1.4.1.1 Verhältnis zur RL 1164/64
Rz. 10
Der § 20 Abs. 1 Halbs. 1 AStG ist bei der Hinzurechnungsbesteuerung und dem § 20 Abs. 1 Halbs. 2 AStG – soweit der zwingend umzusetzende Bereich der Hinzurechnungsbesteuerung und der Umschaltklausel der RL 1164/16 betroffen ist – durch den Vorrang des Sekundärrechts in seiner Bedeutung eingeschränkt: Selbst bei etwaiger Verfassungswidrigkeit einer Abkommensüberschreibung ließe sich in dem zwingenden Bereich (nicht jedoch im überschießenden Umsetzungsbereich) keine Nichtigkeit der entsprechenden Vorschriften begründen.
Rz. 11
Der § 20 Abs. 2 AStG stellt die Umsetzung des Art. 7 Abs. 1 S. 1 Buchst. b der RL 1164/16 ("Betriebsstätte") dar. Dagegen bezieht sich Art. 7 Abs. 1 S. 1 Buchst. a der RL auf "Unternehmen" und statuiert damit europarechtlich die Hinzurechnungsbesteuerung (§§ 7 ff. AStG). Der § 20 Abs. 2 S. 1 Halbs. 1 AStG stellt die Umsetzung des europarechtlich gebotenen Methodenwechsels dar und erfährt in § 20 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 AStG seine Ergänzung durch die Umsetzung der Verlustregelung des Art. 8 Abs. 1 S. 2 RL.
Rz. 12
§ 20 Abs. 2 AStG nimmt durch die Verweistechnik die Umsetzungsschwächen des §§ 7 ff. AStG (vgl. Verweis auf Kommentierung § 7 AStG Rz. 292) mit in seinen Tatbestand auf. Die Behebung des Umsetzungsdefizits kann bei einer ggf. erforderlichen Nachbesserung des Gesetzgebers unter bestimmten Umständen Rückwirkung entfalten und innerhalb des verpflichtenden Umsetzungsbereiches der RL den Rückgriff auf das nationale Verfassungsrecht, insbesondere den Grundsatz des Vertrauensschutzes sperren. Dies gilt jedoch nicht, soweit durch den § 20 Abs. 2 AStG eine überschießende Umsetzung erfolgte.
Rz. 13
Praxishinweis: Für die Beratungspraxis bedeutet dies die Erforderlichkeit insbesondere im Hinblick auf ein jederzeit denkbares weiteres Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission gegenüber der Bundesrepublik Deutschland auf das Risiko einer späteren (u. U. sogar rückwirkende) Rechtsänderung gegenüber dem Mandanten hinzuweisen, um sich möglichen Haftungsansprüchen bereits frühzeitig zu erwehren. Das Vertragsverletzungsverfahren INFR(2020)0024 stellte die EU-Kommission am 15.7.2022 ein.
1.4.1.2 Verhältnis zum AEUV
Rz. 14
Kein Verstoß gegen (aufgehobene) Verpflichtung zur Vermeidung der Doppelbesteuerung: § 20 Abs. 1 AStG wird im Schrifttum als Verstoß gegen Art. 293 Spiegelstrich 2 EGV eingestuft. Zwar erfolgte die Aufhebung dieser Vorschrift mit dem Vertrag von Lissabon, nach wohl h. M. ist hierdurch keine Rechtsänderung verbunden. Die Vorschrift regte bei Erforderlichkeit die Verhandlung der Mitgliedsstaaten untereinander zur Vermeidung der Doppelbesteuerung an. Der EuGH erkannte in der Rs. Gilly lediglich objektives Gemeinschaftsrecht und keinen subjektiven Anspruch des einzelnen EU-Bürgers. Einer der Beweggründe für die Abschaffung soll die Sorge gewesen sein, EU-Bürger könnten sich hierauf berufen und konkrete Rechtsfolgen ableiten. Aber selbst für diesen Fall stünden im Anwendungsbereich des EStG bzw. KStG keine materielle Rechtsänderung zu erwarten, da sowohl bei der Hinzurechnungsbesteuerung, der Zurechnungsbesteuerung als auch des Methodenwechsels die Anrechnung der ausländischen Steuer grundsätzlich sichergestellt ist.
Rz. 15
Vereinbarkeiten mit den EU-Grundfreiheiten. Der Verweis des § 20 Abs. 1 AStG auf die §§ 7 bis 14 AStG als auch mit § 15 AStG stellt keinen Verstoß gegen die europäischen Grundfreiheiten dar, da beide Regelungsinstitute unionsrechtskonform sind [vgl. Verweis auf Kommentierung § 7 AStG Rz. 231 sowie § 15 AStG Rz. 23 ff.]
Rz. 16
Auch liegt durch die Umschaltklausel kein Eingriff in die Niederlassungsfreizügigkeit i. S. d. Art. 49 AEUV vor. Die Umschaltklausel diskriminiert nicht eine wirtschaftliche Betätigung in der ausländischen Betriebsstätte, da die Anrechnungsmethode durch die Hochschleusung auf das deutsche Steuerniveau lediglich dieselbe Steuerbelastung wie bei einer inländischen Betriebsstätte nach sich zieht. Folgerichtig ist die Notwendigkeit eines Substanznachweises im Rahmen der Umschaltklausel abzulehnen. Die gleichwohl in der RL 1164/16 vorgesehene Exkulpationsmöglichkeit steht mit der ausdrücklichen Nichtanwendung nicht im Widerspruch, da ein höheres Schutzniveau (Art. 3 RL 1164/16) zulässig ist und sich insoweit dann am Primärrecht messen lassen muss. Dies ist aufgrund der Entscheidung in der Rs. Columbus Container unproblematisch. Siehe hierzu auch [Verweis unten Kommentierung Rz. 75]