Entscheidungsstichwort (Thema)
Rücklage für Ersatzbeschaffung nur für funktionsgleiche Ersatzwirtschaftsgüter. Dauer eines Rechtsschutzverfahrens
Leitsatz (redaktionell)
1. Die durch Auslegung der einkommensteuerrechtlichen Gewinnermittlungsvorschrift in Verbindung mit den handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung entwickelten Rechtsgrundsätze, aufgrund derer die Voraussetzung zur Bildung einer – steuerfreien – Rücklage für Ersatzbeschaffung nicht gegeben ist, weil die – anteilig – für das Zubehör (Maschinen) erhaltene Brandentschädigung endgültig nicht mehr für wirtschaftlich betrachtet funktionsgleiche Ersatzwirtschaftsgüter verwendet wurde, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
2. Die unterschiedliche Behandlung des Privatvermögens gegenüber dem Betriebsvermögen, insbesondere also die Erfassung stiller Reserven bei den Gewinneinkünften, verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
3. Die gesamte Dauer des Rechtsschutzverfahrens von Ende 1976 bis Ende 1987, insbesondere aber die über achtjährige Dauer des erstinstanzlichen Verfahrens, begegnet unter dem Gesichtspunkt eines effektiven Rechtsschutzes erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken.
Normenkette
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3; EStG § 4 Abs. 1, § 5 Abs. 1, § 6 Abs. 1 Nr. 1; EStR Abschn. 35
Verfahrensgang
BFH (Beschluss vom 15.12.1987; Aktenzeichen VIII B 22/86) |
FG Baden-Württemberg (Urteil vom 19.11.1985; Aktenzeichen VIII 180/77) |
Gründe
1. a) Das Finanzgericht Baden-Württemberg hat in Übereinstimmung mit den in ständiger Rechtsprechung (seit der Grundsatzentscheidung des Reichsfinanzhofs vom 21. März 1930, RStBl. 1930, S. 313 ≪314≫; zuletzt BFH, BStBl. II 1985, S. 250 ff., m.w.N.) durch Auslegung der einkommensteuerrechtlichen Gewinnermittlungsvorschrift in Verbindung mit den handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung (§ 5 Abs. 1, § 4 Abs. 1, § 6 Abs. 1 Nr. 1 EStG) entwickelten Rechtsgrundsätzen die Voraussetzung zur Bildung einer – steuerfreien – Rücklage für Ersatzbeschaffung in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise insoweit verneint, als der Beschwerdeführer die – anteilig – für das Zubehör (Maschinen) erhaltene Brandentschädigung endgültig nicht mehr für wirtschaftlich betrachtet funktionsgleiche Ersatzwirtschaftsgüter verwendet hat.
Die einkommensteuerrechtlichen Gewinnermittlungsvorschriften genügen den rechtsstaatlichen Anforderungen an die Bestimmtheit eines Steuergesetzes. Ob und unter welchen Voraussetzungen eine Gewinnverwirklichung eintritt, läßt sich mit Hilfe der anerkannten Auslegungsregeln und einer jahrzehntelangen Bilanz-Rechtsprechung hinreichend sicher erkennen.
Die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe und ihre Auslegungsbedürftigkeit kann überhaupt nur ausnahmsweise zur Feststellung mangelnder Bestimmtheit eines Steuergesetzes führen (vgl. BVerfGE 59, 36 ≪52≫).
Die rechtsstaatlichen Grundsätze der Normenklarheit und Justitiabilität erfordern zwar, daß der Steuerpflichtige die Rechtslage erkennen und sein Verhalten danach einrichten kann. Das Ausmaß der Bestimmtheit wird jedoch mitbestimmt von der Eigenart des geregelten Sachbereichs. Es muß nicht von vornherein jeder Zweifel ausgeschlossen sein. Es genügt, wenn die Gerichte in der Lage sind, die gesetzgeberische Entscheidung zu konkretisieren (vgl. BVerfGE 31, 255 ≪264≫).
Diesen Anforderungen ist im Ausgangsfall Genüge getan.
b) Die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe und die Befugnis zur Rechtsfortbildung gehören zu den anerkannten Aufgaben der Rechtsprechung (vgl. § 11 Abs. 4 FGO; BVerfGE 13, 153 ≪164≫; 69, 188 ≪204≫; 71, 354 ≪362≫). Die Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung sind dann überschritten, wenn Steuertatbestände ausgeweitet oder gar erst neu geschaffen werden (vgl. BVerfGE 13, 318 ≪328 f.≫; 21, 1 ≪4≫; 69, 188 ≪203 f.≫).
Wenn das Realisationsprinzip letztlich im Wege einer teleologischen Reduktion (vgl. auch Herrmann/Heuer/Raupach, EStG, § 4 Anm. 68 a) in Fällen einer zwangsweisen Aufdeckung stiller Reserven generell eingeschränkt wird, so hat das Bundesverfassungsgericht dies im übrigen nicht weiter nachzuprüfen. Der Beschwerdeführer verkennt das Zustandekommen und den Inhalt dieser Rechtsgrundsätze. Rechtsprechung und Verwaltung (vgl. Abschn. 35 EStR) haben damit keinen neuen Eingriffstatbestand contra legem geschaffen oder auch nur einen bestehenden Eingriffstatbestand erweitert, sondern im Gegenteil eine den Steuerpflichtigen begünstigende Ausnahme von den gesetzlichen Vorschriften herausgearbeitet, die an sich zur Gewinnrealisierung führen würden. Wenn der Beschwerdeführer die rechtsstaatliche Grundlage hierfür verneint, so kann er damit keinesfalls die angestrebte Erweiterung dieser Grundsätze erreichen, sondern allenfalls den völligen Wegfall der Möglichkeit, überhaupt eine Rücklage für Ersatzbeschaffung zu bilden.
Es kann dahingestellt bleiben, ob diese den Steuerpflichtigen begünstigenden Rechtsgrundsätze zwischenzeitlich gewohnheitsrechtliche Geltung erlangt haben (vgl. BFH, BStBl. II 1973, S. 582 ≪584≫; II 1985, S. 250 ≪252≫; II 1987, S. 330 ≪331≫). Von Verfassungs wegen (BVerfGE 9, 213 ≪221≫; 61, 145 ≪203≫) ist zwar die Entstehung von Gewohnheitsrecht auch im Steuerrecht nicht von vornherein ausgeschlossen. Das Ausgangsverfahren nötigt allerdings nicht, die Grenzen – auch im steuerbegünstigenden Bereich – aufzuzeigen (kritisch zur Rückstellung für Ersatzbeschaffung vor allem v. Wallis, in: DStZ 1981, S. 487 ff. m.w.N.).
c) Das aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Gebot des Vertrauensschutzes (BVerfGE 59, 128 ≪164 f.≫) ist nicht deshalb verletzt, weil der Beschwerdeführer bereits fünf Jahre vor Erlaß des Einkommensteueränderungsbescheides „irreversible” Investitionen vorgenommen hat. Der Erstbescheid ist mit einem sog. Nachprüfungsvorbehalt versehen gewesen, der die Finanzverwaltung jederzeit berechtigt, die Steuerfestsetzung zu berichtigen. Die Investitionen werden im übrigen weder im ganzen noch teilweise dadurch entwertet, daß das Finanzamt 1976 die teilweise zu Unrecht gebildete Rücklage gewinnerhöhend aufgelöst und mit dem entsprechenden Steuersatz Einkommensteuer nachgefordert hat.
2. Ebensowenig sind Verstöße gegen der Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) ersichtlich.
a) Ein Systemverstoß indiziert zwar eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG (BVerfGE 66, 214 ≪223 f.≫), dem Einkommensteuergesetz sind jedoch die vom Beschwerdeführer in Übereinstimmung mit einzelnen Autoren formulierten Prinzipien nicht zu entnehmen. Weder gebietet es, zwangsweise aufgedeckte stille Reserven unbeschadet der Identität auf beliebige andere Wirtschaftsgüter übertragen zu dürfen, noch besteht ein allgemein gültiger Rechtssatz des Inhalts, die Gewinnrealisierung – im Interesse der Kapitalerhaltung – in allen Fällen hinausschieben zu können, in denen die spätere Erfassung der stillen Reserven gesichert erscheint (vgl. BFH, BStBl. II 1985, S. 250 ≪252≫).
b) Ein Verstoß gegen den dem Gebot der Steuergerechtigkeit zu entnehmenden Grundsatz der Besteuerung nach der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (BVerfGE 68, 287 ≪310≫) ist nicht erkennbar. In Höhe der anteilig auf die endgültig aus dem Betriebsvermögen ausgeschiedenen Maschinen entfallenden Brandentschädigung (abzüglich der Buchwerte) ist die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Beschwerdeführers erhöht worden. Die Verwendung dieser Teilbeträge für die Wiederbeschaffung anderer betrieblicher Wirtschaftsgüter vermag daran nichts zu ändern.
c) Die unterschiedliche Behandlung des Privatvermögens gegenüber dem Betriebsvermögen, insbesondere also die Erfassung stiller Reserven bei den Gewinneinkünften, verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 26, 302 ≪312≫; 27, 112 ≪127≫).
3. a) Nach ständiger Rechtsprechung (seit BVerfGE 4, 7 ≪17 ff.≫) kann Art. 14 Abs. 1 GG durch Auferlegung von Geldleistungspflichten nur ausnahmsweise bei einer übermäßigen, die Vermögensverhältnisse des Steuerpflichtigen grundlegend beeinträchtigenden Besteuerung verletzt werden. Diese Voraussetzungen liegen hinsichtlich der lediglich mit dem individuellen Steuersatz beim Beschwerdeführer erfaßten Entnahmegewinne ersichtlich nicht vor.
Ob die Gesamtbelastung mit Einkommensteuer, Vermögensteuer und der – als Betriebsteuer abzugsfähigen – Gewerbesteuer zu einem derart unverhältnismäßigen Steuerzugriff geführt hat (vgl. Nichtannahme-Beschluß vom 27. Oktober 1975 – 1 BvR 82/73 – StRK, Art. 14 GG R. 79), läßt sich der Verfassungsbeschwerde mangels umfassender Angaben der individuellen Verhältnisse bereits nicht hinreichend deutlich entnehmen (§ 92 BVerfGG).
b) Ob ein Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb überhaupt in den Eigentumsbegriff des Art. 14 Abs. 1 GG einzubeziehen ist (vgl. BVerfGE 51, 193 ≪221 f.≫), kann hier offenbleiben. Die Maschinen sind endgültig aus dem Betriebsvermögen ausgeschieden. Die dafür erlangte Brandentschädigung hat der Beschwerdeführer ebenfalls nicht für die Wiederbeschaffung funktionsgleicher Wirtschaftsgüter eingesetzt. In der Besteuerung des Entnahmegewinns kann schon deshalb kein Eingriff in den Gewerbebetrieb vorliegen.
4. Ebensowenig greift die Einkommenbesteuerung in die Erwerbsfähigkeit und Unternehmensfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) des Beschwerdeführers ein (BVerfGE 47, 1 ≪21≫ m.w.N.).
5. a) Die gesamte Dauer des Rechtsschutzverfahrens von Ende 1976 bis Ende 1987, insbesondere aber die über achtjährige Dauer des erstinstanzlichen Verfahrens, begegnet unter dem Gesichtspunkt eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG; vgl. dazu BVerfGE 55, 349 ≪369≫; Nichtannahme-Beschluß vom 29. Juli 1985 – 2 BvR 1955/85 –, HFR 1986, S. 317, und vom 22. Januar 1987 – 1 BvR 103/85 –) erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken. Im Hinblick auf die eindeutige Judikatur und der dem finanzgerichtlichen Urteil gleichfalls zugrunde gelegten, bereits im April 1977 von der Gebäudebrandversicherung erteilten schriftlichen Auskunft über die Aufteilung der Gesamtentschädigung sind sachliche Gründe nicht zu erkennen, einen solchen weder in rechtlicher noch tatsächlicher Hinsicht besonders komplizierten und umfangreichen Fall derart verzögert zu entscheiden.
Indessen ist ein besonderes Rechtsschutzinteresse an einer ausdrücklich verfassungsrechtlichen Feststellung nach Ergehen der abschließenden fachgerichtlichen Entscheidung nicht erkennbar (vgl. BVerfGE 9, 89 ≪92≫; 58, 208 ≪231≫).
Der vom Beschwerdeführer angeführte Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes gibt zu einer ausnahmsweise zutreffenden verfassungsgerichtlichen Feststellung keine Veranlassung. Der Beschwerdeführer hat nicht im Vertrauen auf eine baldige abschließende Entscheidung investiert. Die verzögerten Entscheidungen haben im übrigen weder bleibende nachteilige Folgen für den Beschwerdeführer noch ist eine Wiederholung zu Lasten des Beschwerdeführers zu befürchten.
b) Der Einkommensteuer-Änderungsbescheid für 1971 in der Fassung der Einspruchsentscheidung ist auch hinreichend begründet worden (vgl. § 121 Abs. 1 AO).
Der Betroffene kann den gemäß Art. 19 Abs. 4 GG gewährleisteten Rechtsschutz gegen öffentliche Hoheitsakte nur dann effektiv in Anspruch nehmen, wenn er weiß, wie die Behörde ihren Verwaltungsakt rechtfertigt und auf welche Rechtsgrundlagen sie ihn stützt (vgl. BVerfGE 50, 287 ≪290≫ m.w.N.). Die Einspruchsentscheidung nimmt auf die – veröffentlichten – Einkommensteuerrichtlinien Bezug. Aus dieser Fundstelle wird deutlich, daß die Rücklagen für Ersatzbeschaffung auf Grund einer Auslegung der Gewinnermittlungsvorschriften zugelassen werden. Von Verfassungs wegen ist eine solche Begründung nicht als unzureichend zu beanstanden. Vor allem wird damit nicht dem Bürger angelastet, überhaupt erst eine geeignete Rechtsgrundlage seinerseits zu suchen.
6. Die Kostenentscheidung folgt aus § 34 Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Fundstellen