Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeld II. Mehrbedarf. unabweisbarer laufender besonderer Bedarf. Unabweisbarkeit. Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen. Kosten für Besuche bei einem inhaftierten nichtehelichen Lebensgefährten. Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten des Leistungsberechtigten
Leitsatz (amtlich)
Die vom zu gewährleistenden Existenzminimum umfasste Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen ist nicht von vornherein auf die Beziehungspflege zu solchen Personen beschränkt, deren Verhältnis dem Schutzbereich des Art 6 Abs 1 GG unterfällt oder familienrechtlich geregelt ist.
Orientierungssatz
1. Wenn ein Mehrbedarf wegen zwischenmenschlicher Beziehungspflege geltend gemacht wird, bedarf es aufgrund des strengen Tatbestandsmerkmals der Unabweisbarkeit und der Begrenzung des Existenzminimums auf das zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt Erforderliche (vgl BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua = BVerfGE 125, 175 = SozR 4-4200 § 20 Nr 12) eines besonderen Näheverhältnisses zu der von der Beziehungspflege betroffenen Person.
2. Der Leistungsberechtigte muss, soweit zumutbar, die kostengünstigste Variante der Bedarfsdeckung wählen, bzw hat nur Anspruch auf Leistungen in dieser Höhe (vgl BSG vom 11.2.2015 - B 4 AS 27/14 R = BSGE 118, 82 = SozR 4-4200 § 21 Nr 21, RdNr 24).
Normenkette
SGB 2 § 21 Abs. 6 S. 1 Fassung: 2011-05-13, S. 2; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 7. Juli 2020 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung eines Härtefallmehrbedarfs für Besuche der Klägerin bei ihrem inhaftierten Lebensgefährten im Februar 2015.
Die Klägerin lebte im Februar 2015 allein in H. Sie unterhielt nach eigenen Angaben seit 1998 eine Beziehung zu Herrn A (im Folgenden: Lebensgefährte). Dieser befand sich seit August 2012 in Haft, zunächst in der Justizvollzugsanstalt (JVA) H, später in der JVA B, wo die Klägerin ihn regelmäßig besuchte. Der Beklagte bewilligte der Klägerin Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende für Dezember 2014 bis Mai 2015 ohne Berücksichtigung eines Härtefallmehrbedarfs (jeweils unangefochtener Bescheid vom 11.11.2014 und Änderungsbescheid vom 1.12.2014).
Im Februar 2015 beantragte die Klägerin beim Beklagten Leistungen für die Fahrten zur JVA B, wo sie ihren Lebensgefährten am 5. und am 19.2.2015 besucht habe. Sie machte unter Vorlage von Tankquittungen Kosten iHv 44,23 Euro (am 5.2.2015) und von 35,55 Euro (am 19.2.2015) geltend (insgesamt: 79,78 Euro).
Der Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 9.3.2015). Die Klägerin sei in der Lage, die Kosten aus eigenen Kräften und Mitteln in vollem Umfang zu decken. Es lägen keine temporäre Bedarfsgemeinschaft und kein besonderer, unabweisbarer Bedarf vor. Den Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 30.3.2015). Die Fahrtkosten stellten keinen unabweisbaren Bedarf dar; sie seien aus dem Regelbedarf zu bestreiten. Es handele sich nicht um Kosten, die durch die Wahrnehmung eines Umgangsrechts entstünden; vielmehr seien sie mit den Kosten privater Besuche vergleichbar.
Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 16.3.2017). Das LSG hat auf die vom SG zugelassene Berufung der Klägerin das Urteil des SG und den Bescheid des Beklagten vom 9.3.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.3.2015 aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, den Bescheid vom 11.11.2014 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 1.12.2014 abzuändern und der Klägerin für Februar 2015 weitere 79,78 Euro zu gewähren (Urteil vom 7.7.2020). Die Klägerin habe einen Anspruch auf weitere Leistungen (mindestens) in Höhe der begehrten 79,78 Euro aus § 21 Abs 6 Satz 1 SGB II.
Hiergegen richtet sich die vom Senat zugelassene Revision des Beklagten, der eine Verletzung des § 21 Abs 6 SGB II rügt. Er ist der Ansicht, dass der Bedarf nicht unabweisbar gewesen sei. Die Klägerin habe in den 17 Monaten vor dem hier streitgegenständlichen Monat die Fahrtkosten für die regelmäßigen Besuche in der JVA auf andere Weise gedeckt. Die Besuche seien zudem in Begleitung des Bruders des Inhaftierten erfolgt, sodass die Möglichkeit der Bedarfsdeckung durch Zuwendungen Dritter gegeben gewesen sei. Die Beziehung der Klägerin zu ihrem Lebensgefährten sei auch nicht mit Ehepaaren oder engen verwandtschaftlichen Beziehungen gleichzusetzen. Vor Haftantritt habe keine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft bestanden. Die Klägerin sei zu Besuchen in der JVA weder rechtlich noch sittlich verpflichtet; eine Kommunikation mittels Brief und Telefon sei möglich.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 7. Juli 2020 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 16. März 2017 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision des Beklagten zurückzuweisen.
Sie verteidigt die Entscheidung des LSG.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten hat im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht Erfolg (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Auf Grundlage der bisherigen Feststellungen des LSG kann der Senat nicht abschließend entscheiden, ob (und ggf in welcher Höhe) die Klägerin einen Anspruch auf Berücksichtigung eines Mehrbedarfs für Februar 2015 hat.
1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid des Beklagten vom 9.3.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.3.2015 (§ 95 SGG). Da es sich bei dem hier streitigen Härtefallmehrbedarf nach § 21 Abs 6 SGB II nach der Rechtsprechung des BSG nicht um einen vom Regelbedarf abtrennbaren Streitgegenstand handelt (BSG vom 12.12.2013 - B 4 AS 6/13 R - BSGE 115, 77 = SozR 4-4200 § 21 Nr 16, RdNr 11; zuletzt BSG vom 12.5.2021 - B 4 AS 88/20 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 35, RdNr 11), enthält der Bescheid vom 9.3.2015 der Sache nach die Regelung, eine Änderung des Bescheids vom 11.11.2014 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 1.12.2014 hinsichtlich der Gewährung von weiteren Leistungen für Februar 2015 abzulehnen (zur Zulässigkeit der Begrenzung des Streitgegenstandes auf einzelne Monate BSG vom 11.2.2015 - B 4 AS 27/14 R - BSGE 118, 82 = SozR 4-4200 § 21 Nr 21, RdNr 10; BSG vom 12.5.2021 - B 4 AS 88/20 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 35, RdNr 11 mwN).
2. Der Senat kann offenlassen, ob verwaltungsverfahrensrechtliche Grundlage § 40 Abs 1 SGB II iVm § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X oder § 40 Abs 2 Nr 3 SGB II iVm § 330 Abs 3 Satz 1 SGB III, § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB X ist. § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X käme zur Anwendung, wenn der Bescheid vom 1.12.2014 (vgl zur Maßgeblichkeit des Zeitpunkts des letzten Verwaltungsakts BSG vom 8.12.2020 - B 4 AS 46/20 R - BSGE 131, 128 = SozR 4-1300 § 45 Nr 24, RdNr 16) bereits bei seinem Erlass rechtswidrig gewesen wäre, weil bereits zu diesem Zeitpunkt entweder festgestanden hat, dass und in welcher Höhe der Mehrbedarf im Februar 2015 bestanden hat, oder die Voraussetzungen des § 40 Abs 2 Nr 1 SGB II (in der vom 1.4.2011 bis 31.7.2016 geltenden Fassung des Gesetzes vom 13.5.2011, BGBl I 850) iVm § 328 Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB III (heute § 41a Abs 1 Satz 1 SGB II) für eine nur vorläufige Bewilligung vorgelegen haben (vgl zur Rechtswidrigkeit eines endgültigen Bescheids auf Grundlage eines nicht vollständig aufgeklärten Sachverhalts BSG vom 29.4.2015 - B 14 AS 31/14 R - SozR 4-4200 § 40 Nr 9 RdNr 19). Wäre keine dieser beiden Voraussetzungen erfüllt, wäre § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB X einschlägig. Diese Unterscheidung ist aber hier nicht entscheidungserheblich, weil es in beiden Fallkonstellationen darauf ankommt, ob die Klägerin einen Härtefallmehrbedarfsanspruch aus § 21 Abs 6 SGB II hat; dies aber kann der Senat aufgrund fehlender Feststellungen des LSG nicht abschließend entscheiden.
a) Die Klägerin erfüllte nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG die Anspruchsvoraussetzungen für Alg II (§ 7 Abs 1 Satz 1 SGB II), denn sie hatte die Altersgrenze des § 7a SGB II noch nicht erreicht, war erwerbsfähig, hilfebedürftig und hatte ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Ausschlusstatbestand nach § 7 Abs 1 Satz 2, Abs 4 ff SGB II lag nicht vor.
b) Gemäß § 21 Abs 6 SGB II (in der hier anzuwendenden, vom 1.4.2011 bis 31.12.2020 geltenden Fassung des Gesetzes vom 13.5.2011, BGBl I 850) wird bei Leistungsberechtigten ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht (Satz 1). Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Hilfebedürftigen gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht (Satz 2). Es handelt sich bei § 21 Abs 6 SGB II um eine Ausnahmevorschrift für atypische Bedarfslagen, mit der der Gesetzgeber die vom BVerfG in seinem Urteil vom 9.2.2010 (1 BvL 1/09 - BVerfGE 125, 175 = SozR 4-4200 § 20 Nr 12) erlassene Regelungsanordnung kodifiziert hat (vgl zu den Anwendungsmaßstäben der Norm BSG vom 12.5.2021 - B 4 AS 88/20 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 35, RdNr 17). Diese Härtefallklausel dient dazu, Bedarfe zu erfassen, die aufgrund ihres individuellen Charakters bei der pauschalierenden Regelbedarfsbemessung der Art oder der Höhe nach nicht erfasst werden können (vgl BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua - BVerfGE 125, 175 [252 ff] = SozR 4-4200 § 20 Nr 12 RdNr 204 ff; Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses des Bundestages, BT-Drucks 17/1465 S 8; zuletzt BSG vom 26.11.2020 - B 14 AS 23/20 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 34 RdNr 19; BSG vom 12.5.2021 - B 4 AS 88/20 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 35, RdNr 17). Allerdings hat diese Härtefallregelung nicht die Funktion, eine (vermeintlich oder tatsächlich) unzureichende Höhe des Regelbedarfs an sich auszugleichen (BSG vom 12.5.2021 - B 4 AS 88/20 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 35, RdNr 17 mwN).
c) Ein Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter (einschließlich der Leistungen anderer Sozialleistungsträger; vgl BSG vom 12.12.2013 - B 4 AS 6/13 R - BSGE 115, 77 = SozR 4-4200 § 21 Nr 16, RdNr 22;BSG vom 20.1.2016 - B 14 AS 8/15 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 25 RdNr 21) sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht (§ 21 Abs 6 Satz 2 SGB II). Diese Definition ist nicht abschließend ("insbesondere"). Das Merkmal der Unabweisbarkeit betrifft sowohl den Aspekt des Bedarfs als solchen als auch die Frage der anderweitigen Bedarfsdeckung (BSG vom 12.5.2021 - B 4 AS 88/20 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 35, RdNr 20 mwN).
aa) Nach diesen Maßstäben ist der geltend gemachte Mehrbedarf dem Grunde nach unabweisbar, soweit er der Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums dient. Das zu gewährleistende Existenzminimum umfasst auch die Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen (BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua - BVerfGE 125, 175 [223] = SozR 4-4200 § 20 Nr 12 RdNr 135; BSG vom 28.11.2018 - B 14 AS 48/17 R - BSGE 127, 78 = SozR 4-4200 § 21 Nr 30, RdNr 14). Diese Gewährleistung ist - wie das LSG zu Recht angenommen hat - nicht von vorneherein auf die Beziehungspflege zu solchen Personen beschränkt, deren Verhältnis dem Schutzbereich des Art 6 Abs 1 GG unterfällt oder familienrechtlich geregelt ist (vgl BSG vom 28.11.2018 - B 14 AS 48/17 R - BSGE 127, 78 = SozR 4-4200 § 21 Nr 30, RdNr 18). Der Umfang der zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlichen Mittel (BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua - BVerfGE 125, 175 [223] = SozR 4-4200 § 20 Nr 12 RdNr 135; BVerfG [Kammer] vom 7.7.2010 - 1 BvR 2556/09 - BVerfGK 17, 375 [376] = SozR 4-4200 § 11 Nr 33 RdNr 9) richtet sich allein nach Art 1 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 GG (BVerfG [Kammer] vom 7.7.2010 - 1 BvR 2556/09 - BVerfGK 17, 375 [377] = SozR 4-4200 § 11 Nr 33 RdNr 10; BVerfG [Kammer] vom 29.5.2013 - 1 BvR 1083/09 - juris RdNr 10 - insoweit in BVerfGK 20, 316 nicht abgedruckt). Andere Grundrechte - und damit auch Art 6 Abs 1 GG - vermögen für die Bemessung des Existenzminimums im Sozialrecht keine weiteren Maßstäbe zu setzen (BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua - BVerfGE 125, 175 [227] = SozR 4-4200 § 20 Nr 12 RdNr 145).
Wenn ein Mehrbedarf wegen zwischenmenschlicher Beziehungspflege geltend gemacht wird, bedarf es aufgrund des strengen Tatbestandsmerkmals der Unabweisbarkeit und der Begrenzung des Existenzminimums auf das zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt Erforderliche (BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua - BVerfGE 125, 175 [223] = SozR 4-4200 § 20 Nr 12 RdNr 135) aber eines besonderen Näheverhältnisses zu der von der Beziehungspflege betroffenen Person. Das LSG hat insofern zutreffend im Anschluss an Formulierungen des BSG (vgl BSG vom 28.11.2018 - B 14 AS 48/17 R - BSGE 127, 78 = SozR 4-4200 § 21 Nr 30, RdNr 18) eine tatsächlich gelebte Beziehung von besonderer Nähe verlangt, die durch wechselseitige Verantwortlichkeit füreinander sowie Rücksichtnahme- und Beistandsbereitschaft geprägt ist und deshalb für die individuelle personale Existenz herausgehobene Bedeutung hat. Diese Voraussetzung kann auch erfüllt sein, wenn keine Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft iS des § 7 Abs 3 Nr 3 Buchst c SGB II vorliegt, aber die beiden betroffenen Personen in einer ähnlich engen, exklusiven und gegenüber anderen zwischenmenschlichen Beziehungen der leistungsberechtigten Person prioritären Beziehung gelebt haben. Ob diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind, kann der Senat anhand der Feststellungen des LSG nicht abschließend beurteilen. In die Beurteilung, ob ein derart hinreichendes Näheverhältnis besteht, ist insbesondere auch die Situation vor Beginn der durch die Inhaftierung verursachten räumlichen Trennung einzubeziehen (vgl zur Bedeutung des "gelebten Verhältnis[ses] des Beteiligten" BSG vom 28.11.2018 - B 14 AS 47/17 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 32 RdNr 20; BSG vom 28.11.2018 - B 14 AS 48/17 R - BSGE 127, 78 = SozR 4-4200 § 21 Nr 30, RdNr 19).
bb) Dass die Reisekosten für die Pflege der zwischenmenschlichen Beziehungen insofern nicht zur Disposition der Klägerin und ihres Lebensgefährten standen, weil ihnen ein Zusammenleben am selben Wohnort nicht möglich war (vgl zur Bedeutung von Einsparmöglichkeiten BSG vom 11.2.2015 - B 4 AS 27/14 R - BSGE 118, 82 = SozR 4-4200 § 21 Nr 21, RdNr 25 ff), ist angesichts des Umstandes, dass der Lebensgefährte inhaftiert war, evident. Die Inhaftierung des Lebensgefährten stellt eine "grundsicherungsrechtlich beachtliche Trennungssituation" dar (vgl BSG vom 28.11.2018 - B 14 AS 48/17 R - BSGE 127, 78 = SozR 4-4200 § 21 Nr 30, RdNr 17), weil die Bedarfslage insofern dem Einfluss des Besuchers und des zu Besuchenden entzogen ist (vgl BSG vom 28.11.2018 - B 14 AS 48/17 R - BSGE 127, 78 = SozR 4-4200 § 21 Nr 30, RdNr 19). Dass der Lebensgefährte die Inhaftierung durch die Führung eines straffreien Lebens hätte vermeiden können, ist in diesem Zusammenhang ohne Belang, weil es im vorliegenden Verfahren nicht um seine Rechte, sondern um subjektive Rechte der Klägerin geht. Entgegen der Auffassung des Beklagten kann die Klägerin angesichts der Dauer der Inhaftierung nicht darauf verwiesen werden, den Kontakt zu ihrem Lebensgefährten ausschließlich fernmündlich oder schriftlich aufrechtzuerhalten (vgl zur notwendigen Einzelfallbetrachtung BSG vom 28.11.2018 - B 14 AS 48/17 R - BSGE 127, 78 = SozR 4-4200 § 21 Nr 30, RdNr 22).
cc) Für die Frage, in welchem Umfang ein Bedarf als zur Sicherung des Existenzminimums dienend angesehen werden kann, ist auf den Standard der herrschenden Lebensgewohnheiten unter Berücksichtigung einfacher Verhältnisse abzustellen (vgl BSG vom 10.9.2013 - B 4 AS 12/13 R - SozR 4-4200 § 28 Nr 8 RdNr 29 mwN), im konkreten Fall also darauf, wie oft jemand, der derartige Besuche aus eigenen, knapp bemessenen finanziellen Mitteln bestreiten müsste, diese Besuche durchführen würde. Angesichts der relativ geringen Distanz zwischen dem Wohnort der Klägerin und dem Besuchsort und der damit verbundenen relativ geringen Kosten, bestehen gegen die Auffassung des LSG, dass im konkreten Fall auch aufgrund der gesundheitlichen Situation der Klägerin zwei Besuche pro Monat noch dem von Art 1 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 GG umfassten Bereich des unabdingbaren Existenzminimums zugeordnet werden können, keine revisionsrechtlichen Bedenken.
dd) Der Senat kann allerdings auch nicht abschließend entscheiden, ob der Mehrbedarf der Höhe nach insofern unabweisbar war, als die Klägerin die Höhe der Kosten nicht hätte beeinflussen können. Ein Bedarf ist dann nicht unabweisbar, wenn er nicht durch alternative Handlungen abgewendet oder vermindert werden kann (BSG vom 10.9.2013 - B 4 AS 12/13 R - SozR 4-4200 § 28 Nr 8 RdNr 29). So sind namentlich ungewollte räumliche Trennungen für den Härtefallmehrbedarf unbeachtlich, soweit der Leistungsberechtigte nicht alle ihm zumutbaren Möglichkeiten zu deren Beendigung oder Verringerung ausgeschöpft hat (vgl BSG vom 28.11.2018 - B 14 AS 47/17 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 32 RdNr 23).
Das LSG wird daher noch prüfen müssen, ob der Bedarf der Klägerin, die für die Fahrten ihr Auto benutzt hat, über einen solchen hinaus geht, der durch die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel entstanden wäre (vgl BSG vom 11.2.2015 - B 4 AS 27/14 R - BSGE 118, 82 = SozR 4-4200 § 21 Nr 21, RdNr 24). Der Leistungsberechtigte muss - auch unter dem Gesichtspunkt der Unabweisbarkeit -, soweit zumutbar, die kostengünstigste Variante der Bedarfsdeckung wählen, bzw hat nur Anspruch auf Leistungen in dieser Höhe (BSG vom 11.2.2015 - B 4 AS 27/14 R - BSGE 118, 82 = SozR 4-4200 § 21 Nr 21, RdNr 24). Möglichkeiten der Kostensenkung können sich - abhängig von Haftdauer, Alter und Vollzugsart - auch ergeben durch die Verlegung des Lebensgefährten in eine wohnortnähere JVA. Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass im wiedereröffneten Berufungsverfahren auch Feststellungen zu Mitfahrern (Fahrten mit dem Bruder) und Mitfahrgelegenheiten Hinweise auf Möglichkeiten der Kostensenkung geben können.
ee) Vom Ergebnis dieser weiteren Ermittlungen wird auch abhängen, ob der Mehrbedarf insofern unabweisbar iS von § 21 Abs 6 Satz 2 SGB II war, als er seiner Höhe nach erheblich vom durchschnittlichen Bedarf abweicht.
Bei dem Tatbestandmerkmal "erheblich" handelt es sich nach der Rechtsprechung des BSG um einen gerichtlich voll überprüfbaren unbestimmten Rechtsbegriff. Eine allgemeine Bagatellgrenze gibt es zwar nicht (dazu BSG vom 4.6.2014 - B 14 AS 30/13 R - BSGE 116, 86 = SozR 4-4200 § 21 Nr 18, RdNr 30 ff). Erheblich ist ein Bedarf aber nur dann, wenn er von einem durchschnittlichen Bedarf in nicht nur unbedeutendem wirtschaftlichen Umfang abweicht (vgl insoweit zu einer "speziellen Bagatellgrenze" BSG vom 4.6.2014 - B 14 AS 30/13 R - BSGE 116, 86 = SozR 4-4200 § 21 Nr 18, RdNr 28; vgl auch BSG vom 11.2.2015 - B 4 AS 27/14 R - BSGE 118, 82 = SozR 4-4200 § 21 Nr 21, RdNr 22 mwN). Der Gesetzgeber darf grundsätzlich darauf verweisen, dass punktuelle Unterdeckungen intern ausgeglichen werden, wenn ein im Regelbedarf nicht berücksichtigter Bedarf nur vorübergehend anfällt oder ein Bedarf deutlich kostenträchtiger ist als der statistische Durchschnittswert, der zu seiner Deckung berücksichtigt worden ist (BVerfG vom 23.7.2014 - 1 BvL 10/12 ua - BVerfGE 137, 34 = SozR 4-4200 § 20 Nr 20, RdNr 117; BSG vom 12.9.2018 - B 4 AS 33/17 R - SozR 4-4200 § 20 Nr 24 RdNr 36). Ob danach ein Bedarf erheblich ist, hängt maßgeblich von den Umständen des Einzelfalls ab.
Einschlägig ist angesichts der geltend gemachten Fahrtkosten der im Regelbedarf enthaltene Betrag für Verkehr nach Abteilung 7 (BSG vom 28.11.2018 - B 14 AS 48/17 R - BSGE 127, 78 = SozR 4-4200 § 21 Nr 30, RdNr 14), der im Jahr 2015 25,12 Euro betrug (zur methodischen Ermittlung dieses Betrages ausführlich BSG vom 12.7.2012 - B 14 AS 153/11 R - BSGE 111, 211 = SozR 4-4200 § 20 Nr 17, RdNr 72 f; zur Fortschreibung Schwabe, ZfF 2015, 1, 2). Insofern wäre zwar zu erwarten, dass die Klägerin den für Verkehr im Regelbedarf enthaltenen Anteil vollständig aufwendet (vgl BSG vom 26.1.2022 - B 4 AS 81/20 R), sofern sie im wiedereröffneten Berufungsverfahren nicht erhebliche sonstige Verkehrsaufwendungen geltend machen kann. Der monatlich geltend gemachte Bedarf von 79,78 Euro übersteigt diesen Betrag jedoch um 54,66 Euro. Dies entspricht einem Anteil von knapp 14 Prozent am maßgeblichen Regelbedarf von 399 Euro und ist damit erheblich iS des § 21 Abs 6 SGB II. Dies gilt selbst dann, wenn man berücksichtigen würde, dass die Klägerin darüber hinaus auch sonstige im Regelbedarf für die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen enthaltene Beträge (vgl dazu BSG vom 28.11.2018 - B 14 AS 47/17 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 32 RdNr 15; BSG vom 28.11.2018 - B 14 AS 48/17 R - BSGE 127, 78 = SozR 4-4200 § 21 Nr 30, RdNr 14) teilweise für die Fahrtkosten verwenden könnte.
d) Zu Recht ist das LSG davon ausgegangen, dass es sich bei den Fahrtkosten um einen laufenden, nicht nur einmaligen Bedarf handelt. Das Tatbestandsmerkmal "laufender" Bedarf in § 21 Abs 6 SGB II in der bis zum 31.12.2020 geltenden Fassung setzt voraus, dass es sich um einen regelmäßig wiederkehrenden, dauerhaften und längerfristigen Bedarf handelt (Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses des Bundestages, BT-Drucks 17/1465 S 9; BSG vom 4.6.2014 - B 14 AS 30/13 R - BSGE 116, 86 = SozR 4-4200 § 21 Nr 18, RdNr 21). Ein laufender Bedarf liegt vor diesem Hintergrund jedenfalls dann nicht vor, wenn er sich nicht wiederholt (BSG vom 12.5.2021 - B 4 AS 88/20 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 35, RdNr 23). Es kommt aufgrund des auf eine konkret-individuelle "Sondersituation" (BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua - BVerfGE 125, 175 [255] - SozR 4-4200 § 20 Nr 12 RdNr 208) abstellenden Ausnahmecharakter des § 21 Abs 6 SGB II ("im Einzelfall") dabei auf eine Prognose anhand der individuellen Umstände des Einzelfalles an (zuletzt BSG vom 12.5.2021 - B 4 AS 88/20 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 35, RdNr 23 mwN). Im vorliegenden Fall liegt ein laufender Bedarf vor, weil der Bedarf nach den Feststellungen des LSG in der Regel zweimal pro Monat entsteht und sich damit innerhalb eines Regelbewilligungszeitraumes von damals sechs Monaten (§ 41 Abs 1 Satz 4 SGB II aF) zwölf Mal wiederholt. Nichts anderes gilt, wenn man in Form einer abstrakt-generellen Betrachtungsweise darauf abstellt, ob der geltend gemachte Mehrbedarf prognostisch typischerweise und unabhängig von Bewilligungszeiträumen nicht nur ein einmaliger Bedarf ist (so BSG vom 8.5.2019 - B 14 AS 13/18 R - BSGE 128, 114 = SozR 4-4200 § 21, Nr 31, RdNr 29; BSG vom 8.5.2019 - B 14 AS 6/18 R - juris RdNr 29), denn auch bei typisierender Betrachtung tritt der Bedarf bei längerer Inhaftierung wiederholt auf.
e) Schließlich kann abhängig von den noch zu treffenden Feststellungen des LSG auch ein besonderer Bedarf iS des § 21 Abs 6 Satz 1 SGB II vorliegen.
Ein besonderer Bedarf besteht nur, wenn die Bedarfslage eine andere ist, als sie bei typischen Empfängern von Grundsicherungsleistungen vorliegt (BSG vom 4.6.2014 - B 14 AS 30/13 R - BSGE 116, 86 = SozR 4-4200 § 21 Nr 18, RdNr 19; BSG vom 18.11.2014 - B 4 AS 4/14 R - BSGE 117, 240 = SozR 4-4200 § 21 Nr 19, RdNr 16; BSG vom 11.2.2015 - B 4 AS 27/14 R - BSGE 118, 82 = SozR 4-4200 § 21 Nr 21, RdNr 17; Knickrehm in Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Aufl 2021, § 21 RdNr 67). Es muss daher ein Mehrbedarf im Verhältnis zum "normalen" Regelbedarf gegeben sein (BSG vom 18.11.2014 - B 4 AS 4/14 R - BSGE 117, 240 = SozR 4-4200 § 21 Nr 19, RdNr 16; BSG vom 11.2.2015 - B 4 AS 27/14 R - BSGE 118, 82 = SozR 4-4200 § 21 Nr 21, RdNr 17).
Ein besonderer Bedarf der Höhe nach liegt dann vor, wenn er seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht, weil es sich um eine individuelle Konstellation handelt, die sich einer an typischen Bedarfen orientierten Pauschalierung der Leistungen entzieht. Dies ist nach dem oben Dargelegten der Fall, wenn man die geltend gemachten Kosten iHv 79,78 Euro zugrunde legt, also soweit sich im wiedereröffneten Berufungsverfahren ein Bedarf in dieser Höhe nach den noch zu treffenden Feststellungen des LSG bestätigt. Das Tatbestandsmerkmal des besonderen Bedarfs der Höhe nach überlappt sich insofern mit der Erheblichkeit im Rahmen des Tatbestandsmerkmals der Unabweisbarkeit. Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, ob es sich bei den Fahrtkosten der Klägerin bereits um einen besonderen Bedarf dem Grunde nach handelt (so für die mit dem Umgangsrecht verbundenen Kosten BSG vom 4.6.2014 - B 14 AS 30/13 R - BSGE 116, 86 = SozR 4-4200 § 21 Nr 18, RdNr 25).
3. Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Meßling Söhngen Burkiczak
Fundstellen
NJW 2022, 10 |
FEVS 2023, 14 |
NDV-RD 2022, 138 |
NZS 2022, 714 |
SGb 2022, 166 |
ZfF 2022, 279 |
Breith. 2023, 170 |
NZFam 2023, 189 |