Steuerrecht am Bundesverfassungsgericht
Wie steuerliche Verfahren zum Bundesverfassungsgericht kommen
Von den in Art. 93 ff. GG geregelten Arten von Verfahren, über die das BVerfG zu entscheiden hat, sind zwei für das Steuerrecht von zentraler Bedeutung: die Verfassungsbeschwerde und die konkrete Normenkontrolle.
Am häufigsten hat das BVerfG über steuerverfassungsrechtliche Fragen zu entscheiden, weil Steuerpflichtige Verfassungsbeschwerden einlegen. Voraussetzung für eine (erfolgreiche) Verfassungsbeschwerde ist, dass die Steuerpflichtigen zuvor den Rechtsweg erschöpft haben (vgl. § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Das bedeutet im Steuerrecht, dass sie gegen ihren Steuerbescheid vor dem Finanzgericht geklagt haben und im Anschluss daran auch der Bundesfinanzhof – das höchste deutsche Steuergericht – die Entscheidung des Finanzgerichts überprüft hat. Überprüft bedeutet, dass der Bundesfinanzhof entweder über ein Revisionsverfahren oder, im häufiger vorkommenden Fall, über eine sog. Nichtzulassungsbeschwerde entschieden hat.
Exkurs: Der Rechtsweg im Steuerrecht
Der Rechtsweg ist im Steuerrecht vergleichsweise "kurz". Es gibt nur die Finanzgerichte und als Revisionsgericht den Bundesfinanzhof. Revisionsgericht bedeutet, dass der Bundesfinanzhof nur über Rechtsfragen entscheidet, nicht aber über Tatsachen, denn diese muss das Finanzgericht feststellen und hieran ist der Bundesfinanzhof grundsätzlich gebunden (der Bundesfinanzhof überprüft also nur die rechtliche Beurteilung des Finanzgerichts). In fast allen anderen Gerichtszweigen gibt es noch eine Instanz mehr, nämlich ein Berufungsgericht. Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren gibt es z.B. das Verwaltungsgericht, das Oberverwaltungsgericht (in den Südländern und Hessen: Verwaltungsgerichtshof) und das Bundesverwaltungsgericht. Die Oberverwaltungsgerichte bzw. Verwaltungsgerichtshöfe sind dabei überwiegend als Berufungsgerichte tätig. Berufungsgericht bedeutet, dass an diesen Gerichten nicht nur über Rechtsfragen entschieden wird, sondern auch Tatsachen (neu) festgestellt werden können.
In den allermeisten Fällen kann gegen ein Urteil des Finanzgerichts keine Revision beim Bundesfinanzhof eingelegt werden. Denn das ist nur möglich, wenn das Finanzgericht dies zugelassen hat, was es nur in Ausnahmefällen – z.B. bei grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache – macht. Wenn die Revision vom Finanzgericht nicht zugelassen wird, muss der Steuerpflichtige (bzw. sein Anwalt bzw. Steuerberater) eine sog. Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundesfinanzhof erheben. Auf diese Nichtzulassungsbeschwerde hin entscheidet der Bundesfinanzhof entweder, dass das Beschwerdeverfahren als Revisionsverfahren fortgesetzt wird (Ausnahme), oder er lehnt die Beschwerde ab (Regelfall).
Verfassungsbeschwerde
Eine Verfassungsbeschwerde muss gut begründet werden, insb. muss ausgeführt werden, in welchen (Grund-)Rechten und warum sich der Beschwerdeführer durch die Entscheidungen der Fachgerichte verletzt fühlt (vgl. § 92 BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde muss außerdem innerhalb eines Monats erhoben werden, nachdem dem Beschwerdeführer die (letzte) Entscheidung, die er angreift, zugestellt wurde (§ 93 Abs. 1 BVerfGG).
Es hört sich auf den ersten Blick nicht sonderlich schwer an, diese Voraussetzungen zu erfüllen. Die Kriterien, die das BVerfG an die Begründung der Verfassungsbeschwerde und auch an die Erschöpfung des Rechtswegs anlegt, sind aber sehr streng. Dies liegt insb. daran, dass die nur 16 Richter am BVerfG pro Jahr über viele Tausend Verfahren entscheiden müssen (davon aber nur ca. 150 aus dem Steuerrecht). Auch im Steuerrecht werden die meisten Verfassungsbeschwerden ohne Begründung abgelehnt, häufig, weil sie nicht ausreichend begründet sind oder der Rechtsweg nicht oder nicht in einer Art und Weise erschöpft wurde, wie dies das BVerfG verlangt.
Konkrete Normenkontrolle
Eine weitere sehr wichtige Verfahrensart für steuerverfassungsrechtliche Verfahren ist die konkrete Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG). Wenn ein Finanzgericht oder ein Senat des Bundesfinanzhofs ein Gesetz für verfassungswidrig hält, auf das es bei ihrer zu treffenden Entscheidung ankommt, dürfen sie das Gesetz nicht unangewendet lassen, sondern müssen dem BVerfG die Frage vorlegen, ob dieses Gesetz (i.d.R.: die einzelne Vorschrift des Gesetzes) tatsächlich verfassungswidrig ist und daher nicht angewendet werden kann. Auch das vorlegende Gericht muss dabei ausführlich begründen, welche Vorschrift es aus welchen Gründen für verfassungswidrig erachtet und warum es auf diese Vorschrift bei der von ihm zu treffenden Entscheidung ankommt (§ 80 Abs. 2 BVerfGG).
Das BVerfG entscheidet in diesen Fällen (nur) über die vom Finanzgericht oder Bundesfinanzhof gestellte Rechtsfrage, aber nicht über das gesamte beim vorlegenden Gericht anhängige Verfahren. Über das Verfahren muss das vorlegende Gericht nämlich selbst entscheiden, sobald es eine Antwort vom BVerfG auf die Frage hat, ob die für die Entscheidung wichtige Vorschrift tatsächlich verfassungswidrig ist.
Hinweis: Aktenzeichen
Ob es sich bei einer Entscheidung des BVerfG um eine Entscheidung über eine Verfassungsbeschwerde oder eine konkrete Normenkontrolle handelt, können Sie auf den ersten Blick anhand des Aktenzeichens erkennen: Verfahren über Verfassungsbeschwerden werden unter der Abkürzung BvR geführt, Verfahren über konkrete Normenkontrollen unter der Abkürzung BvL.
Die Entscheidung des BVerfG zu den Nachzahlungszinsen hat beispielsweise das Aktenzeichen 1 BvR 2237/14. Das bedeutet im Einzelnen: 1 = der Erste Senat (oder eine Kammer des ersten Senats) hat entschieden. BvR = es handelt sich um eine Verfassungsbeschwerde. 2237/14 = Das Verfahren ging im Jahr 2014 beim BVerfG ein und es war die 2237. Verfassungsbeschwerde in diesem Jahr.
Die Entscheidung des BVerfG zu den Erstausbildungskosten hat hingegen das Aktenzeichen 2 BvL 22/14. Hier hat also der Zweite Senat entschieden (2), und zwar in einem Verfahren der konkreten Normenkontrolle (BvL), die ebenfalls im Jahr 2014 und als 22. Normenkontrollverfahren einging (22/14).
Wer über steuerliche Verfahren entscheidet
Wie Sie an den obigen Beispielen zu den Aktenzeichen sehen können, entscheiden beide Senate des BVerfG über steuerverfassungsrechtliche Fragestellungen. Jeder dieser Senate besteht aus acht Richtern. Die Kammern, die jeweils in diesen Senaten gebildet werden, bestehen aus jeweils drei Richtern, mindestens ein Richter aus jedem Senat muss also in zwei Kammern mitwirken. Über steuerverfassungsrechtliche Fragestellungen entscheiden daher – je nachdem, welcher Senat zuständig ist – drei bzw. acht unterschiedliche Richter. Denn im "anderen" Senat dürfen die Richter nur in absoluten Ausnahmefällen mitentscheiden, wenn ein Richter – z.B. wegen der Besorgnis der Befangenheit – nicht mitentscheiden darf und "ersetzt" werden muss.
Welcher Senat zuständig ist, steht von vorneherein fest, denn jedes Gericht in Deutschland – auch das BVerfG – muss dies in einem sog. Geschäftsverteilungsplan festlegen –, und zwar bevor die Verfahren eingehen.
Nach dem Gesetz (vgl. § 14 Abs. 1 BVerfGG) wäre eigentlich der Erste Senat für fast alle Verfassungsbeschwerden und konkreten Normenkontrollen zuständig. Allerdings hat das Plenum des BVerfG (also alle 16 Richter) dies abweichend geregelt (vgl. § 14 Abs. 4 Satz 1 BVerfGG), was auch dringend nötig war, da ansonsten der Erste Senat viel zu stark belastet wäre. Für das Steuerrecht bedeutet das, dass der Zweite Senat derzeit für alle Verfassungsbeschwerden und Normenkontrollverfahren aus den Bereichen des Einkommensteuerrechts (und Kirchensteuerrechts) sowie des Körperschaftsteuerrechts und des Umwandlungssteuerrechts zuständig ist. Für alle anderen Verfahren (also z.B. aus den Bereichen Erbschaftsteuer, Umsatzsteuer, Gewerbesteuer) ist der Erste Senat zuständig.
Innerhalb der Senate sind die Zuständigkeiten weiter auf die einzelnen Richter – im Steuerrecht derzeit ausschließlich Richterinnen – verteilt. Geht also ein Verfahren aus dem Bereich des Erbschaftsteuerrechts ein, so wird dies der zuständigen Richterin – der sog. Berichterstatterin – aus dem Ersten Senat zugeteilt, ein Verfahren aus dem Einkommensteuerrecht der Berichterstatterin aus dem Zweiten Senat.
Wie über steuerliche Verfahren entschieden wird
Die berichterstattende Richterin bearbeitet das Verfahren zunächst mit Unterstützung der für sie tätigen wissenschaftlichen Mitarbeiter. Alleine entscheiden kann die Berichterstatterin aber nie über ein Verfahren. Wie entschieden wird, hängt vielmehr insbesondere auch von der Art des Verfahrens ab.
Verfassungsbeschwerden
Verfassungsbeschwerden werden im absoluten Regelfall von "nur" drei Richtern, also in der Kammer entschieden. Die zuständige Berichterstatterin erarbeitet zusammen mit ihren wissenschaftlichen Mitarbeitern ein Gutachten ("Votum"), in dem vorgeschlagen wird, wie das Verfahren zu entscheiden ist. Dabei gibt es drei Möglichkeiten:
- In den allermeisten Fällen wird eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen (vgl. § 93a BVerfGG), weil sie unzulässig ist. In diesen Fällen wird durch die Kammer entschieden, dass die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen wird; eine weitergehende Begründung findet im Regelfall nicht statt (vgl. § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG), ist aber möglich.
- In seltenen Fällen wird eine Verfassungsbeschwerde von der Kammer angenommen und dieser – ohne mündliche Verhandlung (vgl. § 93d Abs. 1 Satz 1 BVerfGG) – stattgegeben. Dies darf die Kammer nur in den Fällen, in denen der Beschwerdeführer offensichtlich in seinen (Grund-)Rechten verletzt ist und in denen die für die Entscheidung maßgebliche verfassungsrechtliche Frage bereits vom BVerfG in einem früheren Verfahren entschieden wurde. Eine solche Entscheidung darf die Kammer aber dann nicht treffen, wenn Inhalt dieser Entscheidung wäre, dass ein Gesetz mit dem Grundgesetz unvereinbar bzw. dieses Gesetz nichtig ist; solche Entscheidungen darf nur der Senat (mit acht Richtern) treffen.
- In seltenen Fällen entscheidet der Senat über Verfassungsbeschwerden. Dies sind Fälle, in denen die Verfassungsbeschwerde – insb. wegen grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung – zur Entscheidung angenommen wird und in denen das BVerfG über diese Frage noch nicht entschieden hat.
Es ist natürlich nicht alleine ausreichend, dass eine Verfassungsbeschwerde grundsätzliche verfassungsrechtliche Fragen aufwirft. Auch solche Verfassungsbeschwerden können nur dann zur Entscheidung angenommen werden, wenn die Zulässigkeitsvoraussetzungen (also insb. die Erschöpfung des Rechtswegs, eine ausreichende Begründung und die Frist) eingehalten sind.
In solchen Fällen trifft dann am Ende der Senat aus acht Richtern eine Entscheidung. Die Richter müssen zuvor entscheiden, ob in diesem Verfahren eine mündliche Verhandlung durchgeführt werden soll – z.B., weil man sich von dieser weitere Aufklärung verspricht oder weil es sich um ein für die Öffentlichkeit besonders wichtiges Verfahren handelt.
Hinweis: Beschluss und Urteil
Das BVerfG entscheidet fast immer durch Beschluss und nur in seltenen Fällen durch Urteil. Inhaltlich hat diese Unterscheidung aber überhaupt keine Bedeutung, ein Beschluss hat exakt die gleichen Wirkungen wie ein Urteil. Der Unterschied besteht nur darin, ob eine Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung ergeht (dann heißt sie Urteil) oder ob eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ergeht (dann heißt sie Beschluss), vgl. § 25 Abs. 2 BVerfGG. Tipp: Wenn Sie von "Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts" sprechen, können Sie nichts falsch machen. Denn Entscheidung ist der Oberbegriff und umfasst sowohl Urteile als auch Beschlüsse.
Konkrete Normenkontrollen
Konkrete Normenkontrollen werden – genau anders als Verfassungsbeschwerden – im Regelfall vom Senat entschieden. Dabei ist im Bereich des Steuerverfassungsrechts zwischen Normenkontrollanträgen eines Senats des Bundesfinanzhofs und eines Finanzgerichts zu unterscheiden.
- Über Normenkontrollanträge eines Senats des Bundesfinanzhofs entscheidet immer der Senat. Wie bei Verfassungsbeschwerden auch, muss dabei zunächst die Zulässigkeit des Antrags überprüft werden, also insb., ob es auf die Vorschrift, die der Senat des Bundesfinanzhofs für verfassungswidrig hält, in dem von ihm zu entscheidenden Verfahren tatsächlich ankommt und ob dies und die Unvereinbarkeit mit Grundrechten ausreichend begründet ist. Wenn dies der Fall ist, entscheidet der Senat über die vom Bundesfinanzhof gestellte Rechtsfrage, wobei er wiederum eine mündliche Verhandlung zwar durchführen kann, dies aber nicht tun muss.
- Für Normenkontrollanträge eines Finanzgerichte gilt das eben Gesagte entsprechend, allerdings mit einer Ausnahme: Wenn sich die Berichterstatterin und die beiden anderen Richter in der Kammer darüber einig sind, dass der Normenkontrollantrag bereits unzulässig ist, kann diese Entscheidung auch in der Kammer getroffen werden, § 81a BVerfGG. In allen anderen Fällen muss aber auch bei Normenkontrollanträgen eines Finanzgerichts der Senat entscheiden.
Die "großen Entscheidungen" im Steuerverfassungsrecht (und auch in den anderen Rechtsgebieten) sind solche, die vom Senat getroffen werden – wie gesehen, darf die Kammer nämlich Verfassungsbeschwerden nur entscheiden, wenn die Rechtsfrage bereits in der Rechtsprechung des BVerfG geklärt ist (also nicht neu ist), und bei Normenkontrollanträgen allenfalls entscheiden, dass diese unzulässig sind (also gar keine Entscheidung hinsichtlich der Rechtsfrage ergeht). Obwohl über viel mehr Verfassungsbeschwerden als über konkrete Normenkontrollen entschieden werden muss, ist es daher nicht verwunderlich, dass viele der bekannten Entscheidungen zu Normenkontrollverfahren ergehen und ergangen sind, z. B. die Entscheidungen zu
- den Erbbauzinsen (2 BvL 1/11),
- der Erbschaftsteuer (2 BvL 21/12),
- den Erstausbildungskosten (2 BvL 22/14),
- der Kernbrennstoffsteuer (2 BvL 6/13) und
- der Spekulationsfrist (2 BvL 14/02).
Autoren: Dr. Matthias Modrzejewski ist Richter an einem Verwaltungsgericht. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Tübingen und Heidelberg war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Steuerrecht der Universität zu Köln, am Bundesverfassungsgericht und Rechtsanwalt bei einer internationalen Großkanzlei. Prof. Dr. Gary Rüsch ist Inhaber einer Professur für Allgemeines und Besonderes Steuerrecht an der Hochschule für Finanzen Nordrhein-Westfalen. Nach dem Studium der Betriebswirtschaftslehre in Köln und Düsseldorf war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Steuerrecht der Universität zu Köln und Steuerberater bei einer auf steuerzentrierte Rechtsberatung spezialisierten Kanzlei. Abstrakte grundgesetzliche Vorgaben für steuerliche Sachverhalte werden anhand von Beispielen und Fällen transparent und anschaulich in ihrem Buch "Verfassungsrechtliche Grundlagen des Steuerrechts" erklärt. |
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