Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Revision. Verfahrensmangel. Fehlen von Entscheidungsgründen
Leitsatz (redaktionell)
1. Es fehlt an den Entscheidungsgründen eines Urteils, wenn und soweit in der Urteilsbegründung selbst oder durch Bezugnahme gem. § 153 Abs. 2 SGG nicht mindestens die Überlegungen zusammengefasst worden sind, auf denen die Entscheidung über jeden einzelnen, für den Urteilsausspruch rechtserheblichen Streitpunkt in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht (stRSpr; vgl. BSG SozR 1500 § 136 Nr 10).
2. Ein Urteil des LSG zur Auslegung des Zusatzes zu Nr. 2500 der Anlage zum RVG ist nur dann hinreichend überprüfbar, wenn es dargelegt, dass und ggf. warum es die vom SG festgesetzte Geschäftsgebühr von 230 Euro für “billig” hält.
Normenkette
SGG § 136 Abs. 1 Nr. 6, § 153 Abs. 2
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 8. März 2006 aufgehoben, soweit es die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 27. Juli 2005 zurückgewiesen hat.
In diesem Umfang wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, in welcher Höhe der Klägerin Kosten eines (isolierten) Widerspruchsverfahrens zu erstatten sind.
Der Beklagte stellte den Grad der Behinderung bei der Klägerin zunächst mit 20 und erst auf deren Widerspruch mit 30 fest. Zugleich erklärte er die Zuziehung der bevollmächtigten Rechtsanwältin im Vorverfahren für notwendig und entschied, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen dieses Verfahrens seien der Klägerin in voller Höhe zu erstatten.
Die Bevollmächtigte der Klägerin berechnete ihre Gebühren nach dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) mit 353,80 € (Verfahrensgebühr, Widerspruchsverfahren: 280 €; Kopien: 5 €; Post- und Telekommunikationspauschale: 20 €; Umsatzsteuer: 48,80 €).
Der Beklagte setzte die zu erstattenden Kosten ausgehend von einer Verfahrensgebühr von 180 € auf 237,80 € fest. Der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit sei durchschnittlich und die Bedeutung der Angelegenheit für die Klägerin gering gewesen. Die geltend gemachte Regelgebühr von 280 € sei deshalb nicht gerechtfertigt (Bescheid vom 7. März 2005; Widerspruchsbescheid vom 30. Mai 2005).
Das Sozialgericht Koblenz (SG) hat den Beklagten – ausgehend von einer Verfahrensgebühr von 230 € – verurteilt, weitere 58 € nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz ab 3. März 2005 zu erstatten (Urteil vom 27. Juli 2005). Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) die Zinsentscheidung aufgehoben und die Klage insoweit abgewiesen, das Urteil im Übrigen aber bestätigt. Nach § 3 Abs 2 iVm Abs 1 Satz 1 RVG und Nr 2500 der Anlage 1 zu diesem Gesetz stehe der Rechtsanwältin an sich eine Betragsrahmengebühr zwischen 40 und 520 €, im Mittel also eine Gebühr von 280 € zu. Für eine weder umfangreiche noch schwierige Tätigkeit des Bevollmächtigten – wie im vorliegenden Fall – sei die Gebühr aber auf 240 € begrenzt. Die vom SG als angemessen und billig erachtete Geschäftsgebühr von 230 € liege noch unter diesem Betrag.
Mit der Revision macht der Beklagte geltend, das LSG habe § 3 RVG iVm Nr 2500 der Anlage 1 verletzt. Dort seien zwei Regelgebühren aufgeführt: 40 bis 520 € mit einer Mittelgebühr von 280 € bei umfangreicher und/oder schwieriger Tätigkeit des Bevollmächtigten und eine weitere Regelgebühr von 240 € für alle übrigen Fälle, wozu der vorliegende zähle. Der Betrag von 240 € sei wegen der unterdurchschnittlichen wirtschaftlichen Bedeutung des Verfahrens für die Klägerin – wie in den angegriffenen Bescheiden geschehen – um 60 auf 180 € abzusenken.
Der Beklagte beantragt (sinngemäß),
die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 8. März 2006 und des Sozialgerichts Koblenz vom 27. Juli 2005 zu ändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie verteidigt die angegriffenen Entscheidungen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Beklagten ist begründet. Das angegriffene Urteil ist – soweit die Berufung des Beklagten keinen Erfolg gehabt hat – aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Der Senat kann das Berufungsurteil revisionsgerichtlich nicht überprüfen, weil es keine – genügenden – Entscheidungsgründe enthält. Dieser Verfahrensmangel ist von Amts wegen zu beachten (vgl BSG SozR 1500 § 136 Nr 10 = NJW 1989, 1758 sowie Urteile des 4b. Senats vom 9. Oktober 1986 – 4b RV 9/86 – und des 4. Senats vom 21. Juli 1992 – 4 RA 37/91 – beide juris).
Nach § 136 Abs 1 Nr 6 SGG enthält das Urteil “die Entscheidungsgründe”. Sie fehlen, wenn und soweit in der Urteilsbegründung selbst oder durch Bezugnahme gemäß § 153 Abs 2 SGG nicht mindestens die Überlegungen zusammengefasst worden sind, auf denen die Entscheidung über jeden einzelnen für den Urteilsausspruch rechtserheblichen Streitpunkt in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht (BSG SozR 1500 § 136 Nr 10). So liegt es hier.
Dem Urteil des LSG lässt sich zwar entnehmen, dass das Berufungsgericht geprüft hat, ob hier eine Geschäftsgebühr von 230 € – wie vom SG angenommen – “billig” iS des § 14 Abs 1 RVG ist. Zur Begründung des – positiven – Ergebnisses dieser Prüfung teilt das LSG aber nur mit, es gehe mit dem SG, auf dessen Urteil es insoweit nach § 153 Abs 2 SGG Bezug nehme, davon aus, die anwaltliche Tätigkeit im Vorverfahren sei “nicht umfangreich oder schwierig” im Sinne des Zusatzes zur Nr 2500 der Anlage 1 zum RVG (damaliger Fassung) gewesen. Weiter geht aus den Entscheidungsgründen des SG hervor, dass es den in dem genannten, hier einschlägigen Zusatz angegebenen Betrag von 240 € als Schwellengebühr ansieht, die aufgrund einer Kappung für “Durchschnittsfälle” vorgesehen sei. Dem schließt sich lediglich die Bemerkung des Berufungsgerichts an, das SG habe der Klägerin “ausgehend von einer als angemessen bzw billig erachteten Geschäftsgebühr von 230 € weitere 58 € zugesprochen” und die Klägerin habe gegen dieses Urteil keine Berufung eingelegt.
Damit hat das LSG sich weder die ausführliche Begründung des SG für die Billigkeit einer Geschäftsgebühr von hier 230 € zu eigen gemacht noch hat es selbst begründet, weshalb diese und nicht statt ihrer die vom Beklagten in den angegriffenen Bescheiden festgesetzte niedrigere Gebühr von nur 180 € unter Berücksichtigung der in § 14 Abs 1 RVG genannten Gesichtspunkte (vor allem Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, Bedeutung der Angelegenheit, Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers sowie Haftungsrisiko des Rechtsanwaltes) “billig” sein soll.
Im wieder eröffneten Berufungsverfahren wird das LSG – weiterhin – davon ausgehen können, dass die Gebühr des Rechtsanwaltes für das (isolierte) sozialgerichtliche Vorverfahren zunächst nach den in § 14 Abs 1 RVG genannten Gesichtspunkten innerhalb des Rahmens von 40 bis 520 € (Nr 2500 der Anlage 1 alter Fassung) zu bestimmen und der sich danach ergebende Betrag in den Fällen auf 240 € zu “kappen” ist, in denen die Tätigkeit des Rechtsanwaltes nicht “umfangreich oder schwierig” gewesen ist (vgl dazu die Anmerkung zum Urteil des LSG von Keller, juris PR-SozR 13/2006, Nr 6 mwN; ebenso zB Dinkat in Mayer/Kroiß ≪Hrsg≫, RVG Handkomm, 2. Aufl, Nr 2400 bis 2401 VV RdNr 5 ff; Baumgärtel ua, RVG, 11. Aufl, VV Nr 2400 Anm 5 f).
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen