Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei sprachunkundigem Ausländer
Leitsatz (redaktionell)
Unzureichende Sprachkenntnisse entheben den Ausländer nicht jeglicher Sorgfaltspflicht in der Wahrnehmung seiner Rechte. Insbesondere hat er mit Rücksicht auf das im Wiedereinsetzungsrecht geltende Beschleunigungsgebot zumutbare Anstrengungen zu unternehmen, um zu einem raschen „Wegfall des Hindernisses” i. S. des § 60 Abs. 2 VwGO beizutragen. Soweit er dazu Anlaß hat und in der Lage ist, muß er sich – unabhängig vom Lauf der versäumten Frist – ausreichend um die Verfolgung seiner Interessen kümmern. Ist dies nicht geschehen, so kann dies die Versagung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auch dann rechtfertigen, wenn einem der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtigen Ausländer ein Bescheid ohne eine ihm verständliche Rechtsmittelbelehrung zugestellt worden ist.
Normenkette
GG Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1; VwGO § 60 Abs. 2; AsylVfG §§ 10, 19
Verfahrensgang
VG Hannover (Entscheidung vom 09.08.1991; Aktenzeichen 2 B 3263/91) |
VG Hannover (Entscheidung vom 09.08.1991; Aktenzeichen 2 B 3265/91) |
VG Hannover (Entscheidung vom 07.08.1991; Aktenzeichen 2 B 3260/91) |
VG Hannover (Entscheidung vom 07.08.1991; Aktenzeichen 2 B 3258/91) |
Gründe
Die Beschwerdeführer rügen, die Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 60 VwGO) gegen die Versäumung der Frist des § 10 Abs. 3 Satz 3 AsylVfG verletze sie angesichts der mangelnden Kenntnisse der deutschen Sprache in ihren Rechten aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG. Die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts habe mit Beschluß vom 23. April 1991 – 2 BvR 150/91 – (NJW 1991, S. 2208) entschieden, daß die Anforderungen an die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand überspannt würden und Art. 103 Abs. 1 GG verletzten, wenn ein Gericht ohne nähere Darlegung annehme, ein Ausländer sei gehalten, sich innerhalb der ihm nicht bekannten Einspruchsfrist um ein genaues Verständnis eines Strafbefehls samt Rechtsmittelbelehrung zu bemühen; außerdem sei die Rechtsmittelbelehrung versteckt gewesen.
Die Rügen bleiben ohne Erfolg. Die Rechtsmittelbelehrungen der Bescheide des Landkreises Diepholz sind am Wortlaut des § 10 Abs. 3 Satz 2, 3 und 5 AsylVfG orientiert; zudem war die besondere Wochenfrist für den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage im Text der Rechtsmittelbelehrung durch Unterstreichung hervorgehoben.
Das Verwaltungsgericht hat im Ergebnis auch nicht die Bedeutung von Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG bei der Anwendung von § 60 VwGO verkannt. Es ist zwar in den angegriffenen Beschlüssen jeweils davon ausgegangen, daß den Beschwerdeführern Wiedereinsetzung nicht gewährt werden könne, weil sie nicht ohne Verschulden verhindert gewesen seien, die hier bestehende Antragsfrist einzuhalten; hierzu hat es weiter ausgeführt, die Beschwerdeführer hätten nichts dazu vorgetragen, daß sie sich rechtzeitig um die Wahrnehmung ihrer Rechte bemüht hätten und es ihnen allein aufgrund sprachlicher Schwierigkeiten unmöglich gewesen sei, die Antragsfrist von einer Woche einzuhalten. Ob dies noch dem Grundsatz entspricht, daß die Versäumung einer – einwöchigen – Rechtsbehelfsfrist, soweit sie auf unzureichenden Sprachkenntnissen des Ausländers beruht, nicht als verschuldet im Sinne des Rechts auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand anzusehen ist (vgl. BVerfGE 40, 95 ≪99 f.≫; 42, 120 ≪125 f.≫), braucht hier nicht entschieden zu werden. Unzureichende Sprachkenntnisse entheben den Ausländer nämlich nicht jeglicher Sorgfaltspflicht in der Wahrnehmung seiner Rechte. Insbesondere hat er mit Rücksicht auf das im Wiedereinsetzungsrecht geltende Beschleunigungsgebot zumutbare Anstrengungen zu unternehmen, um zu einem raschen „Wegfall des Hindernisses” im Sinne des § 60 Abs. 2 VwGO beizutragen. Soweit er dazu Anlaß hat und in der Lage ist, muß er sich – unabhängig vom Lauf der versäumten Frist – ausreichend um die Verfolgung seiner Interessen kümmern. Ist dies nicht geschehen, so kann dies die Versagung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auch dann rechtfertigen, wenn einem der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtigen Ausländer ein Bescheid ohne eine ihm verständliche Rechtsmittelbelehrung zugestellt worden ist (vgl. BVerfGE 42, 120 ≪126 f.≫). Im Anschluß hieran hat das Verwaltungsgericht in den angefochtenen Beschlüssen auch darauf abgestellt, die Beschwerdeführer hätten bei Entgegennahme der Bescheide – deren Zustellung erfolgte durch Niederlegung bei der Post am 22. Mai 1991 – erkennen müssen, daß es sich um im Zusammenhang mit ihren Asylbegehren stehende Schriftstücke handelte. Die Beschwerdeführer hätten nicht dargelegt, welche Anstrengungen zur Klärung der Bedeutung der erhaltenen Schriftstücke sie zwischen dem Empfang der Bescheide und der Kontaktaufnahme mit dem Prozeßbevollmächtigten am 6. Juni 1991 unternommen hätten und könnten sich deshalb nicht darauf berufen, die Antragsfrist unverschuldet versäumt zu haben. Auf der Grundlage dieser letztgenannten Erwägung, gegen die in den Verfassungsbeschwerden keine substantiierten Einwendungen erhoben worden sind, läßt die Versagung der beantragten Wiedereinsetzung keinen Verfassungsverstoß erkennen. Dem steht nicht entgegen, daß das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 42, 120 ≪127≫) für einen Fall, in dem ein der deutschen Sprache nicht mächtiger Ausländer einen Strafbefehl oder Bußgeldbescheid ohne eine ihm verständliche Rechtsmittelbelehrung erhalten hat, eine die Wiedereinsetzung ausschließende unzureichende Interessenwahrnehmung dann angenommen hat, wenn der Betroffene sich nicht binnen eines Monats Gewißheit über den genauen Inhalt des Schreibens verschafft, obwohl er es jedenfalls soweit erfaßt hat, daß es sich um ein amtliches Schriftstück handeln könnte, das eine ihn belastende Verfügung enthält. Das Bundesverfassungsgericht erwähnt die Monatsfrist nur beispielhaft und läßt damit eine auf die konkreten Umstände des Einzelfalls bezogene Bewertung zu. Die im Blick auf das Wiedereinsetzungsrecht angemessene Frist zur Wahrnehmung der eigenen Interessen darf deshalb bei einem Asylbewerber ohne Aufenthaltsgenehmigung, dessen Aufenthaltszweck sich zunächst auf die Durchführung des Asylverfahrens beschränkt (§§ 19 ff. AsylVfG), kürzer bemessen werden. Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß es – worauf das Verwaltungsgericht ebenfalls abstellt – dem Asylbewerber möglich ist, sich alsbald an die Ausländerbehörde zu wenden, bei der er den Asylantrag gestellt bzw. von der er die Aufenthaltsgestattung erhalten hat, und dort um Aufklärung zu bitten.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Fundstellen