Rz. 298
Aus ökonomischer Perspektive operiert eine international agierende Unternehmensgruppe als "Ganzes". Juristisch gesehen sind die einzelnen verbundenen Konzernunternehmen (z. B. Tochterkapitalgesellschaften) jedoch eigenständige Rechtssubjekte, die mithin separat in den unterschiedlichen Steuerhoheitsgebieten besteuert werden. Entsprechend hat das Steuerhoheitsgebiet, wo das jeweilige Konzernunternehmen ansässig ist, auch die Besteuerungshoheit über die durch sie erzielten fremdüblichen Gewinne. Aufgrund dieser rechtlichen "Eigenständigkeit" ist es den verbundenen Unternehmen auch möglich, (Verrechnungs-)Preise für ihre – konzerninternen – Lieferungen und Leistungen durch Verträge festzulegen, die steuerrechtlich jedoch dem Fremdvergleichsgrundsatz genügen müssen (Art. 9 OECD-MA, § 1 AStG).
Rz. 299
Im Falle von (ausländischen) Betriebsstätten, die rechtlich ein unselbständiger Teil des Stammhauses sind, liegt der Fall jedoch anders: Da das Stammhaus damit nicht in der Lage ist, "Verträge mit sich selbst zu schließen", können auch zwischen Betriebsstätten und anderen Teilen desselben Unternehmens (insbes. Stammhaus) keine vertraglichen Vereinbarungen über die Abrechnung von Lieferungen und Leistungen getroffen werden.
Rz. 300
Betreibt ein Unternehmen eine Betriebsstätte über nationale Grenzen hinweg, so steht jedoch abkommensrechtlich das Besteuerungsrecht der Gewinne und Verluste grds. dem Staat zu, in dem sich die Betriebsstätte befindet (Art. 7 OECD-MA, Betriebsstättenprinzip).
Für die Anwendung dieses (Betriebsstätten-)Prinzips ist es mithin notwendig, die Gewinne (oder Verluste) zwischen der Betriebsstätte und dem Stammhaus abzugrenzen und angemessen "aufzuteilen", sodass sie im jeweiligen Land besteuert werden können. Wenn jedoch, wie dargelegt, (Verrechnungs-)Preise grundsätzlich nicht vertraglich festgelegt werden können, da Geschäftsbeziehungen zwischen dem Stammhaus und der Betriebsstätte (zivilrechtlich) nicht möglich sind (fehlende eigene Rechtssubjektqualität der Betriebsstätte), stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien die (steuerliche) Gewinnaufteilung zwsichenstaatlich zu erfolgen hat.
Rz. 301
Die Frage nach einem geeigneten Maßstab und der Methodik zur steuerlichen Gewinnabgrenzung von Betriebsstätten wurde von den Mitgliedsstaaten der OECD daher intensiv und kontrovers diskutiert. Dies liegt a) an unterschiedlichen Auslegungen des Artikels 7 OECD-MA und b) an verschiedenen nationalen Regelungen, die nebeneinander bestehen. Ein international einheitliches Verständnis dieser Gewinnabgrenzung ist jedoch besonders wichtig für Unternehmen mit grenzüberschreitenden Aktivitäten. Ohne eine solche (interntionale) Einigkeit besteht stets das Risiko der Doppelbesteuerung oder der doppelten Nichtbesteuerung.
Rz. 302
Im Jahr 2008 kamen die Mitgliedstaaten der OECD überein, den sog. "functionally separate entity approach" als einheitlichen Maßstab für die Betriebsstättengewinnabgrenzung zu etablieren, der später als sog. "Authorised OECD Approach" (AOA) bekannt wurde. Nach dem AOA wird eine Betriebsstätte steuerlich so behandelt, als wäre sie ein "eigenständiges" Unternehmen (Selbständigkeitsfiktion). Dieser Ansatz legt fest, dass der Betriebsstätte die Gewinne zugeordnet werden, die auch ein unabhängiges Unternehmen unter vergleichbaren Bedingungen und bei ähnlichen Tätigkeiten erzielt hätte. Es ist somit auch hierbei entscheidend, welche Funktionen die Betriebsstätte erfüllt, welches Personal eingesetzt wird, welche Vermögenswerte genutzt werden und welche Risiken sie trägt (s. bereits Rz. 132 ff. zur Funktions- und Risikoanalyse). Diese Fiktion der "Selbstständigkeit" ermöglicht es, dass auch interne Liefer- und Leistungsbeziehungen zwischen der Betriebsstätte und dem Stammhaus (sog. "Dealings", vgl. § 16 BsGaV) anerkannt werden, welche jedoch dem international anerkannten Fremdvergleichsgrundsatz genügen müssen. Mithin werden Betriebsstätten und Tochtergesellschaften in einer internationalen Unternehmensgruppe bei der Gewinnabgrenzung gleichbehandelt, was zugleich die Rechtsformunterschiede bei der Besteuerung grenzüberschreitender Investitionen minimiert.
Rz. 303
Durch das Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetz (AmtshilfeRLUmsG) wurde hierfür in Deutschland in § 1 Abs. 5 AStG eine rechtliche Grundlage geschaffen. Diese Regelung ist erstmals für Wirtschaftsjahre anwendbar, die nach dem 31.12.2012 beginnen. Sie sieht die Berichtigung von Einkünften vor, wenn die Geschäftsbeziehungen zwischen einem inländischen Stammhaus und seiner ausländischen Betriebsstätte oder zwischen einem ausländischen Stammhaus und seiner inländischen Betriebsstätte zu Verrechnungspreisen oder Geschäftsbedingungen führen, die nicht dem Fremdvergleichsgrundsatz entsprechen.
Die Prinzipien des Authorised OECD Approach (AOA) sind im OECD-Betriebsstättenbericht von 2010 detailliert beschrieben. Um den AOA in die internationale Vertragspraxis zu integrieren, wurde auch Artikel 7 des OECD-MA im Jahr 2010 neu gestaltet...