Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Urteil vom 15.07.1954) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts in München vom 15. Juli 1954 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Die Gebühr für die Berufstätigkeit des Rechtsanwalts Dr. M. in F. wird auf 200,– DM festgesetzt.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger war zur Zeit des streitigen Unfalls vom 5. Januar 1952 in einem Friseurgeschäft in M. tätig. Er besaß eine Mietwohnung in M. und war dort mit seiner Ehefrau polizeilich gemeldet. Seine Ehefrau wohnte jedoch zur Zeit des Unfalls bei der verheirateten Tochter der Eheleute in C., um der Tochter, die dort ein damals noch im Aufbau befindliches Textilgeschäft betrieb, bei der Betreuung eines Kleinkindes und der Führung des Haushalts und des Geschäfts zu helfen. Der Kläger selbst benutzte nur an Wochentagen die Wohnung in M., die Sonntage verbrachte er regelmäßig bei seiner Ehefrau im Haus der Tochter und begab sich von dort montags wieder zu seiner Arbeitsstätte in M.
Am 5. Januar 1952, einem Samstag, ist der Kläger, der von seiner Arbeitsstätte in M. kam, abends auf der nach O. führenden Landstraße infolge Glatteises gestürzt und hat sich dabei einen Bruch des ersten Lendenwirbels zugezogen.
Die beklagte Berufsgenossenschaft hat die Entschädigungsansprüche, die der Kläger bei ihr auf Grund dieses Unfalls geltend gemacht hatte, mit Bescheid vom 26. November 1952 abgelehnt. Die Ablehnung hat sie damit begründet, daß der nach § 543 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) erforderliche Zusammenhang mit der Tätigkeit im Unternehmen nur bei direkten Wegen zwischen Wohnung und Arbeitsstätte mit dem Ziel Arbeitsstätte oder bei Heimwegen zur Erreichung des häuslichen Wirkungskreises bestehe, im vorliegenden Fall aber der Weg nach der Wohnung der Tochter in O. den Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit in dem bei der Beklagten versicherten Unternehmen gelöst habe.
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger Berufung beim Oberversicherungsamt München eingelegt. Das Oberversicherungsamt hat die Berufung mit Urteil vom 22. April 1953 zurückgewiesen. Der Kläger hat gegen dieses Urteil Rekurs beim Bayerischen Landesversicherungsamt eingelegt. Nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ist dieses Rechtsmittel nach § 215 Abs. 3 SGG als Berufung auf das Bayerische Landessozialgericht übergegangen.
Das Landessozialgericht hat mit Urteil vom 15. Juli 1954 wie folgt entschieden:
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Oberversicherungsamts München vom 22. April 1953 sowie der Bescheid der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege, Hamburg, vom 26. November 1952 aufgehoben.
II. Der Anspruch des Klägers auf Unfallentschädigung ist dem Grunde nach gerechtfertigt.
III. Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten in vollem Umfang zu erstatten.
IV. Die Revision wird zugelassen.
Das Urteil des Landessozialgerichts ist beiden Beteiligten am 20. September 1954 zugestellt worden. Die Beklagte hat gegen das Urteil mit Schriftsatz vom 15. Oktober 1954 (beim Bundessozialgericht eingegangen am 19. Oktober 1954) Revision eingelegt und diese in demselben Schriftsatz begründet. Sie beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen und der Beklagten die außergerichtlichen Kosten des Klägers aufzuerlegen.
Die Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) und in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG). Sie ist jedoch nicht begründet.
Der Vorderrichter ist zutreffend davon ausgegangen, daß sich ein Versicherungsschutz für den Weg nach O., auf dem der Kläger den Unfall vom 5. Januar 1952 erlitten hat, nicht aus § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO ergibt, denn die Gründe, die den Kläger veranlaßt haben, nach Beendigung der versicherten Tätigkeit in dem Friseurgeschäft in M. nicht seine Mietwohnung in M., sondern die Wohnung seiner Tochter in O. aufzusuchen, entstammen so wesentlich dem persönlichen Lebensbereich des Klägers, daß der vom Gesetz geforderte Zusammenhang des Wegs mit der versicherten Tätigkeit nicht gegeben ist.
Der Vorderrichter hat deshalb zutreffend seine Entscheidung auf den Satz 2 des § 543 Abs. 1 RVO abgestellt. Mit dieser Vorschrift, die durch das 5. Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung vom 17. Februar 1939 (RGBl. I S. 267) dem damaligen § 545a RVO als 2. Absatz angefügt worden war und die vom 6. Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung vom 9. März 1942 (RGBl. I S. 107) in den jetzigen § 543 als 2. Satz des Absatzes 1 übernommen worden ist, hat der Gesetzgeber einen Versicherungsschutz geschaffen, der über den Versicherungsschutz nach Satz 1 hinausgeht und es ermöglicht, die dem persönlichen Lebensbereich zuzurechnenden Beweggründe für einen von der Arbeitsstätte aus angetretenen Weg rechtlich weitergehend unberücksichtigt zu lassen (vgl. Entscheidungen des Bundessozialgerichts Band 1 S. 171).
Die Entscheidung hängt in erster Linie davon ab, ob der Vorderrichter zutreffend die Wohnung der Tochter des Klägers in O. als „Familienwohnung” des Klägers und die Mietwohnung in M. als „Unterkunft” im Sinne des § 543 Abs. 1 Satz 2 RVO angesehen hat. Die Revision wendet ein, daß die vom Vorderrichter getroffenen tatsächlichen Feststellungen für eine Entscheidung dieser Frage unzureichend seien. Das trifft jedoch nicht zu. Der Vorderrichter hat festgestellt, daß die Ehefrau des Klägers im Unfall Zeitpunkt schon seit etwa einem Jahre bei ihrer verheirateten Tochter in O. lebte und während dieser Zeit die Mietwohnung in M. nicht regelmäßig aufgesucht oder bewohnt hat. Andererseits hat der Vorderrichter festgestellt, daß der Kläger die Wohnung in M. nur an den Wochentagen als Schlafgelegenheit benutzt und das Wochenende regelmäßig bei seiner Ehefrau im Haus der Tochter verlebt hat. Diese Feststellungen hat der Vorderrichter in der Begründung seines Urteils noch durch Ausführungen darüber ergänzt, daß der im Zeitpunkt des Unfalls schon länger andauernde Aufenthalt der Ehefrau des Klägers in O. von vornherein unbefristet war und daß die Ehefrau nur in O. in der Lage war, für den Kläger zu sorgen. Auf Grund dieser für das Revisionsgericht nach § 163 SGG bindenden Feststellungen ist der Vorderrichter ohne Rechtsirrtum zu dem Ergebnis gekommen, daß im Zeitpunkt des Unfalls die Wohnung der Tochter in O. auch für den Kläger und seine Ehefrau den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse bildete und somit die „Familienwohnung” des Klägers im Sinne des § 543 RVO war. Die tatsächlichen Feststellungen rechtfertigen ebenso auch den Standpunkt des Vorderrichters, daß die Mietwohnung in A. unter den besonderen Umständen dieses Falles zur Zeit des Unfalls nur eine „Unterkunft” im Sinne des § 543 RVO gewesen ist. Der Vorderrichter hat mit Recht seine Entscheidung auf die tatsächliche Gestaltung der Lebensverhältnisse des Klägers im Zeitpunkt des Unfalls abgestellt und dem Umstand keine Bedeutung beigemessen, daß der Kläger und seine Ehefrau polizeilich nur in M. gemeldet waren.
Die Revision bat weiterhin eingewendet, der Vorderrichter habe § 543 Abs. 1 Satz 2 RVO insofern unrichtig ausgelegt, als durch diese Vorschrift nur die Fälle neu unter Versicherungsschutz gestellt werden sollten, in denen der Versicherte seine Familienwohnung beibehält, sie aber vorübergehend wegen der Entfernung seiner Arbeitsstätte nicht benutzen kann. Auch dieser Einwand ist nicht geeignet, die Richtigkeit der Entscheidung des Vorderrichters in Frage zu stellen. Die Erweiterung des Versicherungsschutzes durch den neuen Abs. 2 des damaligen § 545a RVO war zwar durch die Verhältnisse veranlaßt worden, die sich aus der Lenkung des Arbeitseinsatzes im Rahmen des Vier-Jahresplans ergeben und dazu geführt hatten, daß zahlreiche Arbeitnehmer auf einem von der ständigen Familienwohnung verhältnismäßig weit entfernten Arbeitsplatz tätig sein und infolgedessen auf oder in der Nähe der Arbeitsstätte untergebracht werden mußten (vgl. Begründung zu Art. 1 Nr. 3 des 5. Änderungsgesetzes, AN. 1939 Seite IV 98). Der Gesetzgeber hat jedoch die Erweiterung des Versicherungsschutzes nicht auf die Fälle beschränkt, die den Anlaß hierzu gegeben haben. Er hat lediglich gefordert, daß die Familienwohnung von der Arbeitsstätte eine Entfernung haben muß, die es notwendig macht, auf der Arbeitsstätte oder in ihrer Nähe eine „Unterkunft” zu benutzen. Dagegen hat er nicht verlangt, daß die Entfernung zwischen Familienwohnung und Arbeitsstätte durch die Aufnahme der Arbeit an dieser Arbeitsstätte verursacht sein muß. Infolgedessen ist ein Versicherungsschutz nach § 543 Abs. 1 Satz 2 RVO auch dann gegeben, wenn die ursprünglich am Ort der Arbeitsstätte vorhandene Familienwohnung später aus Gründen, die mit der versicherten Tätigkeit nicht im Zusammenhang stehen, nach auswärts verlegt worden ist. Der Vorderrichter hat somit den Satz 2 des § 543 Abs. 1 RVO ohne Rechtsirrtum auf den vorliegenden Fall angewendet.
Die Revision der Beklagten ist somit unbegründet und war nach § 170 Abs. 1 SGG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen