Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeld II. Mehrbedarf. unabweisbarer laufender besonderer Bedarf. Fahrkosten zu ärztlichen und psychotherapeutischen Behandlungen. tatsächliche Aufwendungen. keine erhebliche Überschreitung des Regelbedarfsanteils für Verkehr
Orientierungssatz
1. Mit dem Charakter des Härtefallmehrbedarfs gemäß § 21 Abs 6 SGB 2 als Leistung für besondere Bedarfslagen im Einzelfall ist es im Grundsatz nicht vereinbar, anstelle der Ermittlung des tatsächlichen Mehrbedarfs von Pauschalen auszugehen. Der Berücksichtigung von Kilometerpauschalen für Fahrkosten bei Nutzung eines Kraftfahrzeugs steht ua entgegen, dass in diesen jeweils weitere mit der Haltung eines Kraftfahrzeugs verbundene Kosten enthalten sind. Hat der Leistungsberechtigte kein eigenes Fahrzeug benutzt, kommt weder die Berücksichtigung einer Kilometerpauschale nach BRKG noch eine Pauschale in Anlehnung an andere Kostentabellen in Frage. Dem steht das Urteil des BSG vom 4.6.2014 - B 14 AS 30/13 R = BSGE 116, 86 = SozR 4-4200 § 21 Nr 18 nicht entgegen.
2. Weitere grundsätzlich notwendige Ermittlungen zur tatsächlichen bzw konkreten Höhe der entstandenen Fahrkosten sind entbehrlich, wenn die Höhe der geltend gemachten Fahrkostenbeträge - unter Berücksichtigung des Regelbedarfsanteils für Verkehrsaufwendungen - keinen erheblichen, vom durchschnittlichen Bedarf abweichenden Mehrbedarf im Sinne des § 21 Abs 6 SGB 2 begründen. Dies gilt auch bei Fahrkosten zur Wahrnehmung von Arztterminen.
Normenkette
SGB 2 § 21 Abs. 6 Sätze 1-2, § 20 Abs. 1; BRKG § 5 Abs. 1; BRKG 2005 § 5 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landesozialgerichts vom 10. Juli 2019 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt höheres Alg II. Die Beteiligten streiten um die Berücksichtigung von Fahrtkosten wegen ärztlicher und psychotherapeutischer Behandlungen im Zeitraum von April bis Juli 2015 als Mehrbedarf nach § 21 Abs 6 SGB II.
Auf einen im Januar 2015 gestellten Fortzahlungsantrag des 1988 geborenen Klägers bewilligte der Beklagte zunächst vorläufig (Bescheid vom 28.1.2015) und sodann endgültig Alg II für den Zeitraum vom 1.2.2015 bis 31.7.2015 in Höhe von 776,88 Euro monatlich (Bescheid vom 9.2.2015). Dabei berücksichtigte er einen Regelbedarf in Höhe von 399 Euro sowie Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe von 377,88 Euro.
Im Juni 2015 beantragte der Kläger die Übernahme von Fahrtkosten zu ärztlichen und psychotherapeutischen Behandlungen. Dazu legte er eine Aufstellung über Fahrten von seinem Wohnort zu verschiedenen Ärzten in seinem Umkreis und zum Universitätsklinikum M im Zeitraum vom 1.4.2015 bis zum 12.6.2015 vor.
Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit der Begründung ab, die beantragte Sonderleistung sei durch den gewährten Regelbedarf abgedeckt und stelle keinen unabweisbaren Bedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts dar; für zusätzlich entstehende Fahrtkosten solle sich der Kläger an seine Krankenkasse wenden (Bescheid vom 29.7.2015; Widerspruchsbescheid vom 20.8.2015). Ein gegenüber der Krankenkasse gestellter Antrag auf Kostenübernahme für Fahrten zur ambulanten Behandlung blieb erfolglos (nicht angefochtener Bescheid vom 8.8.2015).
Das SG hat im Klageverfahren Arztberichte eingeholt und sodann - unter Zulassung der Berufung - die Klage abgewiesen (Urteil vom 8.8.2017). Der Bedarf des Klägers sei nicht unabweisbar iS des § 21 Abs 6 SGB II. Ein besonderer unabweisbarer Bedarf könne nur entstehen, soweit der im Regelsatz pauschal veranschlagte Anteil übertroffen werde. Die entstandenen Kosten würden hier bereits durch die im monatlichen Regelsatz ab 1.1.2015 enthaltenen Anteile für Gesundheitspflege (17,15 Euro) und Verkehr (25,12 Euro) erfasst. Unter Berücksichtigung einer Pauschale von 0,20 Euro pro gefahrenen Kilometer errechne sich für den streitgegenständlichen Zeitraum ein Betrag von insgesamt 128,20 Euro (641 km x 0,20 Euro). Wenn dieser Betrag auf den Bewilligungsabschnitt von sechs Monaten aufgeteilt werde, fielen monatlich durchschnittlich 21,37 Euro Fahrtkosten an, was keinen unabweisbaren Bedarf darstelle.
Die Berufung des Klägers blieb ebenfalls erfolglos (Urteil des LSG vom 10.7.2019). Das LSG hat abweichend vom SG keine Fahrten zum Universitätsklinikum M berücksichtigt, sondern ist davon ausgegangen, dass der Kläger zur Wahrnehmung von Arzt- und Behandlungsterminen im April 2015 etwa 110 km, im Mai 52 km, im Juni 82 km und im Juli 107 km mit einem Kraftfahrzeug zurückgelegt hat. Ein Mehrbedarf könne jedenfalls dann nicht verlangt werden, wenn die nachgewiesenen berücksichtigungsfähigen Aufwendungen wie hier - unter Berücksichtigung eines Betrages von 0,20 Euro pro Kilometer - durchgängig hinter den insoweit bei der Bemessung des Regelbedarfs zugrunde gelegten Beträgen zurückblieben und sich weitere Aufwendungen nicht feststellen ließen. Ob auch die im Regelbedarf enthaltenen Beträge für Gesundheitskosten herangezogen werden könnten und ob ein möglicher Ausgleich mit anderen Bedarfen berücksichtigt werden müsse, könne offenbleiben.
Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger sinngemäß eine Verletzung von § 21 Abs 6 SGB II. Es sei keine Pauschale von 0,20 Euro, sondern von 0,30 Euro pro gefahrenem Kilometer anzusetzen. Damit würden entgegen der Auffassung des LSG die im Regelbedarf enthaltenen Beträge für Verkehr jedenfalls in zwei Monaten deutlich überschritten. Ein Ausgleich mit geringeren Ausgaben in anderen Bereichen würde einen gewissen finanziellen Spielraum voraussetzen, der hier - auch wegen zu bildender Rücklagen bzw Tilgungsraten für ein Darlehen hinsichtlich der jährlich anfallenden Brillenbeschaffung (monatlich ca 53 Euro) - nicht bestehe.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Hessischen Landesozialgerichts vom 10. Juli 2019 und das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 8. August 2017 sowie den Bescheid vom 29. Juli 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. August 2015 aufzuheben, den Beklagten zu verpflichten, den Bescheid vom 9. Februar 2015 abzuändern, und den Beklagten zu verurteilen, ihm weitere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für April 2015 in Höhe von 32,64 Euro, für Mai 2015 in Höhe von 15,48 Euro, für Juni 2015 in Höhe von 24,54 Euro und für Juli 2015 in Höhe von 31,86 Euro zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist unbegründet und zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Es besteht kein Anspruch des Klägers auf weitere Grundsicherungsleistungen wegen Fahrtkosten zu ärztlichen und psychotherapeutischen Behandlungen im Zeitraum von April bis Juli 2015.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den Entscheidungen der Vorinstanzen der Bescheid vom 29.7.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.8.2015. Durch diesen Bescheid hat es der Beklagte abgelehnt, den bindenden Bescheid vom 9.2.2015 über die Gewährung von Grundsicherungsleistungen für den Bewilligungszeitraum vom 1.2.2015 bis zum 31.7.2015 zu ändern und weitere Leistungen zu zahlen. Die von dem Kläger als Mehrbedarf beanspruchten weiteren Leistungen lassen sich nach der Rechtsprechung des BSG nicht von den Regelbedarfsleistungen abtrennen, sodass sie auch nicht unabhängig von der bestehenden Leistungsgewährung geltend gemacht werden können (BSG vom 12.12.2013 - B 4 AS 6/13 R - BSGE 115, 77 = SozR 4-4200 § 21 Nr 16, RdNr 11; zuletzt BSG vom 12.5.2021 - B 4 AS 88/20 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 35 RdNr 11 mwN). Als eigener Streitgegenstand sind hingegen Leistungen für Unterkunft und Heizung anzusehen (ständige Rechtsprechung, vgl nur BSG vom 4.6.2014 - B 14 AS 42/13 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 78 RdNr 10 mwN; zuletzt BSG vom 5.8.2021 B 4 AS 82/20 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen, RdNr 13), gegen deren Höhe sich der Kläger hier nicht wendet, und die deshalb nicht Gegenstand des Verfahrens sind. Der Kläger verfolgt sein Begehren zutreffend mit einer kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- (gerichtet auf die Änderung des bindenden Bewilligungsbescheids durch den Beklagten) und Leistungsklage gemäß § 54 Abs 1, 4 SGG, um weitere Leistungen in konkret bezeichneter Höhe für den Zeitraum von April bis Juli 2015 zu erlangen.
Eine Beteiligung der Krankenkasse des Klägers am Verfahren, der gegenüber nach Maßgabe des SGB V ebenfalls Ansprüche auf Fahrtkosten wegen ärztlicher Behandlungen bestehen könnten, hatte hier weder als echte noch als unechte notwendige Beiladung (§ 75 Abs 2 SGG) zu erfolgen. Aus der Entscheidung im vorliegenden Fall folgen keine Rechtswirkungen für die Krankenkasse, wie es § 75 Abs 2 Alt 1 SGG für eine echte notwendige Beiladung voraussetzt, denn diese Entscheidung bindet die Krankenkasse nicht (so BSG vom 26.11.2020 - B 14 AS 23/20 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 34 RdNr 11 f - zur Kostenübernahme einer Kryokonservierung von Samenzellen). Einer unechten notwendigen Beiladung nach § 75 Abs 2 Alt 2 SGG steht entgegen, dass die Krankenkasse Leistungen für Fahrtkosten bereits bindend abgelehnt hat und deshalb nicht nach § 75 Abs 5 SGG verurteilt werden könnte (vgl nur B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 75 RdNr 12c). Eine fehlende notwendige Beiladung ist zudem nicht gerügt worden (vgl zu diesem Erfordernis nur BSG vom 26.11.2020 - B 14 AS 23/20 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 34 RdNr 13).
Rechtsgrundlage für einen Anspruch auf Änderung des Bewilligungsbescheids vom 9.2.2015 und auf weitere Leistungen ist § 40 Abs 2 Nr 3 SGB II in der ab dem 1.4.2011 geltenden Fassung des Gesetzes vom 24.3.2011 (BGBl I 453) iVm § 330 Abs 3 Satz 1 SGB III, § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB X sowie § 19 iVm §§ 7 ff SGB II. Danach ist ein Verwaltungsakt bei Änderung der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung aufzuheben, soweit die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt.
Der Kläger erfüllte die Anspruchsvoraussetzungen für Alg II (§ 7 Abs 1 Satz 1 SGB II), denn er hat die Altersgrenze des § 7a SGB II noch nicht erreicht, ist erwerbsfähig, hilfebedürftig und hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Ausschlusstatbestand nach § 7 Abs 1 Satz 2, Abs 4 ff SGB II besteht nicht, sodass, mangels zu berücksichtigenden Einkommens und Vermögens, jedenfalls ein Leistungsanspruch in Höhe des von dem Beklagten gewährten Regelbedarfs für den streitbefangenen Zeitraum vom 1.2.2015 bis 31.7.2015 bestand. Die von dem Kläger von April 2015 bis Juli 2015 unternommenen Fahrten und die dadurch entstandenen Fahrtkosten stellen indessen keine wesentliche Änderung iS des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X dar, denn sie führen nicht zu einem über die bewilligten Leistungen hinausgehenden Leistungsanspruch.
Nach § 21 Abs 6 SGB II (in der hier anzuwendenden, vom 1.4.2011 bis 31.12.2020 geltenden Fassung des Gesetzes vom 13.5.2011, BGBl I 850), der hier allein in Betracht kommenden Anspruchsgrundlage für höhere Leistungen, wird bei Leistungsberechtigten ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht (Satz 1). Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht (Satz 2). Es handelt sich bei § 21 Abs 6 SGB II um eine Ausnahmevorschrift für atypische Bedarfslagen, mit der der Gesetzgeber die vom BVerfG in seinem Urteil vom 9.2.2010 (1 BvL 1/09 ua - BVerfGE 125, 175 = SozR 4-4200 § 20 Nr 12) erlassene Regelungsanordnung kodifiziert hat (vgl zu den Anwendungsmaßstäben der Norm BSG vom 12.5.2021 - B 4 AS 88/20 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 35 RdNr 17). Diese Härtefallklausel dient dazu, Bedarfe zu erfassen, die aufgrund ihres individuellen Charakters bei der pauschalierenden Regelbedarfsbemessung der Art oder der Höhe nach nicht erfasst werden können (vgl BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua - BVerfGE 125, 175 [252 ff] = SozR 4-4200 § 20 Nr 12 RdNr 204 ff; Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses des Bundestages, BT-Drucks 17/1465, S 8; zuletzt BSG vom 26.11.2020 - B 14 AS 23/20 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 34 RdNr 19; BSG vom 12.5.2021 - B 4 AS 88/20 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 35 RdNr 17). Allerdings hat diese Härtefallregelung nicht die Funktion, eine (vermeintlich oder tatsächlich) unzureichende Höhe des Regelbedarfs an sich auszugleichen (BSG vom 12.5.2021 - B 4 AS 88/20 R - SozR 4 4200 § 21 Nr 35 RdNr 17 mwN).
Ein Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter (einschließlich der Leistungen anderer Sozialleistungsträger; vgl BSG vom 12.12.2013 - B 4 AS 6/13 R - BSGE 115, 77 = SozR 4-4200 § 21 Nr 16, RdNr 22;BSG vom 20.1.2016 - B 14 AS 8/15 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 25 RdNr 21) sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht (§ 21 Abs 6 Satz 2 SGB II). Diese Definition ist nicht abschließend ("insbesondere"). Das Merkmal der Unabweisbarkeit betrifft sowohl den Aspekt des Bedarfs als solchen als auch die Frage der anderweitigen Bedarfsdeckung (BSG vom 12.5.2021 - B 4 AS 88/20 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 35 RdNr 20 mwN).
Vorliegend ist zwar offen, in welcher genauen Höhe dem Kläger Kosten für die Fahrten zu seinen Arztbesuchen entstanden sind. Nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen des LSG hat der Kläger in dem streitbefangenen Zeitraum zur Wahrnehmung entsprechender Termine im April 110 km, im Mai 52 km, im Juni 82 km und im Juli 107 km mit einem Kraftfahrzeug zurückgelegt. Das LSG hat aber dahinstehen lassen, ob der Kläger ein eigenes Kraftfahrzeug besessen und genutzt hat oder ihm ein Fahrzeug von einem Dritten zur Verfügung gestellt wurde. Statt dessen hat es eine Pauschale (auf Grundlage des Bundesreisekostengesetzes ≪BRKG≫) von 0,20 Euro pro gefahrenen Kilometer zugrunde gelegt.
Mit dem Charakter des Härtefallmehrbedarfs als Leistung für besondere Bedarfslagen im Einzelfall ist es indessen im Grundsatz nicht vereinbar, anstelle der Ermittlung des tatsächlichen Mehrbedarfs von Pauschalen auszugehen. Eine unmittelbar anwendbare normative Grundlage - wie etwa § 60 Abs 3 Nr 4 SGB V oder § 3 Abs 7, § 6 Abs 1 Nr 5 Alg II-V - ist hierfür nicht ersichtlich. Der Berücksichtigung von Kilometerpauschalen für Fahrtkosten bei Nutzung eines Kraftfahrzeugs steht zudem entgegen, dass in diesen jeweils weitere mit der Haltung eines Kraftfahrzeugs verbundene Kosten enthalten sind. Somit kommt weder die Berücksichtigung einer Pauschale von 0,20 Euro auf Grundlage des BRKG noch - in Anlehnung an andere Kostentabellen - von 0,30 Euro pro gefahrenem Kilometer in Betracht, wenn der Hilfebedürftige kein eigenes Fahrzeug genutzt hat. Die Berücksichtigung einer Pauschale dürfte allenfalls bei Nutzung eines eigenen Fahrzeugs zu erwägen sein, weil in diesem Fall mit Blick auf die Haltungskosten besondere Schwierigkeiten bestehen können, konkrete Kosten nachzuweisen.
Nichts anderes folgt aus dem Urteil des BSG vom 4.6.2014 (B 14 AS 30/13 R - BSGE 116, 86 = SozR 4-4200 § 21 Nr 18). Darin hat sich das BSG bezogen auf Besuchsfahrten zur Ausübung des Umgangsrechts in einem Fall, in dem der Leistungsberechtigte ein eigenes Fahrzeuge nutzte, zwar an das BRKG angelehnt. Dieser Rückgriff auf die vom BSG wörtlich so bezeichnete "gegriffene Größe" des BRKG erfolgte indessen nur zur Verdeutlichung, dass in diesem Fall von den Instanzgerichten konkret zuerkannte Fahrtkosten - im Sinne eines Mindestbetrags - jedenfalls nicht zu hoch gegriffen und deshalb erheblich seien (BSG vom 4.6.2014 - B 14 AS 30/13 R - BSGE 116, 86 = SozR 4-4200 § 21 Nr 18, RdNr 28). Eine stets zwingende Heranziehung des BRKG ergibt sich aus der Entscheidung nicht. Auch soweit das BSG zur Bestimmung der einkommensmindernden Berücksichtigung von Verpflegungsmehraufwendungen das BRKG herangezogen hat (BSG vom 11.12.2012 - B 4 AS 27/12 R - SozR 4-4225 § 6 Nr 2 RdNr 30 ff), folgt daraus wegen des vollständig anderen Regelungszusammenhangs nichts für den hier vorliegenden Fall.
Bei der Beurteilung, ob ein besonderer Bedarf bestanden hat, darf danach nicht offenbleiben, ob der Betroffene ein eigenes Kraftfahrzeug benutzt hat. Ggf wären sodann weitere Ermittlungen zur konkreten Höhe der Fahrtkosten erforderlich, etwa zu den Aufwendungen für Kraftstoff oder zu Zahlungen an den Eigentümer für die Überlassung des Kraftfahrzeugs. Solche weiteren Ermittlungen zur tatsächlichen Höhe der Aufwendungen sind hier aber entbehrlich. Der Kläger macht Leistungen in Höhe genauer monatlicher Beträge geltend, die er unter Berücksichtigung der von ihm für zutreffend gehaltenen Pauschale in Höhe von 0,30 Euro pro Kilometer errechnet hat. Die Höhe der bezifferten Beträge begründet aber keinen erheblichen, vom durchschnittlichen Bedarf abweichenden Mehrbedarf.
Bei dem Tatbestandmerkmal erheblich handelt es sich nach der Rechtsprechung des BSG um einen gerichtlich voll überprüfbaren unbestimmten Rechtsbegriff. Eine allgemeine Bagatellgrenze gibt es zwar nicht (dazu BSG vom 4.6.2014 - B 14 AS 30/13 R - BSGE 116, 86 = SozR 4-4200 § 21 Nr 18, RdNr 30 ff). Erheblich ist ein zusätzlicher Bedarf aber erst dann, wenn er von einem durchschnittlichen Bedarf in nicht nur unbedeutendem wirtschaftlichen Umfang abweicht (BSG vom 4.6.2014 - B 14 AS 30/13 R - BSGE 116, 86 = SozR 4-4200 § 21 Nr 18, RdNr 19; BSG vom 11.2.2015 - B 4 AS 27/14 R - BSGE 118, 82 = SozR 4-4200 § 21 Nr 21, RdNr 22 mwN). Das hängt maßgeblich von den Umständen des Einzelfalls ab. Als Maßstab für die Beurteilung ist heranzuziehen die Regelleistung insgesamt (vorliegend 399 Euro monatlich) und der darin enthaltene Anteil für Aufwendungen des betroffenen Bedarfs (vgl BSG vom 4.6.2014 - B 14 AS 30/13 R - BSGE 116, 86 = SozR 4-4200 § 21 Nr 18, RdNr 28; BSG vom 18.11.2014 - B 4 AS 4/14 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 19 RdNr 19). Dieser Anteil beträgt hier, weil es sich um Verkehrsaufwendungen nach Abteilung 7 handelt, auf das Jahr 2015 fortgeschrieben 25,12 Euro (zur methodischen Ermittlung dieses Betrages ausführlich BSG vom 12.7.2012 - B 14 AS 153/11 R - BSGE 111, 211 = SozR 4-4200 § 20 Nr 17, RdNr 72 f; zur Fortschreibung Schwabe, ZfF 2015, 1, 2). Damit lagen die vom Kläger für die einzelnen Monate geltend gemachten Aufwendungen - wie die Revision selbst einräumt - überhaupt nur in den Monaten April (32,64 Euro) und Juli 2015 (31,86 Euro) über dem im Regelsatz enthaltenen Anteil, und zwar mit einem Betrag in Höhe von 7,52 und 6,74 Euro, was 1,88 % bzw 1,69 % des maßgeblichen Regelbedarfs entspricht. Jedenfalls ein derart geringer Anteil kann nicht als erheblich angesehen werden. Soweit die berechneten Aufwendungen sogar noch unterhalb des im Regelbedarf berücksichtigten Anteils liegen, besteht schon kein Mehrbedarf.
Dem steht nicht entgegen, dass die Aufwendungen für Fahrten zur Wahrnehmung von Arztterminen durchgeführt wurden. Denn auch solche Aufwendungen sind dem Bedarf Verkehr zuzurechnen und - wie vom LSG zutreffend angenommen - geeignet, Mobilität zu anderen Zwecken - etwa zum Einkaufen - zu gewährleisten. Ein Bürger, der keine Grundsicherungsleistungen bezieht, aber in einfachen Verhältnissen lebt (vgl zu diesem Maßstab etwa BSG vom 10.9.2013 - B 4 AS 12/13 R - SozR 4-4200 § 28 Nr 8 RdNr 29-30 mwN), wird sich darum bemühen, notwendige Fahrten mit einem Kraftfahrzeug effektiv und wirtschaftlich zu gestalten. Aus diesem Grund ist auch ein Leistungsempfänger gehalten, unterschiedliche Verrichtungen miteinander zu verbinden, wenn er dadurch Kosten erspart. Nur ein solches Verhalten entspricht dem Leitgedanken des § 20 Abs 1 Satz 4 SGB II, wonach über die Verwendung der zur Deckung des Regelbedarfs erbrachten Leistungen eigenverantwortlich, aber unter Berücksichtigung unregelmäßig anfallender Leistungen, entschieden werden darf. Diese Sichtweise wird zudem gestützt durch die normative Vorgabe in § 21 Abs 6 Satz 2 SGB II, nach der Einsparmöglichkeiten zu berücksichtigen sind.
Vor diesem Hintergrund kann offenbleiben, ob auch die im Regelbedarf berücksichtigten Aufwendungen für Gesundheitspflege (Abteilung 6 mit einem - fortgeschrieben auf 2015 - Betrag von 17,15 Euro; vgl Schwabe, ZfF 2015, 1, 2) in die Beurteilung der Erheblichkeit einzubeziehen sind (vgl zum Mehrbedarf bei gesundheitsbedingten Aufwendungen BSG vom 26.5.2011 - B 14 AS 146/10 R - BSGE 108, 235 = SozR 4-4200 § 20 Nr 13, RdNr 25-26; BSG vom 12.12.2013 - B 4 AS 6/13 R - BSGE 115, 77 = SozR 4-4200 § 21 Nr 16, RdNr 22; zusammenfassend BSG vom 29.4.2015 - B 14 AS 8/14 R - BSGE 119, 7 = SozR 4-4200 § 21 Nr 22, RdNr 33-34; zuletzt BSG vom 26.11.2020 - B 14 AS 23/20 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 34 RdNr 23; Hessisches LSG vom 1.12.2021 - L 6 AS 359/19 - juris RdNr 118 ff). Die im Regelsatz enthaltenen Aufwendungen für Gesundheitspflege sind auf den Ausgleich von (teilweise) nicht durch Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung abgedeckten Gesundheitskosten gerichtet. Um solche Kosten könnte es sich bei Fahrtkosten zu ambulanten Behandlungen durchaus handeln, denn diese sind zwar Teil der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung, dem Grunde nach und in ihrer Höhe aber durch die §§ 60 ff SGB V begrenzt (vgl zu dieser Begrenzung und möglichen Einstandspflicht des Grundsicherungsträgers BSG vom 8.3.2016 - B 1 KR 99/15 B - RdNr 7 ff mwN).
Weil die im Regelbedarf berücksichtigten Aufwendungen für Gesundheitspflege jedenfalls für den vorliegenden Fall ohne Bedeutung sind, spielt es schließlich auch keine Rolle, dass mögliche Ansprüche gegen die Krankenkasse nicht weiterverfolgt wurden und dass der Kläger nach seinem Vortrag regelmäßige Aufwendungen für eine Brille gehabt hat. Soweit er insoweit die Beweiswürdigung und die Entscheidungsgründe des LSG mit einer Verfahrensrüge angreift, ist hierauf schon deshalb nicht weiter einzugehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Meßling Burkiczak Söhngen
Fundstellen
FEVS 2023, 21 |
SGb 2022, 165 |
ZfF 2022, 280 |