Entscheidungsstichwort (Thema)
Berücksichtigung des Kirchensteuer-Hebesatzes gem. § 111 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 AFG auch bei Arbeitslosen, die keiner Kirche angehören
Leitsatz (amtlich)
Es ist mit dem Grundgesetz vereinbar, daß nach § 111 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 AFG auch bei Arbeitslosen, die keiner Kirche angehören, bei der Berechnung des Nettoentgelts, nach dem sich die Höhe des Arbeitslosengeldes bestimmt, ein Kirchensteuer-Hebesatz zu berücksichtigen ist.
Normenkette
GG Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 S. 1, Art. 20 Abs. 3, Art. 100 Abs. 1; AFG § 111 Abs. 2 S. 2 Nr. 2
Verfahrensgang
Tenor
§ 111 Absatz 2 Satz 2 Nummer 2 des Arbeitsförderungsgesetzes in der Fassung des Artikels 27 Nummer 8 des Einführungsgesetzes zum Einkommensteuerreformgesetz vom 21. Dezember 1974 (Bundesgesetzbl. I Seite 3656) ist, auch soweit davon Arbeitslose betroffen sind, die einer kirchensteuererhebenden Kirche nicht angehören, mit dem Grundgesetz vereinbar.
Tatbestand
A.
Die Vorlage betrifft die Frage, ob es verfassungsrechtlich zulässig ist, daß auch bei Arbeitslosen, die einer kirchensteuererhebenden Kirche nicht angehören, bei der Berechnung des Nettoentgelts, nach dem sich die Höhe des Arbeitslosengeldes bestimmt, ein Kirchensteuer-Hebesatz zu berücksichtigen ist.
I.
1. Über die Berechnung des Arbeitslosengeldes bestimmt das Arbeitsförderungsgesetz (AFG) in der für das Ausgangsverfahren maßgebenden Fassung:
§ 111 AFG
(1) Das Arbeitslosengeld beträgt 68 vom Hundert des um die gesetzlichen Abzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, verminderten Arbeitsentgelts (§ 112).
(2) Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung bestimmt die Leistungssätze jeweils für ein Kalenderjahr durch Rechtsverordnung. Dabei hat er zugrunde zu legen:
- als Lohnsteuer …
- als Kirchensteuer-Hebesatz den im Vorjahr in den Ländern geltenden niedrigsten Kirchensteuer-Hebesatz;
- als Beitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung …
- als Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung …
- …
(3) …
Die zur Prüfung gestellte Vorschrift des § 111 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AFG ist durch Art. 27 Nr. 8 des Einführungsgesetzes zum Einkommensteuerreformgesetz (EG-EStRG) vom 21. Dezember 1974 (BGBl. I S. 3656) eingeführt worden. Nach der zuvor bestehenden Rechtslage erhielt der Bezieher laufender Leistungen nach dem AFG als Grundbetrag einen bestimmten Vomhundertsatz des ausfallenden Nettoarbeitsentgelts eines Alleinstehenden; dem Verheirateten wurden daneben Familienzuschläge für den Ehegatten und seine Kinder gezahlt.
Aufgrund der durch die Gesetzesänderung herbeigeführten, für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Rechtslage wird das Arbeitslosengeld in Höhe eines Prozentsatzes des vom Arbeitslosen zuletzt erzielten Nettoarbeitsentgelts gewährt. Dieses wird allerdings nicht konkret und individuell berechnet. Vielmehr wird das vom Arbeitslosen im Berechnungszeitraum erzielte individuelle Bruttoentgelt um die gesetzlichen Abzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, pauschal vermindert. Die sich daraus ergebenden Leistungssätze setzt der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung durch Rechtsverordnung fest. Dabei hat er nach der zur Prüfung gestellten Norm auch den Kirchensteuerabzug zu berücksichtigen. Eine Ausnahme für Arbeitslose, die einer Kirche nicht angehören und folglich nicht kirchensteuerpflichtig sind, enthält das Gesetz nicht.
Die von den versicherungspflichtigen Arbeitnehmern während eines Beschäftigungsverhältnisses zu erbringenden Beiträge zur Arbeitslosenversicherung bestimmen sich nach dem Bruttoarbeitsentgelt, sind also für Mitglieder einer Kirche mit staatlichem Kirchensteuerabzug wie für Nichtmitglieder gleich hoch (vgl. §§ 174, 175 Abs. 1 Nr. 1 AFG). Das Arbeitslosengeld selbst ist steuerfrei (§ 3 Nr. 2 EStG) und, da die Kirchensteuer als Zuschlag zur Lohn- und Einkommensteuer erhoben wird, auch kirchensteuerfrei.
2. a) Die Regelung des § 111 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AFG betrifft nicht allein das Arbeitslosengeld, dessen Höhe im Ausgangsverfahren streitig ist. Sie gilt für das Unterhaltsgeld und die Arbeitslosenhilfe entsprechend (§ 44 Abs. 2 c AFG; § 136 Abs. 3 AFG). Da Kurzarbeitergeld und Schlechtwettergeld für eine Ausfallstunde auf ein Vierzigstel des Arbeitslosengeld-Leistungssatzes festzusetzen sind (vgl. § 68 Abs. 4 AFG; §§ 86 Abs. 1, 68 Abs. 4 AFG), wirkt sich die Vorschrift ebenfalls auf diese beiden Leistungen aus. Sie gilt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 10. November 1993 – 11 RAr 47/93 –) auch für die Höhe des Altersübergangsgeldes in den neuen Bundesländern.
b) Nach Auskunft der Bundesanstalt für Arbeit (BA) ergäbe sich aufgrund der für den maßgeblichen Zeitraum des Ausgangsverfahrens geltenden Regelung bei Fortfall des Abzugs der Kirchensteuer bei einem ledigen Arbeitslosen ein wöchentlich um etwa 2 vom Hundert höheres Arbeitslosengeld. Bei einer solchen Anhebung der Leistungssätze rechnete die BA – bezogen auf das Jahr 1985 – mit Mehraufwendungen von rund 31 Millionen DM im Jahr für die Arbeitslosengeldempfänger und wegen der Auswirkung auf die Arbeitslosenhilfe mit einer weiteren Belastung von rund 22,5 Millionen DM. Dabei ging sie von der Annahme aus, daß rund 15 vom Hundert der Arbeitslosen keiner Kirche angehörten, die Kirchensteuern erhob.
II.
1. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens ist verheiratet und gehört keiner Kirche an. Vom 2. Januar 1979 bis zum 31. Dezember 1982 stand sie als Bilanzbuchhalterin in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis, in dem sie im November 1982 ein Monatsgehalt von 3.836 DM brutto bei einer tariflichen Arbeitszeit von 40 Stunden wöchentlich erzielte. In ihren Lohnsteuerkarten für die Jahre 1982 und 1983 war jeweils die Lohnsteuergruppe IV eingetragen. Am 30. Dezember 1982 meldete sich die Klägerin zum 1. Januar 1983 arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld. Bei der Bewilligung des Arbeitslosengeldes wurde als wöchentliches Arbeitsentgelt ein Betrag von 885 DM zugrundegelegt. Unter Berücksichtigung der Leistungsgruppe A setzte das Arbeitsamt das Arbeitslosengeld auf wöchentlich 343,80 DM fest.
Mit ihrem Widerspruch wandte sich die Klägerin gegen die Leistungshöhe. Sie führte aus, offenbar sei ein zu niedriger Nettoverdienst zugrunde gelegt worden; vielleicht sei auch versehentlich Kirchensteuer berücksichtigt worden, obwohl sie keiner Kirche angehöre. Der Widerspruch blieb insoweit erfolglos. Mit ihrer Klage begehrte die Klägerin die Verurteilung der BA zur Zahlung von Arbeitslosengeld in Höhe von 68 vom Hundert ihres letzten Nettoverdienstes ohne Berücksichtigung eines Kirchensteuer-Hebesatzes. Gegen das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts legte die Klägerin Berufung ein.
2. Das Landessozialgericht hat das Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vorgelegt,
ob § 111 Absatz 2 Satz 2 Nr. 2 AFG mit dem Grundgesetz, insbesondere mit Art. 3 Abs. 1 GG, vereinbar ist.
Der generelle (fiktive) Kirchensteuerabzug bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes von Arbeitnehmern, die keiner kirchensteuerberechtigten Konfession angehörten, stelle einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG dar.
a) Eine verfassungskonforme Auslegung des § 111 AFG dahin, daß ein fiktiver Kirchensteuerabzug nur bei den Arbeitslosen zu erfolgen habe, die einer kirchensteuerberechtigten Konfession oder Weltanschauungsgemeinschaft angehörten, sei aus gesetzessystematischen Gründen nicht möglich. Soweit § 111 Abs. 1 AFG von gesetzlichen Abzügen spreche, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfielen, werde in § 111 Abs. 2 AFG als Ermächtigungsnorm für den Erlaß einer Verordnung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung im einzelnen festgelegt, um welche Arten von gewöhnlich anfallenden Abzügen es sich handele, nämlich um Lohnsteuer, Kirchensteuer sowie Beiträge zur Krankenversicherung und Rentenversicherung. Weder der Verordnungsgeber noch die BA habe nach der Regelung des § 111 Abs. 1 und 2 AFG die Möglichkeit, bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes je nach Konfessionszugehörigkeit oder Konfessionslosigkeit die Kirchensteuer zu berücksichtigen oder außer Ansatz zu lassen.
b) Die zur Entscheidung vorgelegte Frage sei entscheidungserheblich, da bei Verfassungswidrigkeit des fiktiven Kirchensteuerabzugs das Arbeitslosengeld der Klägerin höher festzusetzen wäre.
c) § 111 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AFG verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
aa) Zunächst entstehe nach § 111 Abs. 1 AFG der Eindruck, daß lediglich das Bruttoeinkommen der individuelle Anknüpfungspunkt für die Berechnung des Arbeitslosengeldes sei und sodann nicht die individuellen Abzüge der weiteren Berechnung zugrunde gelegt würden, sondern der Durchschnitt der gewöhnlich anfallenden Abzüge errechnet und bei allen Arbeitnehmern einheitlich vom Bruttolohn abgezogen werde, so daß hiervon 68 vom Hundert als Arbeitslosengeld auszuzahlen seien. Der Gesetzgeber habe jedoch, wenn auch pauschalierend, die Höhe der individuellen Abzüge berücksichtigt, indem er den Familienstand, das Vorhandensein von Kindern sowie die Eintragung einer bestimmten Lohnsteuerklasse auf der Lohnsteuerkarte als Anknüpfungspunkte für die Zugehörigkeit zu den verschiedenen Leistungsgruppen nehme.
bb) Die Rechtsprechung habe sich wiederholt mit der Frage befaßt, ob bestimmte steuerliche Besonderheiten im Rahmen des § 111 Abs. 1 und 2 AFG zu berücksichtigen seien, wie etwa das Verwitwetenprivileg (zeitlich begrenzte Fortführung einer eigentlich nicht mehr zutreffenden Steuerklasse) oder die Berücksichtigung von Unterhaltspflichten des geschiedenen Arbeitnehmers. Das Bundessozialgericht habe in diesen Fällen zutreffend festgestellt, daß es nicht willkürlich sei, wenn der Gesetzgeber trotz der prinzipiellen Anbindung an das Lohnsteuerklassensystem bestimmte steuerliche Vergünstigungen nicht übernehme; die vom Gesetz vorgesehene Typisierung nach dem Gewöhnlichen, Üblichen und Regelmäßigen erlaube die Nichtberücksichtigung von steuerlichen Ausnahme- und Übergangstatbeständen.
Bei der Kirchensteuer handele es sich jedoch nicht um einen Freibetrag oder eine Vergünstigung im Rahmen einer bestehenden Steuer. Ihre Berücksichtigung führe vielmehr dazu, daß eine eigenständige Steuer auch bei solchen Arbeitslosen das Arbeitslosengeld vermindere, die dieser Steuerpflicht überhaupt nicht unterlägen. Die Kirchensteuer sei kein gesetzlicher Abzug, der heute noch bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfalle.
Auch wenn Massenerscheinungen im Bereich der Sozialversicherung durch typisierende Regelungen unter Vernachlässigung der Besonderheiten einzelner Fälle geordnet werden könnten, sei die Regelung verfassungswidrig. Die Kirchensteuerfreiheit von Arbeitnehmern sei keine Besonderheit einzelner Fälle, sondern betreffe einen nicht unerheblichen Teil der gesamten Arbeitnehmerschaft. Ferner werde die Höhe des Arbeitslosengeldes durch den unzulässigen Abzug der Kirchensteuer nicht unerheblich beeinträchtigt, da sich die Kirchensteuer mit ihrer Abhängigkeit von der Lohnsteuer gerade bei denjenigen Arbeitnehmern beachtlich auswirke, die, wie die Klägerin mit Lohnsteuerklasse IV, eine erhebliche Lohnsteuerbelastung hätten, die sich ohne die im Steuerrecht mögliche Absetzung von Freibeträgen, Werbungskosten und Sonderausgaben bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes voll auswirke. Der Abzug von Kirchensteuer bei Arbeitnehmern, die keiner Konfession angehörten, stelle sich somit als willkürliche Gleichbehandlung mit Arbeitnehmern dar, die einer kirchensteuerberechtigten Konfession angehörten.
cc) Für diese Gleichbehandlung ungleicher Sachverhalte gebe es auch keinen sachlichen Grund. Die Notwendigkeit zu schneller Berechnung und Auszahlung der Leistung spreche nicht gegen den Wegfall des Abzugs der Kirchensteuer bei einer bestimmten Gruppe von Arbeitslosen. Dem Arbeitsamt sei zur Feststellung der für die Eingruppierung in die Leistungsgruppen ausschlaggebenden Merkmale die Lohnsteuerkarte vorzulegen, aus der sich auch die Voraussetzung für den Kirchensteuerabzug ablesen lasse. Für die Berechnung selbst bedürfte es lediglich einer Erweiterung der vorhandenen Tabellen um jeweils eine Spalte bei jeder Leistungsgruppe. Der Bearbeitungsvorgang und die Auszahlung der Leistung benötigten damit nicht wesentlich mehr Zeit als bisher auch.
dd) Es bestehe auch keine Gefahr der Manipulation. Der Nachweis, ob der Arbeitslose kirchensteuerpflichtig gewesen sei oder nicht, werde durch die Lohnsteuerkarte erbracht. Kirchenaustritte zur Erhöhung des Arbeitslosengeldes wären dann den Arbeitslosen ebenso jederzeit möglich wie heute den Arbeitnehmern zur Verringerung der Abzüge. Ein während der Arbeitslosigkeit erfolgter Kirchenaustritt wäre dem Arbeitsamt nachzuweisen, bevor er bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes berücksichtigt werden könnte.
III.
1. Das Bundessozialgericht hält die zur Prüfung gestellte Norm für mit dem Grundgesetz vereinbar.
a) Die Regelung des § 111 Abs. 2 AFG bewirke, daß Arbeitslose, die einer zur Steuererhebung berechtigten Kirche angehörten, das Arbeitslosengeld in der gleichen Höhe erhielten, wie Arbeitslose, die bei im übrigen gleichen Verhältnissen nicht Angehörige einer solchen Kirche seien. Dies sei allerdings keine Folge des § 111 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AFG, sondern des Umstandes, daß für beide Arbeitnehmergruppen nicht unterschiedliche, sondern die gleichen Leistungssätze vorgesehen seien. Auch wenn das Gesetz vorschriebe, daß die Kirchensteuer bei der Bestimmung der Leistungssätze nicht zu berücksichtigen sei, die Höhe des Arbeitslosengeldes somit an dem pauschalierten Nettoarbeitsentgelt eines nicht kirchensteuerpflichtigen Arbeitnehmers ausgerichtet wäre, erhielten beide Gruppen von Arbeitslosen den gleichen Leistungssatz.
b) Schon hieraus werde ersichtlich, daß Prüfungsmaßstab der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG sei, nicht Art. 4 Abs. 1 GG. Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses werde durch die von der Vorlage betroffene Vorschrift nicht berührt. Art. 4 Abs. 1 GG umfasse zwar auch das Recht, nicht zu öffentlichen Abgaben herangezogen zu werden, die nur von Kirchenmitgliedern erhoben werden dürften. Die Regelung des § 111 AFG ziehe jedoch niemanden zu Abgaben heran, sondern befasse sich mit der Frage, wie die Höhe einer Versicherungsleistung zu bestimmen sei. Diese Versicherungsleistung sei eine Sozialleistung und solle angemessenen Ersatz dafür bieten, daß der Arbeitslose keinen bezahlten Arbeitsplatz finde. Das Arbeitslosengeld sei am Nettolohn ausgerichtet. Folgerichtig sei es lohn- und kirchensteuerfrei. Weder in bezug auf bestimmte Personen noch pauschal würden Steuern erhoben oder abgeführt, auch keine Kirchensteuern. Wenn der Verordnungsgeber gemäß § 111 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AFG bei der ihm aufgetragenen Bestimmung der Leistungssätze für die einzelnen Bemessungsentgelte generell Kirchensteuerabzüge zu veranschlagen habe, berühre dies daher nicht die Freiheit des religiösen Bekenntnisses, mithin auch nicht die Bekenntnisfreiheit von Personen, die keiner Kirche angehörten.
c) Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG sei nicht verletzt. Da das Arbeitslosengeld den Ausfall des Nettoarbeitseinkommens angemessen ersetzen solle, sei es sachgerecht, wenn die Bemessung grundsätzlich an den Nettolohn anknüpfe, den der Arbeitslose zuletzt vor Eintritt der Arbeitslosigkeit bezogen habe. Dabei sei der Gesetzgeber nicht gehalten, exakt von dem im Einzelfall ausfallenden Nettolohn auszugehen. Er könne vielmehr pauschalieren und typisieren, wie das bei der Ermittlung des Arbeitsentgelts, der Zuweisung der Arbeitslosen zu den fünf Leistungsgruppen und den Anweisungen an den Verordnungsgeber, wie die Leistungssätze zu bestimmen seien, in großem Umfange geschehen sei.
Die von der Vorlage für geboten erachtete Folge, daß Arbeitslose, die einer Kirche nicht angehörten, nach dem derzeit geltenden Nettosystem mehr Arbeitslosengeld zu erhalten hätten, ohne daß die Mehrleistung durch einen Mehrbedarf erklärt werden könnte oder bei den einer Kirche angehörenden Arbeitslosen ein der Mehrleistung entsprechender Betrag zugunsten der jeweiligen steuerberechtigten Kirche abgeführt werde, dürfte auf allgemeines Unverständnis stoßen, weil die Mehrleistung an kirchenfremde Arbeitslose als Prämie der Arbeitslosenversicherung für das Fernbleiben von der Kirche empfunden werden müsse. Es könne dahingestellt bleiben, ob eine solche Gestaltung der Arbeitslosenversicherung der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates gerecht würde. Jedenfalls werde die Regelung schon durch das Ziel gerechtfertigt, den Eindruck zu vermeiden, daß durch die Gewährung höheren Arbeitslosengeldes Einfluß auf die Entscheidung von Arbeitnehmern genommen werde, ob sie einer Kirche angehören wollen.
d) Der Auffassung, daß der Regelung, wie sie dem vorlegenden Gericht als geboten erscheine, keine unüberwindbaren praktischen Schwierigkeiten gegenüberstünden, sei wohl zuzustimmen. Die Arbeitsämter müßten zusätzlich nur ermitteln, ob der Arbeitslose einer Kirche angehöre.
2. Der Stellungnahme des Bundessozialgerichts haben sich der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung namens der Bundesregierung sowie das Kirchenamt der Evangelischen Kirche und das Kommissariat der Deutschen Bischöfe angeschlossen.
3. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens führt aus, angesichts der Trennung von Kirche und Staat müsse der Kirchensteuereinzug durch den Staat die absolute Ausnahme bleiben. Wenn der Staat dem nichtkirchlichen Arbeitslosen Geld in Höhe der Kirchensteuer vorenthalte – und dieses Geld noch nicht einmal an die Kirche gelange, sondern in seiner eigenen Kasse verschwinde –, so sei dies durch nichts zu rechtfertigen. Es sei auch zu fragen, ob im Interesse einer unkomplizierten Leistungsverordnung der Kirchensteuer-Hebesatz nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben sollte.
4. Die BA hat zu den praktischen Folgen, welche die vom vorlegenden Gericht für zutreffend erachtete Rechtslage haben würde, ausgeführt: Eine Differenzierung der Arbeitslosengeldsätze nach Arbeitslosen, die einer Kirche angehörten, die Kirchensteuer erhebe, und solchen, die einer anderen oder keiner Religionsgemeinschaft angehörten, erfordere getrennte Leistungstabellen. Die Anzahl der aufgeführten Leistungssätze würde sich von jetzt rund 2.500 auf 5.000 (bei zusätzlicher Differenzierung nach der Kirchenzugehörigkeit des Ehegatten auf rund 7.500) erhöhen. Entsprechendes gelte für Leistungstabellen der anderen Lohnersatzleistungen (Arbeitslosenhilfe, Unterhaltsgeld, Kurzarbeitergeld und Schlechtwettergeld).
Entscheidungsgründe
B.
Die Vorlage ist zulässig.
I.
Die vom vorlegenden Gericht für verfassungswidrig erachteten Leistungssätze für das Arbeitslosengeld ergeben sich allerdings nicht unmittelbar aus dem Arbeitsförderungsgesetz, sondern aus einer Rechtsverordnung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung. Wollte jedoch das Gericht diese Rechtsverordnung, soweit sie den Kirchensteuer-Hebesatz betrifft, wegen verfassungsrechtlicher Bedenken nicht anwenden, so würde es in Wahrheit nicht der Rechtsverordnung, sondern dem in § 111 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AFG zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers die Gefolgschaft versagen. Daran wäre es wegen des Verwerfungsmonopols des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 Abs. 1 GG gehindert.
II.
Das Landessozialgericht hat § 111 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AFG ohne Einschränkung zur Prüfung gestellt. Aus der Begründung seines Beschlusses ergibt sich allerdings, daß es die Vorschrift nur insoweit für verfassungswidrig hält, als der Kirchensteuer-Hebesatz auch bei der Ermittlung des Nettoeinkommens solcher Arbeitsloser in Ansatz gebracht wird, die keiner kirchensteuererhebenden Kirche angehören. Insofern stellt sich aus der Sicht des vorlegenden Gerichts nur die Frage, ob die Vorschrift mit dem Grundgesetz vereinbar ist, soweit von ihr die genannte Gruppe von Arbeitnehmern erfaßt wird. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch die zur Prüfung gestellte Regelung unter allen verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen. Dabei kann auch die Frage nicht ausgespart werden, ob die in der Vorschrift vorgesehene Berücksichtigung der Kirchensteuer als solche verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet.
C.
Die zur Prüfung gestellte Norm ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
I.
§ 111 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AFG war in der hier maßgeblichen Zeit mit Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG vereinbar.
1. Der Anspruch auf Arbeitslosengeld fällt jedenfalls dann in den Schutzbereich der Eigentumsgarantie, wenn alle gesetzlichen Voraussetzungen für dessen Bezug vorliegen (vgl. BVerfGE 72, 9 ≪18 f.≫). Die konkrete Reichweite des Schutzes ergibt sich aus der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums durch den Gesetzgeber. Dieser hat bei der Regelung von Leistungen der Arbeitslosenversicherung einen weiten Gestaltungsraum. Er muß aber die rechtsstaatlichen Grundsätze beachten und darf sich nicht von sachfremden Erwägungen leiten lassen.
2. a) § 111 Abs. 2 AFG regelt die Bemessung des Arbeitslosengeldes, dessen Funktion es ist, dem Arbeitslosen angemessenen Ersatz für den Ausfall zu leisten, den er dadurch erleidet, daß er keinen bezahlten Arbeitsplatz findet. Da das Arbeitslosengeld kein steuerpflichtiges Einkommen ist und von ihm auch keine Sozialabgaben abzuziehen sind, ist es sachgerecht, für seine Bemessung grundsätzlich an den Nettolohn anzuknüpfen, den der Arbeitnehmer vor Eintritt der Arbeitslosigkeit zuletzt bezogen hat. Dabei kann der Gesetzgeber sich aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität für eine Pauschalierung entscheiden, die eine zügige Feststellung der Leistungshöhe ermöglicht (vgl. BVerfGE 17, 1 ≪23≫; 63, 255 ≪262≫). Es ist deshalb grundsätzlich nicht zu beanstanden, daß die Lohnabzüge für die Berechnung des Nettolohnes nicht individuell ermittelt werden, sondern der individuelle Bruttolohn um die durch Rechtsverordnung konkretisierten „gewöhnlich” anfallenden Abzüge zu vermindern ist.
Mit rechtsstaatlichen Grundsätzen wäre es jedoch nicht mehr vereinbar, wenn der Gesetzgeber die Höhe des Arbeitslosengeldes auf einen bestimmten Prozentsatz des Nettolohnes festlegte, die Berechnung des Nettolohnes aber so regelte, daß er auch bei typisierender Betrachtung nicht mehr dem um die „gewöhnlich” anfallenden Abzüge verminderten Arbeitsentgelt entspräche. Mit einem solchen Verfahren würde der Gesetzgeber sich zu seiner eigenen Entscheidung, Arbeitslosengeld in Höhe eines bestimmten Prozentsatzes vom Nettolohn zu gewähren, in Widerspruch setzen und gegen das Gebot der Rechtsklarheit verstoßen.
b) Die Kirchensteuer unterscheidet sich von den übrigen in § 111 Abs. 2 AFG aufgeführten gesetzlichen Abzügen insofern, als es sich bei ihr nicht um eine Abgabe handelt, die dem Einzelnen als Staatsbürger oder als Versicherungspflichtigem auferlegt wird, sondern um eine Steuer, die eine Religionsgesellschaft aufgrund der ihr eingeräumten Befugnis von ihren Mitgliedern erhebt. Die Entscheidung, einer bestimmten oder überhaupt keiner Religionsgemeinschaft anzugehören, beruht auf einem persönlichen Entschluß des Einzelnen, der durch die Religionsfreiheit geschützt wird.
Das schließt eine typisierende Regelung in bezug auf die Kirchensteuer nicht von vornherein aus. Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen nicht gehindert, bei der Berechnung des Nettolohnes auch Abgaben zu berücksichtigen, die an eine individuelle Entscheidung des Arbeitnehmers anknüpfen, solange er sich in den Grenzen zulässiger Typisierung hält. Das ist der Fall, wenn er aufgrund statistischer Erkenntnisse davon ausgehen kann, daß die überwiegende Mehrheit der Arbeitnehmer die Abgabe zu zahlen hat und deren Abzug nicht sehr stark ins Gewicht fällt. Diese Voraussetzung lag bei der Kirchensteuer vor, als der Gesetzgeber die zur Prüfung gestellte Vorschrift schuf.
Knüpft der Gesetzgeber bei einer typisierenden Regelung an statistische Erkenntnisse an, muß er aber die weitere Entwicklung beobachten, um wesentlichen Veränderungen rechtzeitig Rechnung tragen zu können. Mit dem vom Gesetzgeber selbst gewählten Ansatz und dem Gebot der Normenklarheit wäre es nicht mehr vereinbar, die Kirchensteuer bei der Berechnung des Nettolohnes auch dann noch als „gewöhnlich” anfallenden gesetzlichen Abzug in Ansatz zu bringen, wenn die Zugehörigkeit zu einer Kirche, die Kirchensteuer erhebt, nicht mehr als für Arbeitnehmer typisch angesehen werden könnte, wenn also nicht mehr eine deutliche Mehrheit von Arbeitnehmern einer solchen Kirche angehörte.
Zu einer Überprüfung, ob die Kirchensteuer auch künftig noch als „gewöhnlich” anfallender Abzug anzusehen ist, dürfte schon deshalb Anlaß bestehen, weil ein großer Teil der Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern keiner Kirche angehört, die Kirchensteuer erhebt. Zu der für die Entscheidung im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit durfte der Gesetzgeber jedenfalls noch davon ausgehen, daß die Kirchenzugehörigkeit typisch war.
II.
Die zur Prüfung gestellte Norm verletzt auch keine anderen Grundrechte.
1. Der Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 GG ist nicht berührt. Die Leistungssätze für das Arbeitslosengeld sind gleich hoch ohne Rücksicht darauf, ob der Arbeitslose in seinem früheren Beschäftigungsverhältnis Kirchensteuer entrichtet hat oder nicht. Die Regelung gibt also weder einen Anreiz, aus einer Kirche auszutreten, noch einen Anreiz, die Mitgliedschaft in einer Kirche anzustreben. Dies gilt sowohl für Arbeitnehmer, die in einem Beschäftigungsverhältnis stehen, aber eine Arbeitslosigkeit befürchten müssen, als auch für Arbeitslose während des Bezugs von Arbeitslosengeld. Die Regelung berührt daher die Freiheit des religiösen Bekenntnisses nicht, auch nicht die Bekenntnisfreiheit von Personen, die einer kirchensteuerberechtigten Kirche nicht angehören. Die Regelung hat auch nicht – wie vielfach fälschlich angenommen wird – zur Folge, daß die Arbeitslosen, die keiner steuererhebenden Kirche angehören, mit Beträgen belastet werden, die einer Kirche zugutekommen.
2. Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ist nicht verletzt.
a) Die zur Prüfung gestellte Norm betrifft einerseits Arbeitslose, die einer kirchensteuererhebenden Kirche angehören und deshalb in ihrem vorangehenden Beschäftigungsverhältnis Kirchensteuer entrichtet haben, andererseits Arbeitslose, die einer solchen Kirche nicht angehören.
Art. 3 Abs. 1 GG gebietet aber nicht, unter allen Umständen Ungleiches ungleich zu behandeln. Der allgemeine Gleichheitssatz ist nicht schon dann verletzt, wenn der Gesetzgeber Differenzierungen, die er vornehmen darf, nicht vornimmt (vgl. BVerfGE 4, 31 ≪42≫; 86, 81 ≪87≫). Es bleibt grundsätzlich ihm überlassen, diejenigen Sachverhalte auszuwählen, an die er dieselbe Rechtsfolge knüpft, die er also im Rechtssinn als gleich ansehen will (BVerfGE 21, 12 ≪26≫; 23, 242 ≪252≫). Allerdings muß er die Auswahl sachgerecht treffen (vgl. BVerfGE 17, 319 ≪330≫; 53, 313 ≪329≫; 67, 70 ≪85 f.≫; st. Rspr.). Der normative Gehalt der Gleichheitsbindung erfährt auch insoweit seine Präzisierung jeweils im Hinblick auf die Eigenart des zu regelnden Sachbereichs (vgl. BVerfGE 75, 108 ≪157≫). Art. 3 Abs. 1 GG ist danach dann verletzt, wenn für die gleiche Behandlung verschiedener Sachverhalte – bezogen auf den in Rede stehenden Sachbereich und seine Eigenart – ein vernünftiger, einleuchtender Grund fehlt (vgl. BVerfGE 76, 256 ≪329≫).
b) Nach diesen Grundsätzen ist die zur Prüfung gestellte Regelung nicht zu beanstanden. Sie hat zur Folge, daß die Versicherten – ohne Rücksicht auf ihre Kirchenzugehörigkeit – bei gleicher Beitragsleistung und gleicher Bedarfssituation gleiche Versicherungsleistungen erhalten. Das entspricht dem Beitrags- oder Versicherungsprinzip, dessen Bedeutung für das System der Sozialversicherung das Bundesverfassungsgericht wiederholt betont hat (vgl. BVerfGE 59, 36 ≪49 ff.≫; 63, 152 ≪171≫). Das Versicherungsprinzip ist dadurch gekennzeichnet, daß im Grundsatz eine Äquivalenz von Beitrag und Leistung besteht. Im Bereich der Arbeitslosenversicherung ist es allerdings nicht geboten, das Arbeitslosengeld in voller Äquivalenz zu den Beiträgen festzusetzen (vgl. BVerfGE 51, 115 ≪124≫; 53, 313 ≪328≫). Daraus kann aber nicht geschlossen werden, daß der Gedanke der Beitragsäquivalenz ungeeignet sei, eine Regelung zu rechtfertigen, die in der Arbeitslosenversicherung Leistungen nach Maßgabe der Beiträge zumißt (vgl. BVerfGE 60, 68 ≪77≫).
Ein Versicherter, der keiner steuererhebenden Kirche angehört, hat zwar in der Zeit vor seiner Arbeitslosigkeit über höhere Geldmittel verfügt als ein vergleichbarer kirchensteuerzahlender Arbeitnehmer. Der Gesetzgeber ist aber nicht gezwungen, das die Arbeitslosenversicherung beherrschende Prinzip der Beitragsäquivalenz zu durchbrechen, um diesem Umstand Rechnung zu tragen. Das Lebensstandardprinzip ist kein Verfassungsgebot. Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen nicht gehalten, dem Arbeitslosen durch die Bemessung des Arbeitslosengeldes die Aufrechterhaltung seines bisherigen Lebensstandards voll zu ermöglichen (BVerfGE 72, 9 ≪20 f.≫). So ist es beispielsweise auch nicht geboten, bei der Bemessung des Arbeitslosengeldes zuvor geleistete Überstunden zu berücksichtigen, um dem Versicherten die Aufrechterhaltung seines bisherigen Lebensstandards zu sichern (vgl. BVerfGE 51, 115 ≪125≫).
Ist hiernach das Prinzip der Beitragsäquivalenz ein hinreichender sachlicher Gesichtspunkt, um die zur Prüfung gestellte Regelung zu rechtfertigen, bedarf es keines Eingehens mehr darauf, ob die Regelung auch wegen der Berechtigung des Gesetzgebers zu generalisierenden, typisierenden und pauschalierenden Regelungen vor Art. 3 Abs. 1 GG Bestand haben könnte.
Fundstellen
Haufe-Index 1503271 |
BVerfGE, 226 |
BB 1994, 1868 |
NJW 1994, 2346 |
EuGRZ 1994, 504 |