Rz. 95
§ 6 AStG ist in verschiedener Hinsicht erheblichen unionsrechtlichen Bedenken ausgesetzt. Nach hier vertretener Auffassung sind verschiedene Teilaspekte der Norm unionsrechtswidrig, im Kern entspricht die Vorschrift aber unionsrechtlichen Anforderungen. Als Folge eines Unionsrechtsverstoßes sind die Regelungen geltungserhaltend zu reduzieren und insoweit nicht anzuwenden, wie der Unionsrechtsverstoß reicht. Wenngleich die unionsrechtliche Problematik um § 6 AStG Dissertationen füllt, wird sich nachfolgend i. S. einer praxisorientierten Kommentierung auf eine kurze Darstellung wesentlicher Aspekte beschränkt.
Rz. 96
Eine für die Beurteilung der Reichweite des Schutzes von Unionsrecht bedeutsame Frage ist die nach der anwendbaren Grundverkehrfreiheit. Während die Niederlassungsfreiheit nur bei Wegzügen in EU/EWR-Staaten Schutz bietet, ist der Schutzbereich der Kapitalverkehrfreiheit weltweit eröffnet. Die Wegzugsbesteuerung nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AStG fällt jedenfalls unter den Schutzbereich der Grundfreiheiten, nach hier vertretener Auffassung auch der Kapitalverkehrsfreiheit. Die Wegzugsbesteuerung nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AStG fällt unter den Schutzbereich der Kapitalverkehrfreiheit. Wegzugsfälle i. S. v. § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AStG erfordern eine Einzelfallbetrachtung. Die Wegzugsbesteuerung stellt eine Beschränkung der einschlägigen Grundfreiheit dar, die jedoch – prinzipiell – gerechtfertigt werden kann. Sowohl die Steuerfestsetzung als auch die Ausgestaltung der Steuererhebung im Kontext des § 6 AStG können im Einzelfall unverhältnismäßig sein.
Rz. 97
Ob Wegzüge i. S. d. § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AStG "nur" unter die Niederlassungsfreiheit fallen oder auch am Maßstab der Kapitalverkehrsfreiheit zu messen sind, ist nicht abschließend entschieden. In der Rechtsprechung des EuGH wurden Wegzüge natürlicher Personen und deren Besteuerung regelmäßig am Maßstab der Niederlassungfreiheit gemessen.
Die Anwendbarkeit dieser Grundfreiheit ist soweit ersichtlich auch unbestritten, weshalb in EU/EWR-Sachverhalten (abgesehen vom allgemeinen Freizügigkeitsrecht gem. Art. 21 AEUV) jedenfalls Grundfreiheitsschutz gegeben ist. Von immenser Bedeutung ist die Frage, ob dagegen auch der Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit als eröffnet angesehen werden kann.
Mit Blick auf eine Entscheidung des EuGH, in welcher dieser die bloße Verlegung des Wohnsitzes nicht als Kapitalverkehr bezeichnete,
wird oftmals die Unanwendbarkeit der Kapitalverkehrsfreiheit im Falle eines physischen Wegzugs geschlussfolgert.
Dieser Auffassung wird hier nicht gefolgt, sondern der Wegzug stellt nach hier vertretener Auffassung einen Kapitalverkehr dar. Dafür spricht einerseits die Erfassung des durch eine Auswanderung bedigten Vermögenstransfers von der Kapitalverkehrsrichtlinie,
der vom EuGH regelmäßig ein Hinweischarakter zugesprochen wird.
Andererseits hat der EuGH den Wegzug als Ausübung der Niederlassungsfreiheit beurteilt und werden Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit im Kontext von Kapitalgesellschaftsbeteiligungen regelmäßig (nur) über die Beteiligungshöhe voneinander abgegrenzt.
Erfasst eine nationale Vorschrift nur Anteile aus sog. Kontrollbeteiligungen, so ist sie ausschließlich am Maßstab der Niederlassungsfreiheit zu messen.
Da § 17 EStG nicht ausschließlich Kontrollbeteiligungen betrifft, wäre ein Vorrang der Niederlassungsfreiheit jedenfalls nicht gegeben.
Es wäre dann unabhängig von der konkreten Beteiligungshöhe die Kapitalverkehrsfreiheit anwendbar.
Rz. 98
Wegzüge i. S. d. § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AStG fallen unter den Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit. Die Kapitalverkehrsfreiheit erfasst Erwerbe von Todes wegen,
weshalb auch von § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AStG erfasste Anteilserwerbe von Todes wegen unter die Kapitalverkehrsfreiheit fallen.
Ausweislich der BFH-Rechtsprechung fallen auch Schenkungen unter den Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 63 AEUV.
Rz. 99
Auch wenn man den Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit auf Wegzugsfälle ganz oder teilweise bejaht, stellt sich in Drittstaatenkonstellationen die Frage des Bestandsschutzes für Beschränkungen, die bereits am 31.12.1993 bestanden, aufgrund von Art. 64 Abs. 1 AEUV. Der BFH hat jedenfalls den Fall der grenzüberschreitenden Schenkung gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AStG unter den Bestandsschutz gefasst und dabei der erst nach 1993 erfolgten Herabsetzung der Beteiligungsschwelle i. S. v. § 17 EStG keine Bedeutung beigemessen.
Im Schrifttum wird teilweise eine Anwendbarkeit der Bestandsschutzklausel in Art. 64 Abs. 1 AEUV im Rahmen der Wegzugsbesteuerung nach § 6 AStG abgelehnt, weil § 6 AStG seinen Gesamtcharakter verändert habe.
Auch wenn man dem nicht folgt, ist Art. 64 Abs. 1 AEUV ausweislich seines Wortlauts auf Direktinvestitionen beschränkt. Für Wegzüge mit Portfoliobeteiligungen (< 25 %) griffe der Bestandsschutz damit nicht.
Auch bei Vorliegen einer Beteiligung von mehr als 25 % im k...