Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz. Wohlfahrtspflege. Betreuung Blinder. arbeitnehmerähnliche Tätigkeit
Orientierungssatz
1. Die Pflege hilfsbedürftiger Blinder gehört ebenso wie die Altenpflege zur Wohlfahrtspflege iS des § 539 Abs 1 Nr 7 RVO (vgl BSG vom 26.6.1985 - 2 RU 79/84 = BSGE 58, 210, 212).
2. Es ist für den Versicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 7 RVO unerheblich, ob die Tätigkeit in der Wohlfahrtspflege gegen Entgelt oder ehrenamtlich ausgeübt wird. Der Versicherungsschutz nach dieser Vorschrift ist nicht auf Tätige in der "organisierten" öffentlichen oder privaten Wohlfahrtspflege beschränkt, sondern umfaßt auch und gerade die freiberuflich (selbständig) in der Wohlfahrtspflege Tätigen, soweit nicht ausdrücklich ihre Versicherungsfreiheit bestimmt ist (vgl BSG vom 12.3.1974 - 2 RU 7/72 = USK 7426).
3. Zur Frage des Unfallversicherungsschutzes bei einer auf freundschaftlicher Verbundenheit beruhenden Begleitung und Betreuung einer Blinden während eines vierwöchigen Kuraufenthaltes.
Normenkette
RVO § 539 Abs 1 Nr 7; RVO § 539 Abs 2
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 25.03.1987; Aktenzeichen L 3 U 68/86) |
SG Speyer (Entscheidung vom 04.04.1986; Aktenzeichen S 2 RU 301/85) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten, wer der für die Entschädigung eines Arbeitsunfalls zuständige Versicherungsträger ist.
Bei der Klägerin war die im Jahre 1898 geborene Frau W (W) krankenversichert, die jahrzehntelang gute Bekannte der im Jahre 1893 geborenen und im Sommer 1982 verstorbenen Frau L (L) war, die als Blinde über 50 Jahre lang im Haushalt ihrer Schwester, Frau F (F) in S (Rheinland-Pfalz) lebte und versorgt wurde. Jahrelang war Frau W Betreuungs- und Begleitperson von Frau L bei deren einmal jährlich durchgeführtem mehrwöchigen Erholungsaufenthalt, den Frau L selbst und durch Zuschuß von Caritas und Blindenverband finanzierte. Hierfür erhielt Frau W kein Entgelt; die Fahrt-, Unterbringungs- und Verpflegungskosten trug Frau L. Auch im Jahre 1979 meldete sich Frau L mit der sie begleitenden Frau W als Selbstzahlerin für die Zeit vom 4. bis 25. August beim Blindenkur- und Blindenerholungs-"Rudolf Kraemer" Heim in Bad Liebenzell (Baden-Württemberg) an, in dem kein Pflegepersonal zur Betreuung der Blinden beschäftigt war. Auf dem Weg mit Frau L vom Speisesaal ins Zimmer stürzte Frau W am 5. August 1979 beim Verlassen des Fahrstuhls im 4. Obergeschoß und zog sich eine Lendenwirbelkörperfraktur zu, für deren Behandlung die Klägerin ca 10.700,-- DM verauslagte.
Der Beklagte lehnte die im Jahre 1983 erhobenen Erstattungsansprüche der Klägerin ab.
Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 4. April 1986 die von der Klägerin hilfsweise in Anspruch genommene Beigeladene verurteilt, der Klägerin Ersatzleistung aus Anlaß des Unfalles der Frau W zu erbringen. Bei der Betreuung der kranken Frau L handele es sich, so hat das SG ausgeführt, um ein Unternehmen, das der Wohlfahrtspflege als planmäßige, zum Wohle der Allgemeinheit und nicht des Erwerbs wegen ausgeübter vorübergehender oder abhelfender, unmittelbarer Hilfsleistung für gesundheitlich, sittlich oder wirtschaftlich notleidende oder gefährdete Mitmenschen zuzurechnen sei.
Auf die Berufung der Beigeladenen hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG geändert und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Ersatzleistungen wegen des Unfalles der Frau W vom 5. August 1979 zu erbringen (Urteil vom 25. März 1987). Es hat zur Begründung ua ausgeführt: Frau W sei nicht nach § 539 Abs 1 Nr 7 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gegen Arbeitsunfall versichert gewesen. Der Begriff der Wohlfahrtspflege werde von der Rechtsprechung dahingehend definiert, daß hierunter eine planmäßige, zum Wohle der Allgemeinheit und nicht des Erwerbs wegen ausgeübte unmittelbare vorbeugende oder abhelfende Hilfeleistung für gesundheitlich, sittlich oder wirtschaftlich gefährdete oder notleidende Menschen zu verstehen sei. Das Tatbestandsmerkmal der Planmäßigkeit sei hier nicht erfüllt. Der Versicherungsschutz von Frau W sei jedoch nach § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO gegeben. Die dem Willen von Frau L entsprechende Begleitung während der Kur habe dem Haushalt von Frau L wesentlich gedient. Nach den Gesamtumständen habe Frau L während ihres jeweiligen jährlichen Erholungsurlaubs in einem Hotelbetrieb ein eigenes Haushaltsunternehmen geführt. Die Beklagte sei daher auch der zuständige Unfallversicherungsträger.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Er führt zur Begründung aus: Frau W habe eine Tätigkeit auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege ausgeübt. Es sei weder eine Tätigkeit innerhalb der organisierten Wohlfahrtspflege noch eine planmäßige Verrichtung gefordert. Mit einem Gegenschluß aus dem Urteil vom 12. März 1974 (2 RU 7/72) lasse sich vorliegend feststellen, daß Frau W zumindest unternehmerähnlich, dh also freiberuflich tätig geworden sei. Frau W habe auch zumindest mit gewisser Planmäßigkeit gehandelt, da sie Frau L jährlich begleitet habe. Dagegen fehle es bei der Hilfskonstruktion des LSG daran, daß Frau L für die Zeit des Kuraufenthalts einen eigenen Haushalt begründet habe, an der Planmäßigkeit für das Unternehmen Haushalt. Frau W sei auch nicht für den Haushalt der Schwester von Frau L tätig geworden. Dem Haushalt der Schwester habe die Tätigkeit nur entfernt und nur mittelbar insoweit gedient, als der Haushalt für die Zeit der Abwesenheit Kosten und für die Schwester der betreuten Frau L Arbeitszeit und Aufwand erspart habe.
Der Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 25. März 1987 aufzuheben und die gegen den Beklagten gerichtete Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beigeladene beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Klägerin und Beigeladene halten das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist nicht begründet.
Das LSG hat zu Recht den Beklagten als den für die Entschädigung der durch den Unfall vom 5. August 1979 entstandenen gesundheitlichen Folgen zuständigen Versicherungsträger angesehen und zur Erstattungsleistung gegenüber der Klägerin verurteilt.
Frau W ist bei der Betreuung von Frau L nicht nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO aufgrund eines Arbeits- oder Dienstverhältnisses gegen Arbeitsunfall versichert gewesen. Im Unfallzeitpunkt hat sie nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht in einem Beschäftigungsverhältnis zu Frau L gestanden.
Für Frau W hat auch nicht nach § 539 Abs 1 Nr 7 RVO Versicherungsschutz bestanden. Sie ist im Unfallzeitpunkt nicht freiberuflich (selbständig) tätig gewesen. Zwar gehört die Pflege hilfsbedürftiger Blinder ebenso wie die - bei Frau L auch in Betracht kommende - Altenpflege zur Wohlfahrtspflege iS des § 539 Abs 1 Nr 7 RVO (s BSGE 58, 210, 212; Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, 4. Aufl, § 539 RdNr 14.5). Auch ist es für den Versicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 7 RVO unerheblich, ob die Tätigkeit in der Wohlfahrtspflege gegen Entgelt oder ehrenamtlich ausgeübt wird, und der Versicherungsschutz nach dieser Vorschrift ist nicht auf Tätige in der "organisierten" öffentlichen oder privaten Wohlfahrtspflege beschränkt, sondern umfaßt auch und gerade die freiberuflich (selbständig) in der Wohlfahrtspflege Tätigen, soweit nicht ausdrücklich ihre Versicherungsfreiheit bestimmt ist (BSG Urteil vom 12. März 1974 - 2 RU 7/72 - USK 7426; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl, S 472w; Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 539 Anm 44; Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens aaO). Frau W verrichtete jedoch nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG keine freiberufliche Tätigkeit auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege. Frau W war damals fast 81 Jahre alt und übte keinen Beruf aus. Sie war eine Bekannte der pflegebedürftigen Frau L, die sie einmal im Jahr während des Kuraufenthaltes betreute. Selbst wenn für die freiberufliche Tätigkeit in der Wohlfahrtspflege, etwa als selbständige Hauspflegerin, nicht alle Merkmale vorhanden sein müßten, die üblicherweise für eine unternehmerische Tätigkeit gefordert werden, ist Frau W unter den dargelegten Umständen nicht als freiberuflich Tätige anzusehen. Sie hatte eine selbständige wohlfahrtspflegerische oder ähnliche Tätigkeit zuvor nicht ausgeübt und insbesondere eine solche Tätigkeit im Falle der Frau L auch nicht angestrebt. Sie betreute Frau L in der ihr fremden Umgebung bei den Verrichtungen des täglichen Lebens und den Verrichtungen, die während des vierwöchigen Kuraufenthalts angefallen sind. Es handelt sich um eine auf diese relativ kurze Zeit beschränkte freundschaftliche Hilfe für die hilfsbedürftige Bekannte. Auch das Urteil des BSG vom 12. März 1974 (aaO) läßt nicht, wie die Revision meint, den "Gegenschluß" zu, Frau W sei im Unfallzeitpunkt "unternehmerisch", zumindest unternehmerähnlich in der Wohlfahrtspflege tätig gewesen; vielmehr gleichen die diesem Urteil zugrundeliegenden tatsächlichen Verhältnisse, soweit sie die Beurteilung der Voraussetzungen des § 539 Abs 1 Nr 7 RVO betreffen, denen des vorliegenden Falles. Aus diesen Erwägungen kommt es hier entgegen der Auffassung der Revision nicht auf eine nähere Abgrenzung an, ob und in welchem Umfang Tätigkeiten in der Wohlfahrtspflege ein planmäßiges Handeln voraussetzen. Deshalb greift auch ihre Verfahrensrüge nicht durch (s § 170 Abs 3 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Frau W ist jedoch nach § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO versichert gewesen, da sie wie eine im Haushalt Beschäftigte Frau L bei den Verrichtungen des täglichen Lebens geholfen hat (vgl zum Versicherungsschutz nach § 539 Abs 2 RVO bei der Hilfe für Blinde ua BSG SozR 2200 § 539 Nr 93 mwN). Frau W verrichtete eine ernstliche, dem Haushalt dienende Tätigkeit, die dem mutmaßlichen und hier sogar dem wirklichen Willen der Frau L entsprach. Die verrichtete Tätigkeit konnte auch ihrer Art nach von Personen verrichtet werden, die in einem dem allgemeinen Arbeitsmarkt zuzurechnenden Beschäftigungsverhältnis stehen, und sie wurde unter solchen Umständen geleistet, daß sie auch nach den Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalles einer Tätigkeit aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses iS des § 539 Abs 1 Satz 1 RVO ähnlich war (s ua BSGE 5, 168, 173; BSG Urteil vom 27. Oktober 1987 - 2 RU 9/87 -; Brackmann aaO S 475n bis 476e). Dem Versicherungsschutz nach dieser Vorschrift steht nicht entgegen, daß Frau W ihre Tätigkeit aus freundschaftlicher Verbundenheit zu Frau L verrichtet hat (BSG Urteil vom 26. November 1987 - 2 RU 34/86 -; Brackmann aaO S 475u mit zahlreichen Nachweisen zur Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG-) und Frau L sich eine bei ihr gegen Entgelt beschäftigte Hilfe finanziell wohl nicht hätte leisten können (BSGE 34, 240, 242; 35, 140, 142; BSG Nr 16 zu § 537 RVO aF; BSG SozR 2200 § 539 Nr 55; Brackmann aaO S 476c). Abweichend vom LSG ist der Senat allerdings der Auffassung, daß Frau L in Bad Liebenzell durch ihren Aufenthalt im Blindenerholungsheim dort weder nach der Art noch nach der Dauer des Aufenthalts einen eigenen Haushalt begründet hat. In diesem Fall wäre zudem der Beklagte nicht der zuständige Versicherungsträger gewesen (s § 657 Abs 1 Nr 3, § 656 RVO). Auch hinsichtlich der Zuständigkeit des Beklagten kann es aber dahinstehen, ob Frau L in Speyer einen eigenen Haushalt hatte oder ob sie ohne eigenen Haushalt in dem ihrer Schwester wohnte. Selbst wenn, wie die Revision meint, Frau L in Speyer keinen eigenen Haushalt führte, so hat für Frau W Versicherungsschutz nach § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO bestanden und der Beklagte ist der zuständige Unfallversicherungsträger, weil Frau W dann wie eine Beschäftigte im Haushalt der Schwester von Frau L tätig war. Geht man davon aus, daß Frau L vor allem wegen ihrer Behinderung keinen eigenen Haushalt führte, vielmehr in den Haushalt ihrer Schwester eingegliedert war, umfaßte die Haushaltsführung ihrer Schwester nicht nur deren den Haushalt betreffenden Angelegenheiten, sondern auch die von Frau L und dabei insbesondere deren Betreuung. Wie bei allen anderen Haushalten war auch durch einen Urlaub oder Kuraufenthalt die Zugehörigkeit von Frau L zum Haushalt ihrer Schwester nicht beendet. Zu den dem Haushalt der Schwester von Frau L dienenden Verrichtungen gehörte die Betreuung der blinden Frau L nicht nur während des Aufenthaltes in den Wohnräumen, sondern auch während einer vorübergehenden Abwesenheit aus Anlaß eines Kuraufenthaltes.
Frau W ist auch bei einer Verrichtung verunglückt, die der nach § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO verrichteten Tätigkeit zuzurechnen ist. Frau W hatte im Speisesaal nicht nur selbst das Essen eingenommen, sondern Frau L dorthin geleitet und sie während des Essens betreut. Der Weg nach und von dem Speisesaal diente deshalb wesentlich auch der Betreuung der blinden Frau L, so daß unter dem Gesichtspunkt der sogenannten gemischten Tätigkeit das Aufsuchen des Speiseraumes mit der versicherten Tätigkeit von Frau W in Zusammenhang stand.
Die Revision war daher zurückzuweisen.
Auch für das Revisionsverfahren sind keine Kosten zu erstatten (§ 193 Abs 4 SGG).
Fundstellen