Entscheidungsstichwort (Thema)

Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde. Realsplitting. Ausbildungsfreibetrag

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde erfordert, daß der Beschwerdeführer vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil des Finanzgerichts zunächst Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision einlegt.

2. Den Fragen, die sich im Zusammenhang mit dem Real-Splitting aus § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG 1979 hinsichtlich des Zustimmungserfordernisses und der Obergrenze von 9000 DM für die als Sonderausgaben abziehbaren Unterhaltsleistungen an einen geschiedenen, unbeschränkt steuerpflichtigen Ehegatten ergeben, kommt grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 115 Abs. 2 FGO zu. Das gleiche gilt für die bei der Gewährung von Ausbildungsfreibeträgen relevante Frage, ob Kinder, deren Eltern getrennte Haushalte führen, die jedoch bei einem Elternteil wohnen, als auswärts untergebracht anzusehen sind.

3. Gemäß § 74 FGO kann das Finanzgericht sein Verfahren bis zur Erledigung eines vorgreiflichen Rechtsstreits aussetzen. Die Nichtaussetzung kann einen Verfahrensverstoß darstellen.

 

Normenkette

BVerfGG § 90 Abs. 2 S. 1; FGO §§ 74, 115 Abs. 2-3; EStG 1979 § 10 Abs. 1 Nr. 1, § 33a Abs. 2

 

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, weil der Beschwerdeführer den Rechtsweg nicht erschöpft hat (vgl. § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG).

1. Dem Beschwerdeführer stand weder unmittelbar die Streitwertrevision zu, da der Wert des Streitgegenstandes 10000,– DM nicht überstieg (vgl. Art. 1 Nr. 5 BFHEntlG vom 8. Juli 1975 (BGBI 1 S. 1861) in der Fassung des Gesetzes vom 4. August 1980 (BGBl I S. 1147)), noch sind Voraussetzungen für eine zulassungsfreie Revision gemäß § 116 Abs. 1 FGO gegeben.

2. Jedoch war es dem Beschwerdeführer möglich und zumutbar, gegen die Nichtzulassung der Revision durch das Finanzgericht entsprechend der Rechtsmittelbelehrung im angegriffenen Urteil zunächst Beschwerde und nach Zulassung Revision einzulegen. Zum einen kommt mehreren von der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Rechtsfragen grundsätzliche Bedeutung zu, zum anderen sind Verfahrensmängel angesprochen, auf denen das angegriffene Urteil beruhen kann.

a) Im Hinblick auf den in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommenden Grundsatz der Subsidarität, auf die Funktion der Verfassungsbeschwerde als lediglich außerordentlicher Rechtsbehelf und auf den umfassenden fachgerichtlichen Rechtsschutz muß ein Beschwerdeführer zunächst die Beseitigung des vermeintlichen grundrechtswidrigen Hoheitsaktes mit den ihm durch das Gesetz zur Verfügung stehenden Rechtsmitteln zu erreichen suchen. Dadurch soll zugleich eine ordnungsgemäße fachgerichtliche Vorprüfung der Beschwerdepunkte gewährleistet werden und das Bundesverfassungsgericht auf diese Weise vor seiner Entscheidung Gelegenheit erhalten, die Fallanschauung und die Rechtsauffassung der Gerichte, insbesondere der jeweils obersten Bundesgerichte kennenzulernen. Grundsätzlich ist, ein Beschwerdeführer deshalb gehalten, sogar einen zweifelhaften Rechtsbehelf zu erheben, sofern :dieser nicht von vornherein offensichtlich aussichtslos ist (vgl. BVerfGE 16, 1 ≪2≫; 47, 144 ≪145≫; 68, 376 ≪379f.≫ m.w.N.).

b) Nur ausnahmsweise kann von der Erschöpfung des Rechtsweges abgesehen werden, wenn dies objektiv nicht geboten und dem Beschwerdeführer subjektiv nicht zuzumuten ist. Diese Voraussetzungen können bei einer gefestigten jüngeren und einheitlichen höchstrichterlichen Rechtsprechung vorliegen, wenn auch im konkreten Einzelfall keine von dieser Rechtsprechung abweichende Erkenntnis zu erwarten ist (vgl. BVerfGE 9, 3 ≪7≫; 22, 349 ≪355≫; 61, 319 ≪341≫).

c) Den vom Beschwerdeführer im Zusammenhang mit dem Real-Splitting angeschnittenen Fragen des in § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG 1979 festgelegten Zustimmungserfordernisses und einer Obergrenze von 9000,– DM für die als Sonderausgaben abziehbaren Unterhaltsleistungen an einen geschiedenen, unbeschränkt steuerpflichtigen Ehegatten kam grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 115 Abs. 3 FGO zu, ebenso der weiteren, bei der Gewährung von Ausbildungsfreibeträgen relevanten Frage, ob Kinder, deren Eltern getrennte Haushalte führen, die jedoch bei einem Elternteil wohnen, als auswärts untergebracht anzusehen sind.

aa) Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung, wenn die Entscheidung durch den Bundesfinanzhof aus Gründen der Rechtsklarheit, der Rechtseinheitlichkeit und/oder der Rechtsentscheidung im allgemeinen (abstrakten) Interesse liegt (vgl. BFHE 96, 155 ≪158≫ und BFH, BStBl II 1985 S.625). Dies ist zum Beispiel anzunehmen, wenn die Rechtsfragen bislang höchstrichterlich noch nicht entschieden worden sind oder sie zwar höchstrichterlich schon einmal entschieden worden sind, jedoch gegen die Rechtsauffassung beachtliche neue Gesichtspunkte vorgebracht worden sind, die das Revisionsgericht bisher noch nicht erwogen hat (vgl. Tipke/Kruse, Kommentar zur AO und FGO, § 115 FGO Anmerkung 53 m.w.N.), oder wenn eine Rechtsfrage trotz ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs in der Rechtsprechung der Finanzgerichte und im Schrifttum gegensätzlich beurteilt wird. Auch der Klärung der Verfassungsmäßigkeit einer gesetzlichen Vorschrift kann grundsätzliche Bedeutung zukommen (vgl. Tipke/Kruse, a.a.O., § 115 Anmerkung 55).

bb) Das Real-Splitting wurde mit Wirkung vom Veranlagungszeitraum 1979 (vgl. § 52 Abs. 1 in der Fassung des Steueränderungsgesetzes 1979) eingeführt. Sowohl gegen das Zustimmungserfordernis als auch die betragsmäßige Begrenzung werden verfassungsrechtliche Bedenken erhoben (vgl. Tipke, Steuerrecht, 10. Aufl., S. 293). Höchstrichterlich ist bislang nicht geklärt, ob die Verweigerung der Zustimmung als rechtsmißbräuchlich im Einkommensteuerrecht unbeachtlich sein kann, zum Beispiel wenn im Einzelfall dem Empfänger keine steuerlichen oder sonstigen wirtschaftlichen Nachteile entstehen. Die Frage, ob insoweit die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BStBl II 1977 S. 870; BStBl II 1982 S. 156) zur mißbräuchlichen und deshalb einkommensteuerlich unbeachtlichen Beantragung einer getrennten Veranlagung (vgl. § 26a EStG) durch den einen Ehegatten herangezogen werden kann, wenn der andere Ehegatte eine Zusammenveranlagung beantragt, wird zwar im Schrifttum zum Teil bejaht (vgl. Schmidt, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, 4. Aufl., § 10 Anmkerung 10b cc), erscheint aber wegen der nicht ohne weiteres vergleichbaren Sachverhalte klärungsbedürftig.

cc) Die Frage, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe ein Ausbildungsfreibetrag zu gewähren ist, hängt bei minderjährigen bzw. volljährigen Kindern u.a. davon ab, ob das Kind auswärtig untergebracht war (vgl. § 33a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 1 lit a und b EStG 1979). Verwaltung (vgl. Abschn. 191 Abs. 5 Satz 7 EStR 1984) und Schrifttum vertreten unter Bezugnahme auf die frühere Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH, BStBl II 1968 S. 494; II 1972 S. 485) zwar die Auffassung, vom anderen Elternteil aus gesehen sei das Kind nicht auswärtig untergebracht. Gegen diese Auffassung sind aber in der Literatur Bedenken geäußert worden (vgl. Littmann, Kommentar zum EStG, 13. Aufl., § 33a Anmerkung 57; FG Rheinland/Pfalz, EFG 1980 S. 553). Darüber hinaus wird darauf hingewiesen, daß die zur Stützung der Verwaltungsauffassung angeführten Bundesfinanzhof-Urteile – wenn auch aus anderen Gründen – überholt seien.

Schließlich hätte sich im Revisionsverfahren die Frage aufwerfen lassen, ob das Finanzgericht hinsichtlich der Ausbildungsfreibeträge aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Juni 1977 – 1 BvR 265/77 (BVerfGE 45, 104 ≪140 f.≫). die richtigen Konsequenzen gezogen hat. Das Finanzgericht hat die Versagung der Ausbildungsfreibeträge ausschließlich mit der Begründung gerechtfertigt, der Beschwerdeführer habe für keines der in Ausbildung stehenden Kinder Kindergeld bezogen. Im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 45, 104 ff) hatte der Gesetzgeber durch das Steueränderungsgesetz 1979 vom 30. November 1978 jedoch bestimmt, daß auch bei dem nicht kindergeldberechtigten Elternteil, der aber seinen Unterhaltspflichten gegenüber dem in Berufsausbildung befindlichen Kind nachkommt, die Hälfte der sich nach § 33 a Abs. 2 Satz 1 bis 3 EStG ergebenden Beträge abgezogen werden dürfe. Das wirft zumindest die Frage auf, dass das Finanzgericht nicht entweder die ab 1977 anwendbare Fassung des § 52 Abs. 22 EStG 1975, den das Bundesverfassungsgericht als mit Art. 3 Abs. 1 GG für unvereinbar erklärt hatte, angewendet oder ob es das durch das Steueränderungsgesetz 1979 geschaffene objektive Steuerrecht (§ 33a Abs. 2 Satz 3 bis 6 EStG) in einer Weise ausgelegt hat, durch die der verfassungswidrige Rechtszustand wiederhergestellt wurde. Das Bundesverfassungsgericht hat betont, Grundrechtsverstöße sollten möglichst im Instanzenzug durch die Selbstkontrolle der Fachgerichte behoben werden, vorzugsweise durch Ausschöpfung der Nachprüfungsmöglichkeiten, die den obersten Bundesgerichten gegenüber der Entscheidung der ihnen nachgeordneten Gerichte zu Gebote stehen (vgl. BVerfGE 47, 182 ≪191≫). Wird der revisionsrechtliche Begriff der „grundsätzlichen Bedeutung” im Lichte der Rechtsprechung gesehen, zumal in einem lediglich zweistufigen Instanzenzug, so konnte auch diese Rechtsfrage die Zulassung der Revision ermöglichen.

d) Schließlich konnte die Beschwerde auch auf – immerhin mögliche – Verfahrensmängel gestützt werden (vgl. § 115 Abs. 3, Abs. 2 Nr. 3 FGO). Ob der Beschwerdeführer Ausbildungsfreibeträge voll oder nur hälftig zu beanspruchen hatte, war nach der Begründung des Finanzgerichts von seinem Anspruch auf Kindergeld für die unterhaltenen Kinder abhängig (vgl. § 33a Abs. 2 Satz 1 EStG 1979). Der Beschwerdeführer hatte das Finanzgericht ausdrücklich auf die insoweit anstehende gerichtliche Entscheidung durch das Sozialgericht hingewiesen. Gemäß § 74 FGO kann das Finanzgericht sein Verfahren bis zur Erledigung eines vorgreiflichen Rechtsstreits aussetzen. Die Nichtaussetzung kann, wenn solche Kindergeldansprüche des Beschwerdeführers ernsthaft in Betracht kamen, einen Verfahrensverstoß darstellen.

2. Der Beschwerdeführer hat lediglich geltend gemacht, das Finanzgericht habe die Revision nicht zugelassen. Es ist nicht erkennbar, warum es dem Beschwerdeführer angesichts der zahlreichen durchaus aussichtsreichen Beschwerdegründe unmöglich und unzumutbar gewesen sein sollte, Nichtzulassungsbeschwerde einzulegen. Im Rahmen der zugelassenen Revision konnte der Beschwerdeführer sämtliche mit der Verfassungsbeschwerde gerügten Rechtsfragen einer revisionsgerichtlichen, insbesondere erneuten verfassungsrechtlichen Überprüfung zuführen.

3. Mit der Abweisung der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung bezüglich der strittigen Beträge bei der Einkommensteuer 1979 gegenstandslos.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1566258

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