Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Voraussetzungen für eine außerordentliche Gehbehinderung (aG)
Leitsatz (redaktionell)
Für die Bejahung einer außerordentlichen Gehbehinderung kann nicht allein auf eine gegriffene Größe wie die schmerzfrei zurückgelegte Wegstrecke abgestellt werden (stRspr; vgl. BSGE 90, 180 ff.). Vielmehr kommt es insbesondere darauf an, ob der Kläger sich nur unter großen körperlichen Anstrengungen zu Fuß fortbewegen kann. Dabei können u.a. Art und Umfang schmerz- oder erschöpfungsbedingter Pausen von Bedeutung sein
Normenkette
SGB IX § 46; StVG § 6 Abs. 1 Nr. 14; VwV-StVO § 46 Abs. 1 Nr. 11
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 14. Dezember 2005 aufgehoben, soweit es die Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen “aG” für die Zeit ab dem 1. Januar 2005 betrifft.
In diesem Umfang wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger außergewöhnlich gehbehindert ist.
Auf den Antrag des Klägers vom 16. Mai 2000 stellte das beklagte Land zunächst einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht (Merkzeichen “RF”) fest; die vom Kläger darüber hinaus begehrte Feststellung eines GdB von 100 und der gesundheitlichen Merkmale “erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr” (Merkzeichen “G…”) und “außergewöhnliche Gehbehinderung” (Merkzeichen “aG”) lehnte es ab (Bescheid vom 23. November 2000). Auf den Widerspruch des Klägers erkannte der Beklagte zusätzlich die Voraussetzungen für das Merkzeichen “G…” ab Antragsdatum an (Teilabhilfebescheid vom 20. August 2001); den weitergehenden Widerspruch des Klägers wies es zurück (Widerspruchsbescheid vom 24. Oktober 2001). In dem sich hieran anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Hannover hat der Beklagte unter dem 15. Mai 2003 mit Wirkung ab November 2002 einen GdB von 90 sowie unter dem 22. April 2004 mit Wirkung ab März 2004 einen GdB von 100 anerkannt. Das SG hat unter Abänderung des Ausgangsbescheides in der Gestalt des Widerspruchsbescheides und der angenommenen Teilanerkenntnisse den Beklagten verurteilt, den GdB von 100 bereits seit November 2002 festzustellen, und im Übrigen die Klage abgewiesen (Urteil vom 7. September 2004). Auf die vom Kläger wegen der Versagung des Merkzeichens “aG” eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen das Urteil des SG sowie den Ausgangsbescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides und der Teilanerkenntnisse geändert und den Beklagten verpflichtet, beim Kläger die Voraussetzungen des “Nachteilsausgleiches aG” für die Zeit ab 1. Januar 2005 festzustellen; im Übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 14. Dezember 2005).
Zur Begründung hat das LSG im Wesentlichen ausgeführt: Als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung seien nach Abschnitt II Nr 1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 46 Abs 1 Nr 11 Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO) solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählten Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande seien, ein Kunstbein zu tragen, nur eine Beckenkorbprothese tragen könnten oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert seien, sowie andere Schwerbehinderte, die – auch auf Grund von Erkrankungen – dem vorstehend aufgeführten Personenkreis gleichzustellen seien. Zwar gehöre der Kläger nicht zu dem erstgenannten Personenkreis; er sei jedoch diesem Personenkreis gleichzustellen.
Bei der Prüfung einer Gleichstellung sei maßgeblich auf Satz 1 der Verwaltungsvorschrift abzustellen, wobei der Gesetzeszweck des Neunten Buches Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX), nämlich die Förderung der Selbstbestimmung und der gleichberechtigten Teilnahme des behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft, hinreichend zu beachten sei. Dieser Gesetzeszweck könne bei außergewöhnlich gehbehinderten schwerbehinderten Menschen insbesondere durch die Nutzung von sog Behindertenparkplätzen erreicht werden. Erst durch die Vermeidung längerer Fußwege werde dem außergewöhnlich gehbehinderten Menschen das Erreichen vieler öffentlicher und medizinischer Einrichtungen überhaupt erst ermöglicht. Ob dieser Nachteil im Einzelfall durch Zuerkennung von “aG” auszugleichen sei, stelle damit letztlich eine wertende Entscheidung unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls dar, wobei dem Kriterium der Zumutbarkeit besonderes Gewicht zukomme. Es sei deshalb nicht erforderlich, dass der Betroffene – wie etwa ein Querschnittsgelähmter – nahezu unfähig sei, sich fortzubewegen. Die Gehfähigkeit müsse vielmehr so stark eingeschränkt sein, dass dem Betroffenen das Zurücklegen von längeren Wegen zu Fuß unzumutbar sei.
Das SG habe zutreffend ausgeführt, dass zum Zeitpunkt seiner Entscheidung im September 2004 die Voraussetzungen des Merkzeichens “aG” beim Kläger nicht vorgelegen hätten. Nach Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung sei es jedoch durch eine arterielle Verschlusskrankheit zu einer weiteren Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Klägers gekommen, die einen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens “aG” ab dem 1. Januar 2005 begründe. Nach den zugrunde zu legenden Angaben des behandelnden Internisten sei der Kläger dauerhaft auf eine Gehhilfe angewiesen, da es durch die Polyneuropathie der Füße und der Unterschenkel zu Vibrations-, Sensibilitäts- und Druckempfindungsstörungen komme. Dieser Effekt werde durch die Durchblutungsstörung noch verstärkt. Der Kläger benutze innerhalb seiner Wohnung eine Gehilfe und halte sich bei der Fortbewegung an Einrichtungsgegenständen fest. Er leide bereits nach 20 m Gehstrecke unter Schmerzen in den Beinen. Die maximale Gehstrecke betrage wegen Luftnot 100 m, woraus sich eine Limitierung der schmerzfreien Gehstrecke auf 50 bis maximal 100 m ergebe. Wäre der Kläger auf die Nutzung allgemeiner Parkmöglichkeiten angewiesen, müsste er praktisch ausnahmslos auf dem erforderlichen Fußweg zwischen Kraftfahrzeug und eigentlichem Ziel Pausen einlegen. Bei Großparkplätzen betrage die Entfernung zwischen Parkplatz und Eingang oftmals deutlich mehr als 100 m. Der multimorbide Kläger wäre bei Nutzung der allgemeinen Parkmöglichkeiten gezwungen, auf dem Fußweg zwischen Auto und Eingang noch auf dem Parkplatzgelände (uU sogar mehrfach) zu pausieren, was seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft unzumutbar erschwere.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 6 Abs 1 Nr 14 Straßenverkehrsgesetz (StVG) iVm Abschnitt II Nr 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO. Der Kläger gehöre unstreitig nicht zu einer der dort einzeln aufgezählten Gruppen; er sei auch nicht gleichzustellen. Zwar sei diesbezüglich aus Gründen der Gleichbehandlung eine Betrachtungsweise zu begrüßen, die sich an objektiven Kriterien, wie der Wegstrecke oder dem Vorliegen bestimmter Erkrankungen, orientiere. In der Wertung des konkreten Einzelfalles könne jedoch dem LSG, dessen Einschätzung der Gehfähigkeit auf den subjektiven Angaben des Klägers beruhe, nicht gefolgt werden, da es allein auf das Hinzutreten der weiteren Funktionsbeeinträchtigung durch eine arterielle Verschlusskrankheit abgestellt habe. Die behandelnden Ärzte hätten aber auch noch nach Verschlimmerung des Gesundheitszustandes ab Januar 2005 eine Gleichstellung verneint.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 14. Dezember 2005 aufzuheben, soweit es die Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen “aG” betrifft, und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Hannover vom 7. September 2004 in vollem Umfang zurückzuweisen.
Der Kläger hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision ist im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Die berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen lassen noch keine abschließende Entscheidung darüber zu, ob der Kläger seit dem 1. Januar 2005 außergewöhnlich gehbehindert ist.
Zu entscheiden ist nur noch über die vom LSG ausgesprochene Verpflichtung des Beklagten, beim Kläger die Voraussetzungen des Merkzeichens “aG” für die Zeit ab 1. Januar 2005 festzustellen. Soweit das LSG eine Verpflichtung des Beklagten für die Zeit davor abgelehnt hat, ist diese Entscheidung mangels Revision des Klägers rechtskräftig geworden. Hinsichtlich der Feststellung des GdB haben weder der Kläger (vgl hierzu BSG SozR 3870 § 4 Nr 1 S 4 = Breith 1988, 659, 662 = ZfSH/SGB 1988, 365, 366) noch der Beklagte Berufung eingelegt. Daher ist insoweit bereits mit dem erstinstanzlichen Urteil Rechtskraft eingetreten.
1. Anspruchsgrundlage für die begehrte Feststellung ist § 69 Abs 4 SGB IX. Hiernach stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung iS des § 6 Abs 1 Nr 14 StVG oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen “aG” einzutragen ist (§ 3 Abs 1 Nr 1 Schwerbehindertenausweisverordnung). Diese Feststellung zieht straßenverkehrsrechtlich die Gewährung von Parkerleichterungen iS von § 46 Abs 1 Nr 11 Straßenverkehrsordnung (StVO) nach sich, insbesondere die Nutzung von gesondert ausgewiesenen “Behindertenparkplätzen” (Rollstuhlfahrersymbol, Zusatzzeichen 1020-11, 1044-10, 1044-11 StVO) und die Befreiung von verschiedenen Parkbeschränkungen (zB vom eingeschränkten Halteverbot für die Dauer von drei Stunden). Darüber hinaus führt sie ua zur Befreiung von der Kraftfahrzeugsteuer (§ 3a Abs 1 Kraftfahrzeugsteuergesetz) bei gleichzeitiger Möglichkeit der unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr (§ 145 Abs 1 SGB IX) und ggfs zur Ausnahme von allgemeinen Fahrverboten nach § 40 Bundesimmissionsschutzgesetz (vgl Landmann/Rohmer, Umweltrecht Bd I, § 40 BImSchG, RdNr 30). Sie macht die steuerliche Geltendmachung von Kosten des Kraftfahrzeugs, soweit sie nicht schon Werbungs- oder Betriebskosten sind, als außergewöhnliche Belastungen iS von § 33 Einkommensteuergesetz in angemessenem Umfang möglich (vgl BFHE 116, 378, 380 f; BFHE 206, 525).
Ausgangspunkt für die Feststellung der außergewöhnlichen Gehbehinderung ist Abschnitt II Nr 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO (neu bekannt gemacht am 26. Januar 2001, BAnz 2001, Nr 21, S 1419; vgl zur insoweit unveränderten Fassung vom 22. Oktober 1998: BAnz 1998, Nr 246b, S 47). Die VwV-StVO selbst ist als allgemeine Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung nach Art 84 Abs 2 Grundgesetz (GG) wirksam erlassen worden (vgl BSGE 90, 180, 182 = SozR 3-3250 § 69 Nr 1 = Behindertenrecht 2003, 112, 113). Hiernach ist außergewöhnlich gehbehindert iS des § 6 Abs 1 Nr 14 StVG, wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch auf Grund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind.
Während die in Abschnitt II Nr 1 Satz 2 Halbsatz 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO aufgeführten Schwerbehinderten relativ einfach zu bestimmen sind, ist dies bei der Gruppe der gleichgestellten Schwerbehinderten nicht ohne Probleme möglich. Ein Betroffener ist gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die erstgenannten Gruppen von Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (BSGE 82, 37, 38 f = SozR 3-3870 § 4 Nr 23 = Behindertenrecht 1998, 141, 142). Schwierigkeiten bereitet hierbei der Vergleichsmaßstab, weil die verschiedenen, im 1. Halbsatz aufgezählten Gruppen in ihrer Wegefähigkeit nicht homogen sind und einzelne Vertreter dieser Gruppen – bei gutem gesundheitlichem Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung – ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines Nichtbehinderten erreichen können (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 22 S 87; BSGE 90, 180, 182 = SozR 3-3250 § 69 Nr 1). Auf die individuelle prothetische Versorgung der aufgeführten Behindertengruppen kann es aber grundsätzlich nicht ankommen (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 22 S 87; BSGE 82, 37 = SozR 3-3870 § 4 Nr 23). Denn es liegt auf der Hand, dass solche Besonderheiten angesichts des mit der Zuerkennung von “aG” bezweckten Nachteilsausgleiches nicht als Maßstab für die Bestimmung der Gleichstellung herangezogen werden können. Vielmehr muss sich dieser strikt an dem der einschlägigen Regelung vorangestellten Obersatz orientieren; dies ist Satz 1 in Abschnitt II Nr 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StvO bzw § 6 Abs 1 Nr 14 StVG (BSGE 90, 180, 183 = SozR 3-3250 § 69 Nr 1). Dabei ist zu berücksichtigen, dass Parkraum für diejenigen Schwerbehinderten geschaffen werden sollte, denen es unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen (vgl BT-Drucks 8/3150, S 9 f in der Begründung zu § 6 StVG). Wegen der begrenzten städtebaulichen Möglichkeiten, Raum für Parkerleichterungen zu schaffen, sind hohe Anforderungen zu stellen, um den Kreis der Begünstigten klein zu halten (BSGE 82, 37, 39 = SozR 3-3870 § 4 Nr 23).
Für die Gleichstellung ist bei dem Restgehvermögen des Betroffenen anzusetzen. Wie der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 10. Dezember 2002 (Az B 9 SB 7/01 R; BSGE 90, 180 ff = SozR 3-3250 § 69 Nr 1) ausgeführt hat, lässt sich ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen griffig weder quantifizieren noch qualifizieren. Weder der gesteigerte Energieaufwand noch eine in Metern ausgedrückte Wegstrecke taugen grundsätzlich dazu. Denn die maßgeblichen straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften stellen nicht darauf ab, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzung praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt. Der gleichzustellende Personenkreis beschränkt sich daher auf Schwerbehinderte, deren Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maß eingeschränkt ist und die sich nur unter ebenso großen körperlichen Anstrengungen fortbewegen können wie die in Abschnitt II Nr 1 Satz 2 Halbsatz 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO einzeln aufgeführten Vergleichsgruppen.
Auch soweit die og großen körperlichen Anstrengungen festzustellen sind, kann nicht allein – so wie es das LSG getan hat – auf eine gegriffene Größe wie die schmerzfrei zurückgelegte Wegstrecke abgestellt werden. Unabhängig von der Schwierigkeit, eine solche Wegstrecke objektiv, fehlerfrei und verwertbar festzustellen (vgl hierzu Gebauer, MedSach 1995, 53), ist die Tatsache, dass ein Betroffener nach einer bestimmten Strecke eine Pause machen muss, lediglich Indiz für eine Erschöpfung. Für die Zuerkennung des Merkzeichens “aG” reichen überdies nicht irgendwelche Erschöpfungszustände aus. Sie müssen in ihrer Intensität vielmehr gleichwertig mit den Erschöpfungszuständen sein, die Schwerbehinderte der in Abschnitt II Nr 1 Satz 2 Halbsatz 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO einzeln aufgeführten Gruppen erleiden. Gradmesser hierfür kann die Intensität der Schmerzen bzw – wie hier – der Luftnot nach dem Zurücklegen einer bestimmten Wegstrecke sein. Ein solches Erschöpfungsbild lässt sich ua aus der Dauer der erforderlichen Pause sowie den Umständen herleiten, unter denen der Schwerbehinderte nach der Pause seinen Weg fortsetzt. Nur kurzes Pausieren – auch auf Großparkplätzen – mit anschließendem Fortsetzen des Weges ohne zusätzliche Probleme ist im Hinblick auf den durch die Vergleichsgruppen gebildeten Maßstab zumutbar.
Ob die danach erforderlichen großen körperlichen Anstrengungen beim Gehen vorliegen, ist Gegenstand tatrichterlicher Würdigung, die sich auf alle verfügbaren Beweismittel, wie Befundberichte der behandelnden Ärzte, Sachverständigengutachten oder einen dem Gericht persönlich vermittelten Eindruck, stützen kann. Gerade bei multimorbiden Schwerbehinderten wie dem Kläger liegt auf der Hand, dass allein das Abstellen auf ein starres Kriterium keine sachgerechte Beurteilung ermöglicht, weil es eine Gesamtschau aller relevanten Umstände eher verhindert. Gerade die Anwendung eines einzelnen starren Kriteriums birgt die Gefahr eines vom Beklagten besorgten Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG.
Ein an einer bestimmten Wegstrecke und einem Zeitmaß orientierter Maßstab liegt auch nicht wegen der Methode nahe, mit der die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens “G…” festgestellt werden (vgl dazu “Anhaltspunkte für ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht ≪AHP≫ 2005”, Nr 30). Denn für das Merkzeichen “aG” gelten gegenüber “G…” nicht gesteigerte, sondern andere Voraussetzungen (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 11 S 45 = Breith 1995, 623).
Ebenso wenig lässt sich ein allein maßgebliches Wegstrecken-Zeit-Kriterium aus dem straßenverkehrsrechtlichen Zweck des Merkzeichens “aG” herleiten. Insofern kommt es entgegen der Ansicht des LSG nicht auf die üblicherweise auf Großparkplätzen zurückzulegende Strecke zwischen allgemein nutzbaren Parkplätzen und Gebäudeeingängen an. Das Merkzeichen “aG” soll die stark eingeschränkte Gehfähigkeit durch Verkürzung der Wege infolge der gewährten Parkerleichterungen ausgleichen (BSG SozR 3870 § 3 Nr 18 S 58 = Breith 1986, 335, 336 = Behindertenrecht 1987, 95, 96). Ein bestimmtes Wegstreckenkriterium erschiene nur dann als sachgerecht, wenn die betreffende Wegstrecke grundsätzlich geeignet wäre, den bestehenden Nachteil auszugleichen. Das könnte es nahelegen, auf die Platzierung gesondert ausgewiesener Behindertenparkplätze abzustellen (so LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15. März 2001, Az L 11 SB 4527/00, juris; vgl auch Strassfeld, VersorgVw 2003, 21, 23). Aber auch diesem Ansatz ist nicht zuzustimmen. Abgesehen davon, dass es keine empirischen Untersuchungen zur durchschnittlichen Entfernung zwischen gesondert ausgewiesenen Behindertenparkplätzen und den Eingängen zu Einrichtungen des sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens gibt, greift die alleinige Ausrichtung auf Behindertenparkplätze (Zusatzzeichen 1020-11, 1044-10, 1044-11 StVO) zu kurz. Denn daneben werden nach Abschnitt I Nr 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO weitere umfangreiche Parkerleichterungen, wie zB die Ausnahme vom eingeschränkten Halteverbot (lit a), gewährt.
2. Das LSG hat in dem angefochtenen Urteil lediglich festgestellt, dass der Kläger dauerhaft auf eine Gehhilfe angewiesen ist, da es durch die Polyneuropathie der Füße und der Unterschenkel zu Vibrations-, Sensibilitäts- und Druckempfindungsstörungen komme. Dieser Effekt wird durch die Durchblutungsstörung noch verstärkt. Der Kläger leidet bereits nach 20 m Gehstrecke unter Schmerzen in den Beinen; nach 100 m zwingt Luftnot zu einer Pause.
Diese Feststellungen sind für den erkennenden Senat bindend (§ 163 SGG), weil der Beklagte sie nicht zureichend gerügt hat. Denn er hat lediglich ausgeführt, dass dem LSG in der Wertung des konkreten Einzelfalles nicht gefolgt werden könne. Die Einschätzung der Gehfähigkeit beruhe überwiegend auf den subjektiven Angaben des Klägers. Das LSG habe allein das Hinzutreten der weiteren Funktionsbeeinträchtigung durch eine arterielle Verschlusskrankheit für erheblich gehalten. Die behandelnden Ärzte, von denen diese Diagnose stamme, hätten aber eine Gleichstellung verneint. Hiermit hat der Beklagte das Ergebnis der Beweiswürdigung des LSG angegriffen. Bei der Ermittlung solcher Erkenntnisse handelt es sich um Tatsachenfeststellungen, die das Tatsachengericht gemäß § 128 Abs 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu treffen hat und die der Revision daher nur beschränkt zugänglich ist, weil das Revisionsgericht keine eigenen Tatsachen feststellen kann (BSG SozR 1500 § 162 Nr 7 S 6 f). Es reicht daher nicht aus, wenn die Revision – wie hier – lediglich ihre Beweiswürdigung an die Stelle derjenigen des LSG setzt oder ihre eigene Würdigung als überlegen bezeichnet. Es ist dem Revisionsgericht nämlich nicht gestattet, unter mehreren möglichen Beweiswürdigungen eine Wahl zu treffen oder sie sonst zu bewerten (vgl BSG SozR 1500 § 164 Nr 31 S 50).
Aus den Feststellungen des LSG ergibt sich allerdings nur, dass der Kläger in seiner Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maß eingeschränkt ist. Ob er sich nur unter ebenso großen körperliche Anstrengungen fortbewegen kann wie die in Abschnitt II Nr 1 Satz 2 Halbsatz 1 zu § 46 Abs 1 Nr 11 VwV-StVO genannten Personen, lässt sich den berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen nicht mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen. Denn es fehlen Feststellungen zu der Art und dem Ausmaß der Pausen, die beim Kläger auf Westrecken von über 100 m erforderlich sind. Da der erkennende Senat die gebotene ergänzende Sachverhaltsaufklärung im Revisionsverfahren nicht nachholen kann, ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (vgl § 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
SGb 2007, 352 |
br 2008, 138 |