Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Rentenversicherung. Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit nach dem bis zum 31.12.2000 geltenden Recht. Erwerbsminderung nach dem ab 01.01.2001 geltenden Recht (RRErwerbG). Wegefähigkeit. Anforderungen an die Sachaufklärung. Gutachten. Beweisantrag
Leitsatz (redaktionell)
1. Nach der st.Rspr. des BSG zum bis zum 31.12.2001 geltenden Recht gehört zur Erwerbsfähigkeit auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle aufzusuchen (vgl. z.B. BSG SozR 3-5864 § 13 Nr 2 S 4). Denn eine Tätigkeit zum Zweck des Gelderwerbs ist in der Regel nur außerhalb der Wohnung möglich. Das Vorhandensein eines Minimums an Mobilität ist deshalb Teil des nach § 44 SGB VI a.F. versicherten Risikos (vgl. BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 10).
2. Wegefähigkeit setzt dabei grundsätzlich die Fähigkeit des Versicherten voraus, vier Mal am Tag Wegstrecken von mehr als 500 m mit zumutbarem Zeitaufwand zu Fuß bewältigen und zwei Mal täglich während der Hauptverkehrszeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren zu können. Bei der Beurteilung der Mobilität des Versicherten sind alle ihm tatsächlich zur Verfügung stehenden Hilfsmittel (z.B. Gehstützen) und Beförderungsmöglichkeiten zu berücksichtigen. Dazu gehört z.B. auch die zumutbare Benutzung eines eigenen, ggf. im Rahmen der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben subventionierten Kraftfahrzeugs.
3. Die von der Rechtsprechung für die Beurteilung der Wegefähigkeit für das bis zum 31.12.2000 geltende Recht herausgearbeiteten Kriterien lassen sich auch für die Anwendung des neuen Rechts (§ 43 SGB VI i.d.F. des RRErwerbG) heranziehen.
4. Wird erst nach Erstellung eines neurologischen Sachverständigengutachtens erstmals in einem Arztbrief von einer Parese der kleinen Fußmuskeln berichtet, aufgrund der der Kläger nicht in der Lage sei, 4 × 500 m Wegstrecke in 20 min zurückzulegen, darf das Instanzgericht einen Antrag des Klägers, ein neurologisch-orthopädisches Gutachten zur Wegefähigkeit einzuholen, nicht mit der Begründung zurückweisen, dass die deutliche Parese der kleinen Fußextensoren mit erschwertem Hacken- und Spitzengang “nichts Neues bringe” und ein “letztlich unverändertes Gesamtbild” vorliege.
Normenkette
SGG § 43 Abs. 2, § 44 Abs. 2, § 103
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. Februar 2001 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I
Der im Jahre 1946 geborene Kläger wendet sich gegen den Bescheid der Beklagten vom 28. November 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. November 1997 und begehrt an Stelle der bereits mit Bescheid vom 17. Juni 1997 ab 1. September 1996 bewilligten Rente wegen Berufsunfähigkeit eine solche wegen Erwerbsunfähigkeit.
Das Sozialgericht Mannheim (SG) hat mit Urteil vom 9. Juni 1999, im Wesentlichen gestützt auf die Gutachten des Orthopäden Dr. P.… und des Neurologen und Psychiaters Dr. W.…, die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) hat die Berufung des Klägers mit Urteil vom 16. Februar 2001 zurückgewiesen: Mit Blick auf das im Vordergrund stehende Wirbelsäulenleiden (chronische Lumboischialgie mit Wurzelläsion L5/S1 bei medio-lateralem Bandscheibenvorfall L4/5) sei von einem vollschichtigen Leistungsvermögen – allerdings eingeschränkt auf leichte Arbeiten in wechselnder Körperhaltung ohne Überkopfarbeit, ohne Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten über 5 kg, häufiges Bücken, Treppensteigen, arbeiten auf Leitern oder Gerüsten und an gefährlichen Maschinen, ohne Akkord- und Fließband-, Wechselschicht- und Nachtarbeit sowie ohne Hitze-, Kälte-, Zugluft- und Nässeexposition – auszugehen. Eine schwere spezifische Leistungsbehinderung oder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen bzw das Vorliegen eines sog Katalog- oder Seltenheitsfalles liege dagegen nicht vor. Das Gericht stütze sich auf die vom SG gehörten Sachverständigen sowie auf das Gutachten der Neurologin Dr. H.… vom 20. Juli 2000. Die Sachverständige habe Zeichen eines Wurzelkompressionssyndroms nicht gefunden, die Wegefähigkeit des Klägers bejaht, eine Polyneuropathie und eine Claudicatio spinalis ausgeschlossen und in der ergänzenden Stellungnahme vom 29. Dezember 2000 unter Hinweis auf ein Attest des Allgemeinmediziners Dr. E.… die Auffassung vertreten, dass weiterhin keine neurologischen Funktionsausfälle (Paresen) vorlägen, denn nach Dr. E. … sei der “Fersen- und Zehenstand oB”. Dem Antrag des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung am 16. Februar 2001, zur Frage der Wegefähigkeit ein neurologisches und orthopädisches Gutachten einzuholen, müsse nicht entsprochen werden. Die vorgelegten Schreiben des Neurologen Dr. M.… vom 8. Februar 2001 und 14. Februar 2001 führten zu keiner anderen Beurteilung.
Mit der – vom Senat zugelassenen – Revision rügt der Kläger vorrangig einen Verfahrensfehler durch den übergangenen Beweisantrag (§ 103 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) und im Übrigen die Verletzung des § 44 Abs 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI): Das LSG hätte sich zu einer weiteren Beweiserhebung hinsichtlich seiner Wegefähigkeit gedrängt fühlen müssen. Die Feststellung des LSG, die Atteste Dr. M.… brächten nichts Neues, sei unzutreffend, denn Dr. M.… habe Zeichen einer Polyneuropathie gefunden und vor allem neurologische Ausfälle, die eine Operationsindikation darstellten, attestiert. Sechs Monate nach der Untersuchung durch Dr. H.… habe er deutliche Paresen der kleinen Fußextensoren mit erschwertem Hacken- und Spitzengang festgestellt und die Wegefähigkeit verneint. Die Begründung des LSG für die Ablehnung des Beweisantrags sei unschlüssig.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts vom 16. Februar 2001 und das Urteil des Sozialgerichts vom 9. Juni 1999 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, unter Abänderung des Bescheides vom 17. Juni 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. November 1997 über die gewährte Rente wegen Berufsunfähigkeit hinaus ab 1. September 1996 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen.
Die Beklagte stellt keinen Antrag.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Die bisherigen Feststellungen des LSG lassen keine abschließende Entscheidung darüber zu, ob und seit wann der Kläger erwerbsunfähig ist. Zu Recht rügt der Kläger, dass es das LSG unter Verletzung von Verfahrensrecht unterlassen hat, notwendige weitere Feststellungen zur Wegefähigkeit zu treffen.
Der geltend gemachte Rentenanspruch richtet sich nach dem § 44 SGB VI idF bis zum 31. Dezember 2000. Die ab 1. Januar 2001 geltende Neuregelung durch das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20. Dezember 2000 (BGBl I, 1827) ist allerdings heranzuziehen, soweit ein Rentenanspruch am 31. Dezember 2000 nicht bestand, aber für die nachfolgende Zeit in Betracht kommt (vgl § 300 Abs 1 iVm Abs 2 SGB VI). Nach § 44 Abs 2 SGB VI aF sind erwerbsunfähig Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder ein Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße übersteigt. Dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen. Nach § 43 Abs 2 Satz 2 SGB VI nF sind voll erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Dagegen besteht kein Rentenanspruch, wenn der Versicherte unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs 3 SGB VI nF). Ist dieses Leistungsvermögen nicht erreicht, volle Erwerbsminderung iS des § 43 Abs 2 Satz 2 SGB VI nF aber noch nicht eingetreten, besteht Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung (§ 43 Abs 1 Satz 2 SGB VI nF).
Die zusätzlich erforderlichen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen sind mit Blick auf die für den gesamten in Betracht kommenden Zeitraum bereits gewährte Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit unstreitig erfüllt.
Die genannten Vorschriften beschreiben den Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit bzw der Versicherungsfälle der verminderten Erwerbsfähigkeit (volle oder teilweise Erwerbsminderung) im Wesentlichen dahin, dass das Herabsinken der Fähigkeit, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Einkommen zu erzielen, beim Überschreiten einer bestimmten Schwelle den Rentenanspruch auslöst. Dazu hat das Bundessozialgericht (BSG) in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass das Leistungsvermögen und die Umsetzungsfähigkeit an den individuellen Verhältnissen des Versicherten unter den konkreten Bedingungen des Arbeitsmarktes zu messen sind (vgl zB BSG Urteil vom 17. Dezember 1991 – 13/5 RJ 73/90 – SozR 3-2200 § 1247 Nr 10, Beschluss des Großen Senats vom 19. Dezember 1996 – GS 2/95 – BSGE 80, 24 = SozR 3-2600 § 44 Nr 8 mwN). Nur das Leistungspotenzial, das auf dem Arbeitsmarkt konkret einsetzbar ist, kann als Maßstab für die Fähigkeit eines Versicherten, Erwerbseinkommen zu erzielen, herangezogen werden. Folglich gehört nach der Rechtsprechung des BSG zur Erwerbsfähigkeit auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle aufzusuchen (vgl stellvertretend BSG Urteil vom 9. August 2001 – B 10 LW 18/00 R – SozR 3-5864 § 13 Nr 2 S 4 f mwN). Denn eine Tätigkeit zum Zweck des Gelderwerbs ist in der Regel nur außerhalb der Wohnung möglich. Das Vorhandensein eines Minimums an Mobilität ist deshalb Teil des nach § 44 SGB VI aF, § 43 SGB VI nF versicherten Risikos (vgl BSG Urteile vom 17. Dezember 1991 – 13/5 RJ 73/90 – SozR 3-2200 § 1247 Nr 10 und vom 14. März 2002 – B 13 RJ 25/01 R – veröffentlicht in JURIS); das Defizit führt zur Erwerbsunfähigkeit bzw zur vollen Erwerbsminderung. Die von der Rechtsprechung für die Beurteilung der Wegefähigkeit herausgearbeiteten Kriterien lassen sich daher auch für die Anwendung des neuen Rechts heranziehen.
Hat der Versicherte keinen Arbeitsplatz und wird ihm ein solcher auch nicht konkret angeboten, bemessen sich die Wegstrecken, deren Zurücklegung ihm möglich sein muss – auch in Anbetracht der Zumutbarkeit eines Umzugs – nach einem generalisierenden Maßstab, der zugleich den Bedürfnissen einer Massenverwaltung Rechnung trägt. Dabei wird angenommen, dass ein Versicherter für den Weg zur Arbeitsstelle öffentliche Verkehrsmittel benutzen und von seiner Wohnung zum Verkehrsmittel sowie vom Verkehrsmittel zur Arbeitsstelle und zurück Fußwege zurücklegen muss. Erwerbsfähigkeit setzt, strecken von mehr als 500 m mit zumutbarem Zeitaufwand zu Fuß bewältigen und zwei Mal täglich während der Hauptverkehrszeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren zu können. Bei der Beurteilung der Mobilität des Versicherten sind alle ihm tatsächlich zur Verfügung stehenden Hilfsmittel (zB Gehstützen) und Beförderungsmöglichkeiten zu berücksichtigen (BSG Urteil vom 17. Dezember 1991 – 13/5 RJ 73/90 – SozR 3-2200 § 1247 Nr 10, S 30 ff; Senatsurteile vom 19. November 1997 – 5 RJ 16/97 – SozR 3-2600 § 44 Nr 10 und vom 30. Januar 2002 – B 5 RJ 36/01 R – veröffentlicht in JURIS). Dazu gehört zB auch die zumutbare Benutzung eines eigenen, ggf im Rahmen der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 16 SGB VI, § 33 Abs 3 Nr 1, Abs 8 Nr 1 SGB IX) subventionierten Kraftfahrzeugs (vgl Senatsurteile vom 19. November 1997 – 5 RJ 16/97 – SozR 3-2600 § 44 Nr 10 und vom 30. Januar 2002 – B 5 RJ 36/01 R – veröffentlicht in JURIS; BSG Urteil vom 14. März 2002 – B 13 RJ 25/01 R – veröffentlicht in JURIS).
Wie der Kläger zu Recht rügt, reichen die verfahrensfehlerhaft zustande gekommenen und lückenhaften tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht aus, um den Eintritt des Versicherungsfalles der Erwerbsunfähigkeit bzw der vollen Erwerbsminderung wegen mangelnder Wegefähigkeit nach Maßgabe der aufgezeigten Rechtsprechung im streitigen Zeitraum seit dem 1. September 1996, insbesondere aber seit der kernspintomographischen Untersuchung des Klägers am 16. Oktober 2000 (Befund: “medianer bis rechts paramedianer Massenprolaps L 4/5, der den Duralsack erheblich imprimiert und insbesondere die Nervenwurzel L 5 rechts komprimiert”) auszuschließen. Das LSG hätte sich im Rahmen seiner Verpflichtung, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären (§ 103 SGG), zu einer weiteren Beweiserhebung gedrängt fühlen müssen.
Die Neurologin Dr. H.… hatte im Gutachten vom 20. Juli 2000, passend zum dokumentierten Bandscheibenvorfall L 4/5, elektrophysiologisch Zeichen einer chronischen Wurzelläsion L 4, L 5, S 1 sowie Zeichen einer akuten Wurzelläsion L 5 mehr als S 1 festgestellt, das Schmerzsyndrom bestätigt, allerdings keine neurologischen Ausfälle beschrieben. Das Vorliegen einer Depression, einer Schlafstörung sowie einer Polyneuropathie hatte sie ausschließen können. Nach Auswertung der bisherigen Befunde sowie auf Grund eigener Beobachtungen hatte sie keine ausreichenden Hinweise für die sichere Annahme einer Claudicatio spinalis gesehen.
Nachdem der Kläger den bereits zitierten Tomographiebefund vom 16. Oktober 2000 und dazu ein Attest des Orthopäden Dr. R. vom 25. Oktober 2000 (“keine berufliche Belastbarkeit wegen erheblicher Verschlimmerung des Bandscheibenvorfalles mit Massenprolaps”) sowie ein Attest des Allgemeinmediziners Dr. E. vom 23. Oktober 2000 (“sensible Störung im Bereich des Dermatoms 5L/L5, in diesem Bereich auch hauptsächlich Schmerzausstrahlung, ASR bds nicht sicher auslösbar, Fersen- und Zehenstand oB, auf Grund der derzeitigen Entwicklung sei der Kläger erwerbsunfähig, die Leistungsbeurteilung im Gutachten Dr. H. vom 20. Juli 2000 sei unzutreffend”) vorgelegt hatte, hat das LSG Dr. H. nochmals gehört. In der Stellungnahme vom 29. Dezember 2000 führte die Sachverständige aus, dass bereits bei ihrer Begutachtung die Schmerzen und Sensibilitätsstörungen des Klägers verifiziert worden seien (EMG), sie entsprächen der jetzt im Magnetresonanztomogramm (MRT) nachgewiesenen eindeutigen Kompression der Nervenwurzel L 5. Die Verschlimmerung der Bandscheibensituation (gegenüber dem vorangegangenen MRT) sei also bereits im Gutachten berücksichtigt worden. Weitere Funktionsausfälle (Paresen) seien aber nicht beschrieben, im Gegenteil, nach dem Attest Dr. E.… seien der Fersen- und Zehenstand ohne Befund. Sie verbleibe deshalb bei der bisherigen Leistungsbeurteilung. Im darauf vom Kläger vorgelegten Arztbrief Dr. M. (Neurologe, Neurochirurg und Psychiater) an Dr. R. vom 8. Februar 2001 heißt es aber ua: “ASR bds nicht erhältlich, deutliche Parese der kleinen Fußextensoren mit erschwertem Hacken- und Spitzengang (anamnestisch auch nach Ermüdung hängen bleiben mit dem Vorfuß re mehr als li)”. In Antwort auf die Frage des Prozessbevollmächtigten des Klägers, wie sich der Befund auf die Wegefähigkeit auswirke, schreibt Dr. M.… am 14. Februar 2001 handschriftlich: “Aufgrund des Bandscheibenprolapses, der Parese der kleinen Fußmuskeln, dem eingeschränkten…sinn (unleserlich) ist Herr G.… nicht fähig, 4 × 500 m Wegstrecke in 20 min zurückzulegen.” In einem Telefax vom 15. Februar 2001 an das LSG auf telefonische Anfrage durch den Berichterstatter berichtet Dr. M.… ferner, der Kläger habe am 5. Februar 2001 die MRT-Bilder vom 16. Oktober 2000 dabei gehabt, von neurochirurgischer Seite bestehe eine relative OP-Indikation.
Auf Grund dieser Angaben des Dr. M.… durfte das LSG den Antrag des Klägers, ein neurologisch-orthopädisches Gutachten zur Wegefähigkeit einzuholen, nicht mit der Begründung zurückweisen, dass die deutliche Parese der kleinen Fuxextensoren mit erschwertem Hacken- und Spitzengang “nichts Neues bringe” und ein “letztlich unverändertes Gesamtbild” vorliege. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob durch den Arztbrief Dr. M.… und die folgenden Ergänzungen und Erläuterungen die auf das Gutachten Dr. H.… gestützte und eine wesentliche Entscheidungsgrundlage des LSG bildende Annahme in Zweifel zu ziehen ist, dass neurologische Ausfälle (insbesondere Paresen) nicht vorliegen. Ebenso kann dahingestellt bleiben, ob die sonstigen im Attest wiedergegebenen Befunde (vor allem die Sensibilitätsstörungen, das pathologische Reflexverhalten und die auffälligen Messergebnisse der Nervenleitgeschwindigkeit ≪NLG≫, die auf eine Polyneuropathie hindeuten könnten) das Gutachten Dr. H.… auch in diesen Punkten in Frage stellen, und ob die eigenständige Auswertung des letzten MRT durch das LSG (S 9 des Urteilsumdrucks) die Grenzen dessen sprengt, was das LSG in eigener Kompetenz verantworten kann. Nur soweit sich das LSG in demselben Satz (in einer irreführenden Vermengung) auch auf die fraglichen Zeichen einer Polyneuropathie bezieht, könnte seiner Argumentation gefolgt werden, allerdings nur wenn die von Dr. M.… beschriebenen Auffälligkeiten der NLG außer Acht gelassen werden. Mit der Wegefähigkeit hat die fragliche Polyneuropathie aber nichts zu tun. Soweit das LSG schreibt, den Befunden (Paresen etc) komme “keine wesentliche Bedeutung zu, weil deren Auswirkungen sich lediglich auf den Hacken- und Spitzengang beziehen, diese Gangarten aber im Berufsleben wie auch auf dem Weg von und zur Arbeit keine bedeutsame Rolle spielen; von daher erscheint dem Senat auch die von Dr. M.… vorgenommene Beurteilung des Gehvermögens nicht nachvollziehbar, ja sogar unschlüssig”, hätte es wenigstens darlegen müssen, worauf es diese Kenntnisse stützt. Auch die weitere vom LSG gegebene ergänzende Begründung, eine wesentliche Änderung sei deshalb nicht eingetreten, weil Dr. M.… sonst ein neues MRT gefertigt und nicht die bisherige Medikation fortgesetzt und die sonstige Behandlung weiter empfohlen hätte, ist nicht schlüssig. Denn auf Grund des bereits vorliegenden MRT hat Dr. M.… die Operation empfohlen (mit relativer Indikation). Ein weiteres MRT dürfte überflüssig sein, wenn sich – entgegen der “Auswertung” durch das LSG, das im Gegensatz zu Dr. M.… die Bilder nicht in der Hand hatte – bereits aus den vorliegenden Aufnahmen die Befunde erklären lassen. Schließlich wäre eine Änderung der bisherigen Medikation und Behandlung nur dann zu erwarten, wenn die neuen Befunde nach den Regeln der ärztlichen Kunst geboten hätten, die Therapie umzustellen. Das LSG hätte dann, um seinen Argumenten den notwendigen Halt zu geben, anführen müssen, welche Therapien in Angriff genommen worden wären, sei es aus eigener Kenntnis, sei es unter Hinweis auf die Fachliteratur. Andernfalls aber hätte es – jedenfalls mit Blick auf die abzuklärende Wegefähigkeit – mit dem Arztbrief Dr. M.… von einem neuen Sachverhalt ausgehen müssen.
Näherer Betrachtung bedarf allein das – vom LSG nicht in den Vordergrund gestellte und möglicherweise nach der eigenen Diktion (“bestünde”) auch nicht tragende – Argument, dass erst dann ein Anlass zur weiteren Aufklärung bestünde, wenn die von Dr. M.… geschilderten Paresen wenigstens 6 Monate andauern würden. Eine solche Leidensdauer, so das LSG, sei gerade dann, wenn sie von Veränderungen der Wirbelsäule ausgehen, keinesfalls nahe liegend. Dies sei eher umgekehrt im Sinne akuter Erscheinungen eines an sich unveränderten Grundtatbestandes. Offensichtlich gehe auch Dr. M.… von einer Besserungsfähigkeit generell aus; umso mehr müsse dies dann für einzelne Erscheinungen gelten. Aber auch diese Ausführungen sind nicht schlüssig und machen die weitere Beweiserhebung nicht überflüssig. Beginn und – nach medizinischem Erfahrungswissen ggf zu erwartendes – Ende der Paresen sind nicht festgestellt. Beides ist aber erforderlich, um einen Dauerzustand und damit den Eintritt des Versicherungsfalles der Erwerbsunfähigkeit unter der Annahme, dass nur eine vorübergehende Beeinträchtigung der Wegefähigkeit vorlag, zu verneinen. Auch dies kann nur im Rahmen der beantragten Begutachtung erfolgen. Die Argumentation des LSG läuft auf eine vorweggenommene Beweiswürdigung auf der Grundlage eines nicht weiter dargelegten und überprüfbaren Erfahrungswissens, das für den speziellen Fall des Klägers ohnehin nicht von Bedeutung sein kann, hinaus. Was das LSG mit “Besserungsfähigkeit generell” meint, sind wohl die therapeutischen Möglichkeiten, die Dr. M.… nunmehr in der OP sieht. Mit dem Hinweis auf eine generelle Besserungsfähigkeit des Wirbelsäulenleidens können aber die von Dr. M.… beschriebenen speziellen Paresen mit Auswirkungen auf die Wegefähigkeit nicht wegargumentiert werden. Ein entsprechender Erfahrungssatz, dass spätestens nach sechs Monaten Paresen beim Leidensbild des Klägers abklingen, ist vom LSG nicht belegt. Im Übrigen spricht eine relative OP-Indikation für einen Dauerzustand jedenfalls bis zur OP: Im Hinblick darauf, dass das letzte MRT fast 6 Monate vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung gefertigt wurde, dürfte es näher liegen, dass die Paresen seitdem, also Oktober 2000, bestanden hatten. Selbst wenn, worauf das LSG nicht abgestellt hat, der Allgemeinmediziner Dr. E.… am 23. Oktober 2000 schrieb, “Fersen- und Zehenstand ohne Befund”, ist dies zwar (so jedenfalls Dr. H.… in der ergänzenden Stellungnahme) ein Zeichen dafür, dass Paresen damals nicht vorlagen – eine exakte Untersuchung durch einen Neurologen ersetzt dieser einfache Test aber nicht, zumal es hier nicht um die Steh-, sondern um die Gehfähigkeit geht und Dr. E.… in demselben Attest ein Schonhinken beschrieben hatte.
Das LSG wird also noch zu ermitteln haben, ob die bisher eingeholten Gutachten den aktuellen Leidenszustand des Klägers erfassen. Insbesondere ist aber abzuklären, ob und seit wann beim Kläger Wegeunfähigkeit vorgelegen hatte, wozu neben der medizinischen Fragestellung auch Feststellungen dazu zu treffen sind, ob dieses Defizit ggf anderweitig kompensiert werden kann, zB durch die Möglichkeit, ein Kraftfahrzeug zu benutzen.
Da das Revisionsgericht die noch erforderliche Sachaufklärung nicht selbst vornehmen kann, ist der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten, an das LSG zurückzuverweisen.
Fundstellen