Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Arbeitsunfall. Minderung der Erwerbsfähigkeit. posttraumatische Belastungsstörung. Trauma. Ermittlungen zum konkreten Unfallhergang. erforderliche Klassifizierung der Gesundheitsstörungen nach etablierten Diagnosesystemen. DSM-V. ICD-10-GM. AWMF-Leitlinien. aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand. allgemeiner wissenschaftlicher Konsens zum DSM-V. sozialgerichtliches Verfahren. Pflicht der Gerichte zur Prüfung der Aktualität bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung. generelle Tatsachen. keine Bindungswirkung für das Revisionsgericht. Vorziehen eines nichtärztlichen Gutachtens vor einem Facharztgutachten. besonderer Begründungsbedarf. Auslegung eines Verwaltungsakts. Ablehnung einer Unfallrente. inzidente Anerkennung eines Arbeitsunfalls. Zurückverweisung
Orientierungssatz
1. Für die Feststellung eines posttraumatischen Belastungssyndroms (PTBS) kommt dem Trauma, welches durch das schädigende Ereignis vermittelt wurde, eine entscheidende Bedeutung zu. In diesem Zusammenhang können Ermittlungen des Tatsachengerichts zum konkreten Unfallhergang erforderlich werden.
2. Im Rahmen der Bemessung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) sind die Gesundheitsschäden genau zu definieren - und zwar sowohl für die positive als auch für die negative Feststellung einer Gesundheitsbeeinträchtigung.
3. Im Bereich psychischer Störungen setzt dies zwingend voraus, dass die Störung durch Einordnung in mindestens eines der gängigen Diagnosesysteme unter Verwendung der dortigen Schlüssel und Bezeichnungen exakt beschrieben wird (zB ICD = Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, DSM = Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung).
4. Die Diagnosesysteme der ICD und des DSM sowie die hierzu ergangenen konsensbasierten Begutachtungsleitlinien der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften) betreffen generelle Tatsachen, für die die Beschränkungen des § 163 Halbs 1 SGG nicht gelten und die das Revisionsgericht deshalb - auch ohne entsprechende Rüge - selbst überprüfen, feststellen und ggf eigenständig ermitteln darf.
5. Das DSM-V (5. Auflage des DSM) stellte spätestens im Jahr 2019 den allgemeinen Konsens zum aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand im Bereich psychischer Störungen dar.
6. Falls erforderlich, müssen sich Tatsachengerichte durch sachverständige Hilfe Klarheit darüber verschaffen, welches zum Zeitpunkt der Entscheidung der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der streitigen Frage ist. Ein im bisherigen Verfahren herangezogener wissenschaftlicher Erkenntnisstand ist dementsprechend bis zum Schluss auf seine Aktualität zu überprüfen, erforderlichenfalls mit Hilfe weiterer Gutachten.
7. Die Gerichte werden von einer Überprüfung des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes nicht dadurch entbunden, dass bereits die bestellten Sachverständigen ihrerseits den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand unberücksichtigt gelassen haben.
8. Zwar besteht keine verfahrensrechtliche Verpflichtung zur Einholung eines Gutachtens von einem Facharzt als Sachverständigem (stRspr; zB BSG vom 12.5.2016 - B 9 SB 101/15 B). Will ein Gericht einem nichtärztlichen Gutachten aber Vorrang vor einem ärztlichen Gutachten einräumen, versteht sich die höhere Gewichtung nicht von selbst.
9. Ein ablehnender Bescheid, mit welchem die Berufsgenossenschaft feststellt, dass eine versicherte Person wegen der Folgen ihres Arbeitsunfalls keinen Anspruch auf eine Unfallrente hat, kann dahingehend auszulegen sein, dass zumindest das Vorliegen eines Arbeitsunfalls anerkannt wird.
Normenkette
SGB VII § 56 Abs. 2 S. 1, Abs. 1 S. 1, § 8 Abs. 1; SGB X § 31; BGB §§ 133, 157; SGG §§ 103, 118 Abs. 1 S. 1, § 128 Abs. 1 Sätze 1-2, § 163 Hs. 1, § 170 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 S. 2; ZPO §§ 403, 404a Abs. 1, 3
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 29. August 2019 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Verletztenrente infolge eines Arbeitsunfalls. Strittig ist im Kern das Vorliegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS).
Der als Schlosser tätige Kläger geriet am 18.10.2009 mit dem Oberkörper in eine Maschine und zog sich dabei Rippenbrüche zu. Wegen einer mittelschweren depressiven Entwicklung im Rahmen einer akuten PTBS mit direktem Zusammenhang zum Unfallereignis ließ er sich wenige Wochen später bei einem Psychiater, Psychotherapeuten und Psychotraumatologen behandeln. Unter der Aufnahmediagnose einer PTBS nahm er vom 23.2. bis 20.4.2010 an einer stationären Rehabilitationsmaßnahme teil und wurde ua mit der Diagnose einer abklingenden Anpassungsstörung entlassen. Somatisierungstendenzen seien unfallunabhängig. Eine berufliche Wiedereingliederungsmaßnahme mit Arbeitsplatzwechsel im Sommer 2011 war erfolgreich.
Die Beklagte holte im Verwaltungsverfahren zunächst ein psychosomatisches Gutachten und nach Einwänden des Beratungsarztes gegen die darin diagnostizierte PTBS ein neuropsychologisches Hauptgutachten nebst psychologischem Zusatzgutachten mit Exposition am Arbeitsplatz ein. Das Zusatzgutachten schilderte eine Panikattacke des Klägers bei der Konfrontation mit dem Unfallort, die physiologisch habe objektiviert werden können. Eine unfallabhängige PTBS verneinte das Hauptgutachten.
Die Beklagte lehnte die Gewährung einer Verletztenrente ab (Bescheid vom 18.11.2011; Widerspruchsbescheid vom 7.5.2012). Als Folgen des Arbeitsunfalls vom 18.10.2009 erkannte sie im Anschluss an das neuropsychologische Hauptgutachten lediglich eine spezifische Phobie vor der Unfallmaschine mit damit einhergehenden Ängsten vor Enge, dies schwerer Ausprägung, sowie eine leichte Anpassungsstörung, längere depressive Reaktion leichter Ausprägung, und ohne wesentliche Folgen knöchern fest verheilte Brüche der 7. bis 10. Rippe rechts sowie der 10. Rippe links an. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage 10 vH.
Das Sozialgericht (SG) hat von Amts wegen ein neurologisch-psychiatrisch-psychosomatisches und schmerzmedizinisches Gutachten des Neurologen und Psychiaters S1 eingeholt. Dieser hat eine unfallabhängige PTBS und eine anhaltende depressive Episode, zurzeit leicht ausgeprägt, festgestellt. Die MdE hat er auf 30 vH geschätzt. Weitere Gesundheitsbeeinträchtigungen hat er als unfallunabhängig bewertet. Anschließend hat das SG ein nervenärztliches Gutachten des Neurologen und Psychiaters S2 nebst Zusatzgutachten des Neuropsychologen S3 eingeholt. S3 hat einen Ortstermin am ehemaligen Arbeitsplatz des Klägers durchgeführt. Beide Sachverständigen haben unfallabhängig eine spezifische Phobie festgestellt, die MdE haben sie auf 10 vH geschätzt. Als unfallunabhängig haben sie eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung und eine leicht rezidivierende depressive Störung angenommen.
Gestützt auf die Gutachten der Sachverständigen S2 und S3 hat das SG die Klage abgewiesen (Urteil vom 2.6.2016). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 29.8.2019). Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass beim Kläger als Folge des Arbeitsunfalls ua eine spezifische Phobie vor der Unfallmaschine einhergehend mit Ängsten vor Enge bestehe. Die Unfallfolgen begründeten jedoch keine MdE in rentenberechtigendem Ausmaß. Eine PTBS sei dagegen nicht im Vollbeweis nachgewiesen. Hierzu hat sich das LSG insbesondere auf die Bewertungen von S2 und S3 gestützt. Keines der erforderlichen Kriterien nach DSM-IV habe objektiviert nachgewiesen werden können. Die Symptomkriterien hätten insbesondere nach den Feststellungen von S3 nicht oder nicht in der vorausgesetzten Intensität verifiziert werden können. Auch das Traumakriterium sei fraglich, weil nach Angaben von S3 nach der Begehung des Unfallortes unklar geblieben sei, wieso der Kläger sich mit welcher Intention in einem abgesperrten Bereich aufgehalten habe. S3 habe insoweit die gegenteiligen Gutachten aus dem Verwaltungs- und Klageverfahren erfolgreich widerlegt.
Mit seiner Revision rügt der Kläger Verfahrensmängel und die Verletzung materiellen Rechts. Es hätte eine PTBS festgestellt und in der Folge Verletztenrente gewährt werden müssen (§ 56 Abs 1 Satz 1 SGB VII).
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 29. August 2019 und des Sozialgerichts Braunschweig vom 2. Juni 2016 sowie den Bescheid der Beklagten vom 18. November 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Mai 2012 teilweise aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger aufgrund des Arbeitsunfalls vom 18. Oktober 2009 eine Verletztenrente nach einer MdE von wenigstens 20 vH zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist zulässig (dazu A.) und im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (dazu B.; § 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Die vom LSG festgestellten Tatsachen (§ 163 Halbsatz 1 SGG) reichen für eine abschließende Entscheidung über den Anspruch des Klägers auf Verletztenrente gemäß § 56 SGB VII nicht aus.
A. Die Revision ist zulässig, insbesondere hinreichend begründet. Gemäß § 164 Abs 2 Satz 1 und 3 SGG muss die Revisionsbegründung "einen bestimmten Antrag enthalten, die verletzte Rechtsnorm und, soweit Verfahrensmängel gerügt werden, die Tatsachen bezeichnen, die den Mangel ergeben". Darüber hinaus ist bei Sachrügen mit rechtlichen Erwägungen aufzuzeigen, dass und weshalb die Rechtsansicht des Berufungsgerichts nicht geteilt wird. Es bedarf einer Auseinandersetzung mit den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils und der Darlegung, inwieweit die als verletzt gerügte Vorschrift des materiellen Bundesrechts nicht oder nicht richtig angewandt worden ist (stRspr; BSG Großer Senat Beschluss vom 13.6.2018 - GS 1/17 - BSGE 127, 133 = SozR 4-1500 § 164 Nr 9, RdNr 33 ff; BSG Urteil vom 27.11.2018 - B 2 U 28/17 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 68 RdNr 11 mwN; BSG Urteil vom 18.6.2013 - B 2 U 6/12 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 22 RdNr 12 mwN). Dem trägt die Revisionsbegründung Rechnung. Insbesondere rügt sie die Verletzung des § 56 SGB VII und im Kern hinreichend deutlich die Verwendung offenkundig veralteter medizinischer Erfahrungssätze (vgl dazu BSG Urteil vom 16.3.2021 - B 2 U 11/19 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 30 RdNr 33; BSG Urteil vom 30.3.2017 - B 2 U 6/15 R - BSGE 123, 24 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 1103 Nr 1, RdNr 18; s auch BSG Urteil vom 27.6.2019 - B 5 RS 2/18 R - BSGE 128, 219 = SozR 4-8570 § 6 Nr 8, RdNr 19 f).
B. Über den erhobenen Anspruch auf Verletztenrente (dazu 1.) kann ohne weitere Sachaufklärung nicht entschieden werden. Zwar ist vom Vorliegen eines Versicherungsfalls in Gestalt eines Arbeitsunfalls (§ 7 Abs 1, § 8 SGB VII) bereits aufgrund der Anerkennung im Bescheid vom 18.11.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7.5.2012 auszugehen (dazu 2.). Aufgrund der tatsächlichen Feststellungen des LSG kann der Senat jedoch nicht abschließend darüber entscheiden, ob und ggf welche weiteren Unfallfolgen, insbesondere eine PTBS, bei dem Kläger anzuerkennen und mit einer rentenberechtigenden MdE in Höhe von (mindestens) 20 vH zu bewerten sind (§ 56 Abs 1 Satz 1 SGB VII). Das LSG ist bei seiner Feststellung, dass in der Person des Klägers keine PTBS vorliegt, offenkundig von dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand abgewichen (dazu 3.). Ob sich das Urteil des LSG auch auf Grundlage des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes als richtig erweist, kann ohne weitere Sachermittlungen nicht entschieden werden (§ 170 Abs 1 Satz 2 SGG, dazu 4.). Das LSG wird deshalb auf Grundlage des im Zeitpunkt der erneuten Entscheidung aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes das Vorliegen einer PTBS unter Zuhilfenahme geeigneter Sachverständiger zu prüfen haben (dazu 5.). Dabei wird es im Rahmen des § 128 Abs 1 Satz 2 SGG ggf im Einzelnen darzulegen haben, welchen Beweiswert es den Angaben und Bewertungen einzelner Sachverständiger beimisst (dazu 6.). Dahinstehen kann insoweit, ob die weiteren, von der Revision geltend gemachten Verfahrensmängel vorliegen (dazu 7.).
1. Streitgegenständlich ist ein Anspruch auf Gewährung von Verletztenrente (§ 56 Abs 1 Satz 1 SGB VII), den der Kläger statthaft mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage verfolgt (§ 54 Abs 1, 4 SGG). Gegenstand des Verfahrens sind der die Verletztenrente ablehnende Bescheid vom 18.11.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7.5.2012 (§ 95 SGG) sowie das Urteil des SG vom 2.6.2016 und das Urteil des LSG vom 29.8.2019.
Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vH gemindert ist, haben Anspruch auf Verletztenrente (§ 56 Abs 1 Satz 1 SGB VII). Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs 2 Satz 1 SGB VII). Die Bemessung der MdE hängt damit zum einen von den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens und zum anderen von dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten ab. Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern vielmehr der Funktionsverlust unter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten (zB BSG Urteil vom 7.5.2019 - B 2 U 25/17 R - BSGE 128, 78 = SozR 4-2700 § 200 Nr 5, RdNr 11 mwN).
2. Ein Versicherungsfall ist eingetreten. Der Kläger hat einen Arbeitsunfall (§ 7 Abs 1, § 8 SGB VII) erlitten. Der Bescheid der Beklagten vom 18.11.2011 enthält einen Verwaltungsakt (§ 31 SGB X) über die Anerkennung des Ereignisses vom 18.10.2009 als Arbeitsunfall. Den Inhalt des Verwaltungsakts hat das Revisionsgericht in eigener Zuständigkeit festzustellen. Dabei ist Maßstab der Auslegung in entsprechender Anwendung der §§ 133, 157 BGB der "Empfängerhorizont" eines verständigen Beteiligten, der die Zusammenhänge berücksichtigt, welche die Behörde nach ihrem wirklichen Willen erkennbar in ihre Entscheidung einbezogen hat. Ausschlaggebend ist der objektive Sinngehalt der Erklärung nach dem objektivierten Empfängerverständnis. Zur Bestimmung des objektiven Regelungsgehalts eines Verwaltungsakts kommt es darauf an, wie Adressaten und Drittbetroffene ihn nach Treu und Glauben verstehen mussten oder durften. Unklarheiten gehen zu Lasten der Behörde (stRspr; vgl zuletzt BSG Urteil vom 16.3.2021 - B 2 U 7/19 R - BSGE 131, 297 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4115 Nr 1, RdNr 13 mwN).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze beinhaltet der Bescheid vom 18.11.2011 die Ablehnung eines Anspruchs auf Verletztenrente unter Anerkennung des Ereignisses vom 18.10.2009 als Arbeitsunfall. Denn er verfügt, dass der Kläger wegen der Folgen seines "Arbeitsunfalls" keinen Anspruch auf Rente hat, bezieht sich hierzu in der Begründung mehrfach auf den "Arbeitsunfall vom 18.10.2009" und auf den "Arbeitsunfall" mit nachstehend aufgeführten gesundheitlichen Beeinträchtigungen, stellt diesen die unabhängig von dem "Arbeitsunfall" vorliegenden Beeinträchtigungen des Gesundheitszustandes gegenüber und begründet abschließend, worauf sich die Entscheidung zu den Folgen des "Arbeitsunfalls" stützt. Das objektivierte Empfängerverständnis vermittelt danach die Anerkennung eines Arbeitsunfalls, unbeschadet des Umstands, ob die Beklagte mit dem Bescheid vom 18.11.2011 einen Arbeitsunfall anerkennen wollte oder nicht. Eine Klarstellung hat sie auch im Widerspruchsbescheid vom 7.5.2012 nicht vorgenommen.
Mithin bedarf es keiner Vertiefung, ob die Anmerkungen von S3 zu einer unklaren Intention des Klägers vernünftige Zweifel daran begründen, dass der Kläger im Unfallzeitpunkt eine versicherte Tätigkeit verrichtete. Ohnehin trägt der Unfallversicherungsträger entgegen den allgemeinen Grundsätzen die Beweislast dafür, dass die zuvor ausgeübte versicherte Tätigkeit im Unfallzeitpunkt für eine eigenwirtschaftliche Verrichtung unterbrochen worden ist. Denn bei Unfällen, die sich am Ort der Beschäftigung ereignen, spricht eine tatsächliche Vermutung für die Vornahme einer den Interessen des Beschäftigungsunternehmens dienenden Verrichtung zum Unfallzeitpunkt (vgl zusammenfassend BSG Urteil vom 6.10.2020 - B 2 U 9/19 R - SozR 4-1500 § 55 Nr 27 RdNr 31 mwN).
3. Der Senat ist dagegen nicht in der Lage abschließend zu beurteilen, ob das LSG eine rentenbegründende MdE von mindestens 20 vH infolge des Versicherungsfalls zu Recht verneint hat.
Entscheidend für die Bewertung der MdE als Grundlage der Bemessung der Verletztenrente sind die sich im entscheidungserheblichen Zeitraum ergebenden Funktionseinschränkungen. Deren Ausgangspunkt sind die in diesem Zeitraum vorhandenen konkreten unfallbedingten gesundheitlichen Beeinträchtigungen (BSG Urteil vom 6.10.2020 - B 2 U 10/19 R - SozR 4-2700 § 73 Nr 2 RdNr 19; BSG Urteil vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 22 mwN).
Die Gesundheitsschäden sind genau zu definieren. Im Bereich psychischer Störungen setzt dies nach der Senatsrechtsprechung zwingend voraus, dass die Störung durch Einordnung in eines der gängigen Diagnosesysteme unter Verwendung der dortigen Schlüssel und Bezeichnungen exakt beschrieben wird (zB ICD = Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, herausgegeben von der Weltgesundheitsorganisation ≪WHO≫, ins Deutsche übertragen, herausgegeben und weiterentwickelt vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information ≪DIMDI≫, nach dessen Eingliederung zum Mai 2020 in das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte ≪BfArM≫ von diesem fortgeführt; DSM = Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung ≪APA≫). Denn je genauer und klarer die gesundheitlichen Beeinträchtigungen bestimmt sind, umso einfacher sind ihre Ursachen zu erkennen und zu beurteilen sowie letztlich die MdE zu bewerten. Dies schließt begründete Abweichungen von den benannten Diagnosesystemen, zB aufgrund ihres Alters und des zwischenzeitlichen wissenschaftlichen Fortschritts, nicht aus (zuletzt BSG Urteil vom 6.10.2020 - B 2 U 10/19 R - SozR 4-2700 § 73 Nr 2 RdNr 21 mwN;BSG Urteil vom 26.11.2019 - B 2 U 8/18 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 71 RdNr 19; grundlegend BSG Urteil vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 22 mwN; s auch Spellbrink, SozSich 2019, 32, 34). Die Notwendigkeit einer exakten Beschreibung gilt auch für die negative Feststellung einer Gesundheitsbeeinträchtigung. Denn nur so kann das Rechtsmittelgericht vollständig prüfen, ob die Vorinstanz die im Streit befindliche Leistung rechtmäßig abgelehnt hat. Hiervon hat sich das LSG im Ansatz zutreffend leiten lassen. Es hat die Diagnose einer PTBS in der Person des Klägers unter Heranziehung des DSM in der 4. Auflage (DSM-IV) verneint. Damit hat sich das LSG für seine Entscheidung zwar auf ein anerkanntes Diagnosesystem gestützt. Jedoch hat es eine im Zeitpunkt seiner Entscheidung veraltete Fassung dieses Diagnosesystems herangezogen, das zumindest bezogen auf die gegenständliche Diagnose einer PTBS nicht mehr dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprach.
Tatsachengerichte haben ihrer Entscheidungsfindung - unerlässlich - den jeweils aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft zugrunde zu legen. Als aktueller Erkenntnisstand sind solche durch Forschung und praktische Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse anzusehen, die von der großen Mehrheit der auf dem betreffenden Gebiet tätigen Fachwissenschaftler anerkannt werden, über die also, von vereinzelten, nicht ins Gewicht fallenden Gegenstimmen abgesehen, Konsens besteht (zuletzt BSG Urteil vom 16.3.2021 - B 2 U 11/19 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 30 RdNr 34 mwN; BSG Urteil vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 20). Falls erforderlich müssen sich Tatsachengerichte durch sachverständige Hilfe Klarheit darüber verschaffen, welches zum Zeitpunkt der Entscheidung der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der streitigen Frage ist. Ein im bisherigen Verfahren herangezogener wissenschaftlicher Erkenntnisstand ist dementsprechend bis zum Schluss auf seine Aktualität zu überprüfen, erforderlichenfalls mit Hilfe weiterer Gutachten. Einer Änderung des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes ist Rechnung zu tragen (BSG Urteil vom 16.3.2021 - B 2 U 11/19 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 30 RdNr 34; BSG Urteil vom 6.10.2020 - B 2 U 10/19 R - SozR 4-2700 § 73 Nr 2 RdNr 27 mwN; BSG Urteil vom 30.3.2017 - B 2 U 6/15 R - BSGE 123, 24 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 1103 Nr 1, RdNr 18; BSG Beschluss vom 24.7.2012 - B 2 U 100/12 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 24 RdNr 18-19; grundlegend BSG Urteil vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 19). Die Gerichte werden von einer Überprüfung des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes insbesondere nicht dadurch entbunden, dass - wie hier - bereits die bestellten Sachverständigen ihrerseits den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand unberücksichtigt gelassen haben.
Das LSG hat für die negative Feststellung einer PTBS beim Kläger auf die im Zeitpunkt seiner Entscheidung nicht mehr geltende Fassung des DSM-IV abgestellt. Bereits seit Mai 2013 war das DSM in seiner 5. Auflage in Kraft (DSM-V, 2013 in den USA veröffentlicht, seit 2014 in der deutschen Fassung vorliegend). Bezogen auf die streitgegenständliche PTBS enthielt das DSM-V den aktuellsten wissenschaftlichen Erkenntnisstand.
Der Senat ist zu dieser Feststellung befugt, weil die Diagnosesysteme der ICD wie des DSM generelle Tatsachen betreffen, für die die Beschränkungen des § 163 Halbsatz 1 SGG nicht gelten und die das Revisionsgericht deshalb - auch ohne entsprechende Rüge (§ 163 Halbsatz 2 SGG) - selbst überprüfen, feststellen und ggf eigenständig ermitteln darf. Allgemeine (generelle) Tatsachen (Rechtstatsachen) sind dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht nur für die Rechtsfindung im Einzelfall, sondern für eine Vielzahl von Fällen gleichermaßen bedeutsam sind. Welche Bedeutung ihnen zukommt, kann daher nicht von Fall zu Fall und von Gericht zu Gericht unterschiedlich bewertet werden. Es ist vielmehr Aufgabe des Revisionsgerichts, durch Ermittlung, Feststellung und Würdigung derartiger Tatsachen die Einheitlichkeit der Rechtsprechung sicherzustellen und so die Rechtseinheit zu wahren (BSG Urteil vom 26.11.2019 - B 2 U 8/18 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 71 RdNr 20; BSG Urteil vom 16.3.2021 - B 2 U 11/19 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 30 RdNr 33 mwN; BSG Urteil vom 27.6.2019 - B 5 RS 2/18 R - BSGE 128, 219 = SozR 4-8570 § 6 Nr 8, RdNr 13 mwN).
Die gängigen Diagnosesysteme der ICD und des DSM sind generelle Tatsachen, für die die Beschränkung aus § 163 Halbsatz 1 SGG nicht gilt. Das ICD stellt ein weltweit anerkanntes System dar, mit dem medizinische Diagnosen einheitlich benannt werden. Das DSM ist ein auf psychische Störungen begrenztes Klassifikationssystem, welches im Vergleich zum ICD stärker operationalisiert ist. Dieses kann alternativ oder ergänzend zum ICD herangezogen werden und stellt den repräsentativen aktuellen medizinischen Erkenntnisstand im Bereich der Psychiatrie dar (vgl zu ICD und DSM zB Spieß-Kiefer/Kiefer/Berbig, MedSach 2021, 201, 202; Widder, MedSach 2020, 102; Dreßing, Hessisches Ärzteblatt 2016, 271; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl 2017, 150, 160 f).
Generelle Tatsachen stellen (zumindest ab Entwicklungsstufe 2) auch die hierzu ergangenen konsensbasierten Begutachtungsleitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) dar. Die AWMF koordiniert (seit 1995, auf Anregung des "Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen") die Entwicklung, Aktualisierung und Erweiterung von Leitlinien für Diagnostik und Therapie durch die einzelnen Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften und veröffentlicht diese Leitlinien. Die konsensbasierte AWMF-Leitlinie zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen der Klasse S2k wurde von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN) entwickelt und gilt als repräsentativ (vgl zur Klassifikation der AWMF-S2-Leitlininen: https://www.awmf.org/leitlinien/awmf-regelwerk/leitlinien-register/klassifikation-der-entwicklungsstufe-s2e-und-s2k.html).
ICD, DSM sowie die hierzu ergangenen konsensbasierten Begutachtungsleitlinien der AWMF sind insoweit revisionsrechtlich darauf überprüfbar, ob sie dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechen (vgl zu den von der WHO herausgegebenen klinisch-diagnostischen Leitlinien BSG Urteil vom 26.11.2019 - B 2 U 8/18 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 71 RdNr 20; vgl zu den zur Feststellung einer BK heranzuziehenden Quellen, Fachbücher, Standardwerke, Merkblätter des zuständigen Ministeriums, Begründungen des Sachverständigenbeirats, Konsensempfehlungen etc zB BSG Urteil vom 30.3.2017 - B 2 U 6/15 R - BSGE 123, 24 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 1103 Nr 1, RdNr 18).
Das LSG hat sich für seine Entscheidung auf das DSM-IV gestützt, ohne den seit Mai 2013 im DSM-V enthaltenen aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand heranzuziehen. Zwar mögen für eine gewisse Zeitspanne nach Einführung neuer Diagnosekriterien vor dem Hintergrund des wissenschaftlichen Diskurses noch Zweifel begründet sein können, dass diese bereits den aktuellen Erkenntnisstand im Sinne der Mehrheit der Wissenschaftler des jeweiligen Fachgebietes wiedergeben. Auch für diese Übergangsphase ist indes zu beachten, dass Einzelmeinungen einen allgemeinen Konsens in der Wissenschaft nicht zu erschüttern vermögen (zB BSG Urteil vom 30.3.2017 - B 2 U 6/15 R - BSGE 123, 24 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 1103 Nr 1, RdNr 18; BSG Urteil vom 23.4.2015 - B 2 U 10/14 R - BSGE 118, 255 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 6, RdNr 21; BSG Urteil vom 23.4.2015 - B 2 U 6/13 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 7 RdNr 21). Im Jahr 2019 war hingegen eine derartige Übergangszeit offenkundig abgelaufen. Denn das DSM-V stellte zu dieser Zeit den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand dar (vgl trotz Detailkritik zB Widder/Dreßing/Gonschorek/Tegenthoff/Drechsel-Schlund, MedSach 2016, 156; Stevens/Fabra, MedSach 2015, 162). Inzwischen wird die Gültigkeit des DSM-V als aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisstand in der Wissenschaft ohnehin nicht mehr allgemein angegriffen, insbesondere nicht bzgl der Diagnose der PTBS. Von ihrer Aktualität wird vielmehr ohne Weiteres ausgegangen (zB Spieß-Kiefer/Kiefer/Berbig, MedSach 2021, 201, 202; Widder, MedSach 2020, 102; Spellbrink, MedSach 2020, 114; Ulmer, MedSach 2020, 134; Spellbrink, SozSich 2019, 32; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl 2017, 154 f, 160 f; s auch die Begutachtungsleitlinie der AWMF zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen, die eindeutig von der Aktualität des DSM-V ausgeht, ohne zeitlich zwischen dem In-Kraft-Treten des DSM-V und der Überarbeitung der AWMF-Leitlinie im Dezember 2019 zu differenzieren: AWMF-Register Nr 051-029l, Teil II 1., Teil III 1., Teil III 4.; konkret für PTBS: Teil III 4.2.2; s auch den zugehörigen Leitlinien-Report, AWMF-Register Nr 051-029m, S 4).
Soweit dem DSM-V vereinzelt noch in der obergerichtlichen Rechtsprechung unter Hinweis auf Bedenken pauschal die Validität für die Feststellung einer PTBS abgesprochen wird (LSG Baden-Württemberg Urteil vom 22.6.2022 - L 6 VG 2800/21 - juris RdNr 81; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 19.7.2018 - L 6 U 2309/17 - juris RdNr 48; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 27.8.2015 - L 6 VS 4569/14 - juris RdNr 41), handelt es sich bei den zur Begründung herangezogenen Fundstellen um wissenschaftliche Stellungnahmen aus den Jahren 2013 und 2015. Die Quellen stellen Einzelmeinungen dar, die den im DSM-V abgebildeten aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft nicht erschüttern und sind überdies durch aktuellere wissenschaftliche Äußerungen überholt.
4. Ob sich das Urteil des LSG auch auf Grundlage des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes als richtig erweist, kann ohne weitere Sachermittlungen nicht entschieden werden (§ 170 Abs 1 Satz 2 SGG).
Der Senat vermag anhand der Feststellungen des LSG vorliegend nicht abschließend darüber zu entscheiden, ob in der Person des Klägers eine PTBS vorlag oder nicht. Den für das LSG im Zeitpunkt seiner Entscheidung maßgeblichen Erkenntnisstand bilden das ICD-10 sowie das DSM-V ab. Sowohl das ICD-10 als auch das DSM-V enthalten vergleichbar zum DSM-IV für die Diagnose einer PTBS neben einem Traumakriterium (A-Kriterium; DSM-IV noch A1- und A2-Kriterium) Symptomkriterien - unter anderem - im Sinne eines Wiedererlebens (B-Kriterium) und eines Vermeidungsverhaltens (C-Kriterium). Diese Symptomkriterien sind zwingend erforderlich (vgl zB Spieß-Kiefer/Kiefer/Berbig, MedSach 2021, 201, 202 f; Dreßing, Hessisches Ärzteblatt 2016, 271, 272). Das LSG hat ihr Vorliegen auf Grundlage des Gutachtens von S3 verneint. An diese Bewertung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) ist der Senat für die Prüfung der Kriterien nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand indes nicht gebunden. Denn trotz der im Ausgangspunkt bestehenden Vergleichbarkeit unterscheiden sich die konkreten Diagnosekriterien sowohl des ICD-10 als auch des DSM-V erkennbar von denen des DSM-IV. So wurde das DSM-V im Vergleich zum DSM-IV systematisch umgestaltet und enthält umfassendere Erläuterungen zu den jeweiligen Diagnosen. Die PTBS wird nun (gemeinsam ua mit der akuten Belastungsstörung und der Anpassungsstörung) in einem neuen Kapitel der Trauma- und belastungsbezogenen Störungen aufgeführt. Die Zuordnung in das Kapitel der Angststörungen wurde dagegen aufgegeben. Auch innerhalb der Kriterien der PTBS ist eine relevante Umgestaltung erfolgt. Das Traumakriterium ("Stressor-Kriterium", A-Kriterium) umfasst nun genauer Ereignisse, die als "traumatisch" aufgefasst werden können. Dagegen verzichtet das DSM-V auf das Erfordernis emotionaler Reaktionen im Sinne einer subjektiven Beeindruckung durch das traumatische Ereignis (zB Furcht, Hilflosigkeit, Entsetzen - subjektives Trauma-Erleben; A2-Kriterium nach DSM-IV) und bezieht in die Symptomkriterien nun gesondert anhaltende negative Veränderungen von Kognitionen und Stimmung im Zusammenhang mit dem oder den traumatischen Ereignissen ein (D-Kriterium nach DSM-V). Letzteres beinhaltet neue oder veränderte Symptome wie anhaltende negative emotionale Zustände.
Die Zusatzcodierung des Subtyps einer PTBS mit dissoziativen Symptomen ist im DSM-V ebenfalls neu. Das DSM-V enthält ferner präzisere Beschreibungen möglicher Differenzialdiagnosen. Unter diesen ist insbesondere die Anpassungsstörung nicht mehr als bloße Restkategorie aufzufassen (vgl zu alldem Falkai/Wittchen, DSM-V, 2. Aufl 2018, 369 ff, 1111 f; Saß/Wittchen/Zaudig, DSM-IV, 3. Aufl 2001, 707; s auch AWMF-Leitlinie zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen - AWMF-Register Nr 051-029l, Teil III 4.2, Teil III 4.4; s auch Ulmer, MedSach 2020, 134, 136; Widder, MedSach 2020, 102, 104 f). Dem Senat ist es daher aus eigener Sachkunde nicht möglich, die Übertragbarkeit der Diagnosekriterien einer PTBS von dem einen Diagnosesystem auf das andere bzw deren verschiedenen Fassungen und in der Folge die Richtigkeit der Entscheidung des LSG aus anderen Gründen iS von § 170 Abs 1 Satz 2 SGG festzustellen. Denn dies umfasst eine medizinische Bewertung des Einzelfalls.
Ebenso wie den Tatsachengerichten ist es auch dem BSG bei fehlender Sachkunde verwehrt, medizinische Beurteilungen selbst vorzunehmen. Die Ermittlung medizinischer Sachverhalte hat vielmehr regelmäßig unter Heranziehung sachverständiger Hilfe zu erfolgen. Die Ermittlung und Feststellung der Kriterien im Einzelfall als Voraussetzung einer medizinischen Diagnose obliegt dabei den Tatsachengerichten. Denn es handelt sich bei diesen nicht um allgemeine oder generelle Tatsachen, die das Revisionsgericht unter Umständen eigenständig ermitteln könne (vgl BSG Großer Senat Beschluss vom 12.12.2008 - GS 1/08 - BSGE 102, 166 = SozR 4-1500 § 41 Nr 1, RdNr 33).
5. Das LSG wird somit auf Grundlage des im Zeitpunkt der erneuten Entscheidung aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes das Vorliegen einer PTBS unter Zuhilfenahme geeigneter Sachverständiger zu prüfen haben.
Dabei wird zu berücksichtigen sein, dass dem durch das (festzustellende) schädigende Ereignis vermittelte Trauma für die Diagnose einer PTBS entscheidende Bedeutung zukommt. Denn die isoliert betrachtet unspezifischen Symptomkriterien werden erst durch ihre Verknüpfung mit einem geeigneten traumatischen Erlebnis zu einer als solche zu diagnostizierenden PTBS (zB Spieß-Kiefer/Kiefer/Berbig, MedSach 2021, 201, 202 f; Dreßing, Hessisches Ärzteblatt 2016, 271, 272; Frommberger/Angenendt/Berger, Deutsches Ärzteblatt 2014, 59, 60 f). Ohne das Vorliegen eines geeigneten Traumas kommen differentialdiagnostisch auch andere Traumafolgestörungen in Betracht. Denn bei der PTBS handelt es sich nur um eine, wenngleich spezifische Form der Traumafolgeerkrankungen (AWMF-Leitlinie Posttraumatische Belastungsstörung, AWMF-Register-Nr 155/001 Klasse S 3, ≪Überarbeitung 2019/04≫, S 6, 18 unter Hinweis auf mögliche Differentialdiagnosen, insbesondere Depression, Angststörungen wie zB die generalisierte Angststörung, Panikstörung, und auf somatoforme Störungen).
Einem zur Begutachtung berufenen Sachverständigen sind die hierfür erforderlichen Anknüpfungstatsachen mitzuteilen (§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 404a Abs 3 ZPO). Das LSG wird daher auch Ermittlungen zum konkreten Unfallhergang durchzuführen haben (§ 103 SGG), denn es ist tatrichterliche Aufgabe, sich über die der Entscheidung zugrunde zu legenden Anknüpfungstatsachen klar zu werden. Zwar kann die Ermittlung zunächst auch einem Sachverständigen überlassen werden, wenn es im Zeitpunkt der Beweisanordnung nicht voraussehbar ist, auf welche Anknüpfungs- und Befundtatsachen es im Einzelfall ankommen wird (BSG Urteil vom 16.3.2021 - B 2 U 11/19 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 30 RdNr 21). Vorliegend handelt es sich bei dem unklaren Unfallereignis jedoch um eine Anknüpfungstatsache, deren Feststellung generell nicht in die Sachkunde eines medizinischen Sachverständigen fällt. Der Angabe des beauftragten Sachverständigen S3, es habe möglicherweise ein objektiv aktives Handeln des Klägers vorgelegen, wird das LSG demnach ohne eigene Ermittlungen zum Unfallhergang keine Beachtung schenken können (zur Unverwertbarkeit entsprechender Erhebungen durch medizinische Sachverständige BSG Urteil vom 29.3.1963 - 2 RU 219/62; Mushoff in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, § 103 RdNr 266 ≪Stand 15.6.2022≫; Leopold in Roos/Wahrendorf/Müller, SGG, 2. Aufl 2021, § 117 RdNr 9).
Für die Feststellung des konkreten Unfallhergangs hat der Kläger die Vernehmung konkret benannter Zeugen angeregt (§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 373 ZPO). Eine ggf erforderliche Ortsbegehung wird das LSG zur Wahrung der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 117 SGG) eigenständig durchzuführen haben. Ungeachtet dessen kann es einen oder mehrere Sachverständige zu dieser hinzuziehen (§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 371, 372 Abs 1 ZPO).
Bei den weiteren Ermittlungen wird auch zu berücksichtigen sein, dass das Vorliegen eines Unfallereignisses von der Beklagten bereits anerkannt wurde und sich die noch relevanten Anknüpfungstatsachen daher nur deswegen auf den konkreten Geschehensablauf beziehen, um die Geeignetheit eines erlittenen Traumas zur Feststellung einer PTBS und damit das Vorhandensein einer Gesundheitsstörung bewerten zu können (s auch Spellbrink, MedSach 2020, 114, 116). Verbleiben am Ende Zweifel im Hinblick auf den konkreten Unfallhergang, ist hierüber nach den Maßstäben zur materiellen Beweislast zu entscheiden.
6. Wenn das LSG nach Abschluss seiner weiteren Ermittlungen für die Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) in einen Abwägungsvorgang eintritt, in die sämtliche Indizien, die für und gegen das Vorliegen einer Gesundheitsstörung sowie der Verursachung durch das Unfallereignis sprechen, einzubeziehen sind, wird es zu gewichten und darzulegen haben, ob und welche Bedeutung es den Angaben und Bewertungen einzelner Sachverständiger wird beimessen können. So hat sich etwa der als Sachverständiger hinzugezogene psychologische Psychotherapeut S3 in seinem Zusatzgutachten zum Vorliegen der Diagnosekriterien einer PTBS geäußert und hierbei die fachmedizinischen Bewertungen anderer Gutachter kritisiert, ohne seiner Ausbildung nach über eine einem Facharzt für Neurologie oder Facharzt für Psychosomatik und Psychotherapie vergleichbare Sachkunde zu verfügen. Will das LSG einem nichtärztlichen Gutachten Vorrang vor ärztlichen Gutachten einräumen, versteht sich die höhere Gewichtung jedenfalls nicht von selbst. Davon unberührt bleibt, dass eine verfahrensrechtliche Verpflichtung zur Einholung eines Gutachtens von einem Facharzt als Sachverständigem nicht besteht (stRspr; zB BSG Beschluss vom 12.5.2016 - B 9 SB 101/15 B - juris RdNr 8 mwN).
7. Die vom Kläger im Revisionsverfahren erhobenen Verfahrensrügen sind nicht mehr entscheidungserheblich, weil das Urteil des Berufungsgerichts aus materiell-rechtlichen Gründen aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen war.
8. Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Roos Karmanski Karl
Fundstellen
SGb 2022, 487 |
SGb 2023, 386 |
R&P 2023, 104 |