Entscheidungsstichwort (Thema)
Gebot des fairen Verfahrens durch widersprüchliches Verhalten des Gerichts nach Stellung eines Wiedereinsetzungsantrages verletzt
Leitsatz (redaktionell)
1. Maßgebliche Elemente des Rechtsstaatsprinzips sind das Gebot des fairen Verfahrens und der Grundsatz des Vertrauensschutzes, die ihren Ausdruck und ihre Konkretisierung in den in § 139 ZPO verankerten Pflichten des Gerichts im Rahmen des ihm Erlaubten und Zumutbaren finden, den Prozess nach Kräften bis zur Entscheidungsreife zu fördern sowie auf rechtliche oder tatsächliche, verfahrens- oder sachlichrechtliche Gesichtspunkte, die von entscheidungserheblicher Bedeutung sind, so früh wie möglich hinzuweisen.
2. Demnach ist das Rechtsstaatsprinzip verletzt, wenn das Gericht nach Stellung des Wiedereinsetzungsantrages die Verhandlung in der Sache über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren hinweg fortsetzt und den Eindruck erweckt, Wiedereinsetzung gewährt zu haben, sich aber dann zum Ende des Verfahrens mit seiner Entscheidung, der Wiedereinsetzungsantrag sei nach § 234 Abs. 3 ZPO unzulässig, zu seinem bisherigen Verhalten in eindeutigen Widerspruch setzt und sich das Gericht darüber hinaus in seiner Entscheidung nicht mit seinem eigenen widersprüchlichen Verhalten sowie dem dadurch auf Seiten des Beschwerdeführers entstandenen Vertrauen auseinander setzt.
Normenkette
GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; ZPO § 139 Abs. 2, 4, § 234 Abs. 3
Verfahrensgang
LG Mainz (Urteil vom 18.02.1998; Aktenzeichen 3 S 94/94) |
Tenor
- Das Urteil des Landgerichts Mainz vom 18. Februar 1998 – 3 S 94/94 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Das Urteil wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Mainz zurückverwiesen.
- Das Land Rheinland-Pfalz hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
- Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000 Euro (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ablehnung eines Wiedereinsetzungsantrages wegen Ablaufs der Jahresfrist nach § 234 Abs. 3 ZPO und die Verwerfung der Berufung als unzulässig wegen Versäumung der Berufungsfrist.
Mit fristgerecht am 28. Februar 1994 eingegangenem Schriftsatz legte der Beschwerdeführer Berufung gegen ein mietrechtliches Urteil ein. Die Berufungsschrift war nicht unterschrieben. Das Landgericht bestimmte einen Verhandlungstermin auf den 21. März 1995, in dem es einen Beweisbeschluss erließ. Erst im Rahmen der (zweiten) mündlichen Verhandlung am 27. Juni 1995 wies die Kammer die Parteien darauf hin, dass die Berufungsschrift nicht unterschrieben sei.
Mit Schriftsatz vom 11. Juli 1995 beantragte der Beschwerdeführer die Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand, woraufhin die mündliche Verhandlung am 19. September 1995 fortgesetzt und am 24. Oktober 1995 der Beschluss verkündet wurde, dass – nach bereits erfolgter Einzahlung des Gebührenvorschusses in Höhe von 1.800 DM durch den Beschwerdeführer – der Beweisbeschluss ausgeführt werden solle. Der Sachverständige erstellte ein Gutachten und wurde am 14. Oktober 1997 in der mündlichen Verhandlung hierzu angehört.
Im Verkündungstermin am 26. November 1997 wies das Gericht darauf hin, dass der Wiedereinsetzungsantrag erst nach Ablauf eines Jahres vom Ende der versäumten Frist an gerechnet gestellt worden sei, mithin eine Wiedereinsetzung nach § 234 Abs. 3 ZPO möglicherweise unzulässig erscheine, weshalb erneut eine vergleichsweise Einigung angeregt werde. Hinsichtlich der Kosten komme eine Anwendung des § 8 GKG in Betracht.
Nach Ablehnung einer vergleichsweisen Einigung und Zustimmung zur Entscheidung im schriftlichen Verfahren erging am 18. Februar 1998 das mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Urteil. Die Berufung sei unzulässig, da die Berufungsschrift nicht unterschrieben sei. Dem Wiedereinsetzungsgesuch habe nicht stattgegeben werden können, da nach § 234 Abs. 3 ZPO dieses nur innerhalb eines Jahres nach Ablauf der versäumten Frist gestellt werden könne. Hätte das Gericht in der ersten mündlichen Verhandlung vom 21. März 1995 auf die fehlende Unterschrift hingewiesen, wäre die Jahresfrist ebenfalls abgelaufen gewesen. Zwar hätte dem Gericht die fehlende Unterschrift vor Ablauf der Jahresfrist auffallen können, so dass nach entsprechendem Hinweis der Beschwerdeführer das Wiedereinsetzungsgesuch noch rechtzeitig hätte stellen können. Die Verzögerung habe ihre Ursache jedoch nicht allein in der Sphäre des Gerichts gehabt, da keine Verpflichtung des Gerichts zur Vorabentscheidung über die Zulässigkeit der Berufung bestanden habe. Ob § 234 Abs. 3 ZPO anwendbar sei, wenn die Verzögerung ihre Ursache “auch” in der Sphäre des Gerichts habe, sei zwar umstritten, nach Ansicht des Gerichts aber zu bejahen.
Entscheidungsgründe
II.
Mit seiner gegen die Verwerfung der Berufung gerichteten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer insbesondere die Verletzung des Rechtsstaatsprinzips. Die Beteiligten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
III.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG statt.
1. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c BVerfGG). Die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zu den im Rechtsstaatsprinzip verankerten Geboten des Vertrauensschutzes sowie des fairen Verfahrens sind durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beantwortet (vgl. BVerfGE 53, 115 ≪127≫; 70, 297 ≪308 f.≫).
2. Die angefochtene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Die Ablehnung des Wiedereinsetzungsantrages des Beschwerdeführers und die darauf basierende Verwerfung der Berufung als unzulässig ist unter Berücksichtigung der Prozessführung des Landgerichts nach Eingang des Wiedereinsetzungsantrages verfassungswidrig.
a) Das Rechtsstaatsprinzip enthält keine in allen Einzelheiten eindeutig bestimmten Gebote oder Verbote von Verfassungsrang, sondern ist ein Verfassungsgrundsatz, der der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten bedarf, wobei allerdings fundamentale Elemente des Rechtsstaates und die Rechtsstaatlichkeit im Ganzen gewahrt bleiben müssen (vgl. BVerfGE 53, 115 ≪127≫; 70, 297 ≪308≫). Im Hinblick auf die Weite und Unbestimmtheit des Rechtsstaatsprinzips können aus diesem selbst erst dann konkrete Folgerungen für die gerichtliche Verfahrensgestaltung gezogen werden, wenn sich unzweideutig ergibt, dass hierbei rechtsstaatlich unverzichtbare Erfordernisse nicht mehr gewahrt worden sind (vgl. BVerfGE 70, 297 ≪309≫).
Die für das vorliegende Verfahren maßgeblichen Elemente des Rechtsstaatsprinzips sind das Gebot des fairen Verfahrens und der Grundsatz des Vertrauensschutzes, die ihren Ausdruck und ihre Konkretisierung in den in § 139 ZPO verankerten Pflichten des Gerichts im Rahmen des ihm Erlaubten und Zumutbaren finden, den Prozess nach Kräften bis zur Entscheidungsreife zu fördern (vgl. Baumbach/Hartmann, § 139 Rn. 8) sowie auf rechtliche oder tatsächliche, verfahrens- oder sachlichrechtliche Gesichtspunkte, die von entscheidungserheblicher Bedeutung sind, hinzuweisen, und zwar so früh wie möglich (§ 139 Abs. 2 und 4 ZPO).
b) Dem ist das Landgericht mit der angegriffenen Entscheidung in verfassungswidriger Weise nicht gerecht geworden. Auch wenn die seiner Entscheidung zugrundegelegte Auffassung zur Anwendung des § 234 Abs. 3 ZPO allein grundsätzlich noch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet, verstößt die Entscheidung dennoch gegen das Rechtsstaatsprinzip, weil sie im Widerspruch zum gesamten vorherigen verfahrensleitenden Handeln des Gerichts steht und erst in einem Stadium des Verfahrens getroffen worden ist, in dem der Beschwerdeführer aufgrund der Verfahrensweise des Gerichts nicht mehr mit einer Entscheidung dieses Inhalts hat rechnen müssen. Nach Stellung des Wiedereinsetzungsantrages hat das Gericht die Verhandlung in der Sache über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren hinweg fortgesetzt. Dabei hat es mit verfahrensleitenden Maßnahmen wie der Einholung eines Sachverständigengutachtens sowie der persönlichen Anhörung des Sachverständigen, die auf eine Entscheidung in der Sache gerichtet sind, den Eindruck erweckt, Wiedereinsetzung gewährt zu haben. Nach diesem Verlauf des Verfahrens hat der Beschwerdeführer, auch weil das Gericht bis zum Verkündungstermin ihm keinen dem entgegenstehenden Hinweis gegeben hatte, davon ausgehen können, dass die anfängliche Unzulässigkeit seiner Berufung nach Gewährung der Wiedereinsetzung geheilt sei und folglich eine Entscheidung in der Sache ergehen werde. Zu seinem bisherigen Verhalten hat sich das Gericht dann zum Ende des Verfahrens mit seiner Entscheidung in eindeutigen Widerspruch gesetzt, indem es nunmehr die Rechtsansicht vertreten hat, der Wiedereinsetzungsantrag sei unzulässig. Damit haben sich im Nachhinein nicht nur das seit dem Wiedereinsetzungsantrag über zwei Jahre fortgesetzte Verfahren mit all seinen eine materielle Entscheidung befördernden Maßnahmen, sondern auch die im Vertrauen auf eine solche Entscheidung vom Beschwerdeführer eingesetzten finanziellen Mittel als nutzlos erwiesen. Indem sich das Gericht darüber hinaus in seiner Entscheidung nicht mit seinem eigenen widersprüchlichen Verhalten sowie dem dadurch auf Seiten des Beschwerdeführers entstandenen Vertrauen auseinander gesetzt hat, vermittelt diese den Eindruck der Willkürlichkeit, da die vertretene Rechtsansicht aus dem Grund gewählt zu sein scheint, das vorangetriebene Verfahren nun doch nicht in der Sache entscheiden zu müssen. Dies verletzt das Gebot des fairen Verfahrens.
c) Die angegriffene Entscheidung des Landgerichts Mainz beruht auf dem dargelegten Grundrechtsverstoß. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Gericht bei Beachtung des Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.
3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Entscheidung über die Festsetzung des Gegenstandswertes folgt aus § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO (vgl. auch BVerfGE 79, 365 ≪366≫).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Papier, Steiner, Hohmann-Dennhardt
Fundstellen
Haufe-Index 1159823 |
NJW 2004, 2149 |
www.judicialis.de 2004 |