Entscheidungsstichwort (Thema)
Analoge Anwendung von BGB § 569a auf nichtehelichen Partner des verstorbenen Mieters verfassungsmäßig. Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung. Prüfungsumfang des BVerfG. Schutzbereich von GG Art. 6 Abs. 1. Eigentumsrecht des Vermieters. Handlungsfreiheit des Mieters. Pflicht zur Rechtsentscheideinholung
Leitsatz (amtlich)
Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit analoger Rechtsanwendung.
Leitsatz (redaktionell)
1. Die herkömmlichen Auslegungsmethoden und auch die analoge Anwendung einfachgesetzlicher Vorschriften sind grundsätzlich verfassungsmäßig; Schranken ergeben sich aus dem Gesetzesvorrang als Element des Rechtsstaatsprinzips bzw. der Rechtssicherheit gemäß Art. 20 Abs. 3 GG.
2. Die tatsächliche oder rechtliche Entwicklung kann jedoch eine bis dahin eindeutige und vollständige Regelung lückenhaft, ergänzungsbedürftig und zugleich ergänzungsfähig werden lassen. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Lückensuche und – schließung findet ihre Rechtfertigung unter anderem darin, daß Gesetze einem Alterungsprozeß unterworfen sind. Sie stehen in einem Umfeld sozialer Verhältnisse und gesellschaftspolitischer Anschauungen, mit deren Wandel sich auch der Norminhalt ändern kann. Die Gerichte sind daher befugt und verpflichtet zu prüfen, was unter den veränderten Umständen „Recht” im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG ist.
Orientierungssatz
1. Zu Ls 1: Die herkömmlichen Auslegungsmethoden und auch die analoge Anwendung einfachgesetzlicher Vorschriften ist grundsätzlich verfassungsmäßig; Schranken ergeben sich aus dem Gesetzesvorrang als Element des Rechtsstaatsprinzips bzw der Rechtssicherheit gemäß GG Art 20 Abs 3 (hier iVm GG Art 14 Abs 1 S 1; zum Zusammenhang des eingeschränkten speziellen Grundrechts und GG Art 20 Abs 3 vgl BVerfG, 1985-05-14, 1 BvR 233/81, BVerfGE 69, 315 ≪369ff≫). Der Richter darf eindeutige Entscheidungen des Gesetzgebers nicht durch eigene rechtspolitische Vorstellungen verändern. Werden Regelungen jedoch aufgrund gesellschaftlichen Wandels oder rechtlicher Entwicklungen lückenhaft oder ergänzungsbedürftig, ist richterliche Lückensuche und Lückenschließung verfassungsrechtlich zulässig (vgl BVerfG, 1973-02-14, 1 BvR 112/65, BVerfGE 34, 269 ≪286ff≫).
2. Auch wenn sich bei der Rechtsfortbildung verstärkt das Problem des Umfangs richterlicher Gesetzesbindung stellt, ist die verfassungsrechtliche Kontrolle analoger Rechtsanwendung darauf beschränkt, ob das Fachgericht in vertretbarer Weise eine einfachgesetzliche Lücke angenommen und geschlossen hat und ob diese Erweiterung des Normenbereichs Wertungen der Verfassung, namentlich Grundrechten widerspricht.
3. Die Auslegung (vgl LG Hamburg, 1988-02-01, 11 S 398/87, WuM 1989, 304), der nichteheliche Lebenspartner des verstorbenen Mieters könne als "anderer Familienangehöriger" iS BGB § 569a Abs 2 S 1 angesehen werden und sei deshalb berechtigt, in das Mietverhältnis einzutreten, ist - insbesondere hinsichtlich der Annahme veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse seit Einführung von BGB § 569a (damals Frage der Sittenwidrigkeit eines Mietvertrages mit nichtehelichen Partnern, heute Bejahung einer Duldungspflicht des nichtehelichen Partners gemäß BGB § 549) - vertretbar und hält sich im Rahmen zulässiger Rechtsfortbildung.
4. Aus der Schutz- und Förderungspflicht des Gesetzgebers gemäß GG Art 6 Abs 1 folgt keine Pflicht, nichtehelichen Gemeinschaften jedwede rechtliche Anerkennung zu versagen und mit allen Mitteln darauf hinzuwirken, daß ihnen die zu ihrer Führung erforderlichen finanziellen und sonstigen Mittel - hier durch Ausschluß der Nachfolgemöglichkeit gemäß BGB § 569a - entzogen werden.
5. Im Hinblick auf die durch die Privatnützigkeit und grundsätzliche Verfügungsbefugnis gekennzeichnete Eigentumsgarantie darf der Eigentümer nicht verpflichtet werden, sämtliche Mitbewohner des jeweiligen Mieters als Nachfolger zu akzeptieren, ohne auf die Person des Vertragspartners noch in irgendeiner Weise Einfluß nehmen zu können (vgl BVerfG, 1989-02-14, 1 BvR 308/88, BVerfGE 79, 292 ≪304≫); andererseits dürfte der Gesetzgeber wegen der Sozialpflichtigkeit des Eigentums und im Hinblick auf die Belange des Mieters (vgl BVerfG, 1975-02-04, 2 BvL 5/74, BVerfGE 38, 348 ≪370≫) - insbesondere auch der aus der allgemeinen Handlungsfreiheit folgenden Befugnis des Mieters zu einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft - jedenfalls bei lang andauerndem Mitgebrauch die Mitnutzung des Lebensgefährten des Mieters berücksichtigen und eine Nachfolgemöglichkeit einräumen, sofern dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit (vgl BGB § 569a Abs 5) Rechnung getragen wird.
6. Mit diesem Beschluß ist über die zivilrechtlich "richtige" Auslegung von BGB § 569a Abs 2 nicht entschieden; diese ist in dem gemäß MietRÄndG 3 Art 3 Abs 1 vorgesehenen Verfahren der Einholung eines Rechtsentscheids für mietrechtliche Fragen von grundsätzlicher Bedeutung zu klären; die Nichtvorlage durch das LG stellt insoweit eine nicht zu rechtfertigende Verkehrung des Gesetzeszwecks dar (hier: keine Feststellung der Verletzung von GG Art 101 Abs 1 S 2, da diese nicht gerügt worden war; vgl BVerfG, 1987-06-16, 1 BvR 1113/86, BVerfGE 76, 93 ≪96f≫).
Normenkette
GG Art. 20 Abs. 3, Art. 14 Abs. 1 Sätze 1-2, Art. 6 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 101 Abs. 1 S. 2; BGB § 569a Abs. 2 S. 1, Abs. 5, § 569 Abs. 1, §§ 569b, 549 Abs. 2; MietRÄndG 3 Art. 3 Abs. 1 S. 1 Hs. 2
Verfahrensgang
Fundstellen
BVerfGE 82, 6-18 (Leitsatz und Gründe) |
BVerfGE, 6 |
NJW 1990, 1593-1595 (red. Leitsatz und Gründe) |
FamRZ 1990, 727-729 (red. Leitsatz und Gründe) |
WM 1990, 1071-1074 (red. Leitsatz und Gründe) |
ZMR 1990, 290-292 (red. Leitsatz und Gründe) |
JZ 1990, 811 |