Nr 8, RdNr 25 mwN; zustimmend Coseriu/Filges in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl 2020, § 2 RdNr 7; Deckers in Grube/Wahrendorf/Flint, SGB XII, 7. Aufl 2020, § 2 RdNr 4; aA Luthe in Hauck/Noftz, SGB XII, K § 2 RdNr 12 ff, Stand 5/2020) und dass den überkommenen sog "Strukturprinzipien" der Sozialhilfe keine eigenständige normative Bedeutung zukommt (BSG vom 29.9.2009 - B 8 SO 16/08 R - BSGE 104, 213 = SozR 4-1300 § 44 Nr 20, RdNr 11; BSG vom 26.8.2008 - B 8 SO 26/07 R - SozR 4-1300 § 44 Nr 15 RdNr 19; BSG vom 17.6.2008 - B 8 AY 5/07 R - SozR 4-3520 § 9 Nr 1 RdNr 17; zustimmend Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, Einführung RdNr 8, Stand 9/2018; Kemper in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl 2017, § 3 RdNr 5 f; kritisch Berlit in Berlit/Conradis/Pattar, Existenzsicherungsrecht, 3. Aufl 2019, S 99 RdNr 32 f). An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest. Der Senat hat zwar offengelassen, ob in extremen Ausnahmefällen eine Ausschlusswirkung des Nachranggrundsatzes ohne Rückgriff auf andere Normen des SGB XII denkbar ist, etwa wenn sich der Bedürftige generell eigenen Bemühungen verschließt und Ansprüche ohne Weiteres realisierbar sind (BSG vom 29.9.2009 - B 8 SO 23/08 R - BSGE 104, 219 = SozR 4-3500 § 74 Nr 1, RdNr 20; BSG vom 22.3.2012 - B 8 SO 30/10 R - BSGE 110, 301 = SozR 4-3500 § 54 Nr 8, RdNr 25). Unter Berücksichtigung der für die bisherige Rechtsprechung des Senats maßgeblichen Gesichtspunkte - Konkretisierung des Nachranggrundsatzes insbesondere durch die Vorschriften über Einkommen und Vermögen, Leistungsausschlüsse und -minderungen sowie Erstattung, systematische Stellung des § 2 Abs 1 SGB XII im Ersten Kapitel statt in den Leistungsvorschriften der folgenden Kapitel (vgl BSG vom 26.8.2008 - B 8/9b SO 16/07 R - FEVS 60, 346 = juris RdNr 15) - beantwortet der Senat die bislang offengelassene Frage jedoch dahin, dass § 2 Abs 1 SGB XII generell keine Ausschlussnorm darstellt (ebenso Siefert, ZFSH/SGB 2016, 661). § 24 Abs 2 SGB XII stützt dieses Ergebnis. Danach wird Sozialhilfe für Deutsche im Ausland auch insoweit nicht gewährt, als Leistungen von anderen "zu erwarten" sind. Demgegenüber stellt § 2 Abs 1 SGB XII nach seinem Wortlaut gerade nicht darauf ab, ob der Leistungsberechtigte einen durchsetzbaren Anspruch gegen Dritte hat, sondern ob er (zu berücksichtigendes) Einkommen oder Vermögen besitzt oder die Leistung von anderen (tatsächlich) "erhält", also eine unmittelbare (direkte) Möglichkeit besteht, den Bedarf selbst zu decken. Im Übrigen ist § 2 Abs 1 SGB XII nichts zu entnehmen für eine Differenzierung zwischen "klaren Fällen", in denen die Durchsetzung von Ansprüchen des Leistungsberechtigten gegen Dritte eindeutig erscheint und deshalb die beharrliche Weigerung, den Anspruch geltend zu machen, zum Leistungsausschluss führt, und Fällen, in denen die Anspruchsdurchsetzung zweifelhaft ist und deshalb der Sozialhilfeträger von den ihm gesetzlich eröffneten Möglichkeiten Gebrauch machen muss, den Nachrang wieder herzustellen (etwa § 95 SGB XII).
Es ergibt sich ein Leistungsanspruch von 64,84 Euro für Dezember 2017 und 71,87 Euro monatlich für Januar bis Juni 2018. Ob der Kläger für Juni 2018 vorrangige Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (§ 19 Abs 2 iVm § 41 Abs 1 und 2 Satz 1 und 3 SGB XII) statt Hilfe zum Lebensunterhalt erhalten kann, hat der Senat ebenfalls nicht zu entscheiden, weil der Kläger selbst keine Revision eingelegt hat (zum Verhältnis von Grundsicherungsleistungen zu Hilfe zum Lebensunterhalt bereits BSG vom 29.9.2009 - B 8 SO 13/08 R - BSGE 104, 207 = SozR 4-3530 § 6 Nr 1, RdNr 16).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 14578969 |
NJW 2021, 3487 |
FEVS 2022, 206 |
NDV-RD 2022, 58 |
NZS 2021, 858 |
SGb 2021, 368 |
ZfF 2021, 216 |
FamRB 2021, 314 |
SRA 2021, 246 |
info-also 2021, 233 |