1.7.3.1 Verhältnis zum Primärrecht
Rz. 231
Die Hinzurechnungsbesteuerung stellt einen Eingriff in die europäischen Grundfreiheiten dar. Grenzüberschreitende Sachverhalte werden im Vergleich zu rein innerstaatlichen Sachverhalten steuerlich benachteiligt. Dieser Eingriff kann nach der Rechtsprechung des EuGH nur aus Gründen der Abwehr von Steuerumgehung gerechtfertigt werden und nur solange rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen vorliegen. Dem Stpfl. muss die Exkulpation von der Hinzurechnungsbesteuerung ermöglicht werden.
Für die Frage, unter welche Grundfreiheit eine nationale Regelung fällt, ist laut der Rechtsprechung des EuGH auf den betreffenden Gegenstand der Regelung abzustellen. Es kommt ausschließlich allein auf den Gegenstand der beschränkenden Regelung an. Ob im konkreten Lebenssachverhalt die Kapitalverkehrsfreiheit oder eine andere Grundfreiheit vorliegt, ist unerheblich.
Eine nationale Regelung, die nur auf Beteiligungen anwendbar ist, die es ermöglichen, einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen einer Gesellschaft auszuüben und deren Tätigkeiten zu bestimmen, fällt in den Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit. Bislang ungeklärt ist, ob die Einflussnahme auf eine konkrete Beteiligungshöhe abstellt. So hat der EuGH in der Vergangenheit entschieden, dass eine Beteiligungshöhe von 10 % keinen sicheren Einfluss begründet. Bei einer Beteiligung von 25 % oder mehr war hingegen die Niederlassungsfreiheit einschlägig.
Nationale Bestimmungen über Beteiligungen, die in der alleinigen Absicht der Geldanlage erfolgen, ohne dass auf die Verwaltung und Kontrolle des Unternehmens Einfluss genommen werden soll, sind dagegen ausschließlich im Hinblick auf den freien Kapitalverkehr zu prüfen.
In der Vergangenheit war aufgrund des Konzepts der sog. „zufälligen Inländerbeherrschung“ in § 7 Abs. 1 AStG a. F. (vor dem ATAD-UmsG) für Zwecke der regulären Hinzurechnungsbesteuerung die Kapitalverkehrsfreiheit die einschlägige Grundfreiheit und verdrängt die Niederlassungsfreiheit.
Vor dem Hintergrund der Änderung des Beherrschungskonzepts aufgrund der ATAD, d. h. Abkehr von der sog. „zufälligen Inländerbeherrschung“ zu einer „gesellschafterbezogenen Betrachtung“, stellt sich die Frage, ob § 7 AStG auch weiterhin am Maßstab der Kapitalverkehrsfreiheit zu messen ist oder ggf. durch die Niederlassungsfreiheit verdrängt wird.
In der Gesetzesbegründung wird explizit darauf hingewiesen, dass aufgrund der Änderung des Beherrschungskonzepts die Berufung auf die Kapitalverkehrsfreiheit für Drittstaatenfälle ausgeschlossen sei. Wäre künftig die Niederlassungsfreiheit einschlägig, wäre eine unmittelbare Berufung auf die Rechtsprechung für Zwecke der regulären Hinzurechnungsbesteuerung in Drittstaatenfällen nicht mehr möglich. Eine Exkulpation der Hinzurechnungsbesteuerung in Drittstaatenfällen würde demnach ausscheiden.
Gleichwohl bestehen gute Argumente, dass sich Steuerpflichtige unter Rekurs auf die Rechtsprechung des EuGH auch weiterhin auf die Kapitalverkehrsfreiheit berufen kann. Denn auch unter § 7 Abs. 1 und Abs. 2 AStG i. d. F. des ATAD-UmsG sind Konstellationen denkbar, in denen keine gesellschaftsrechtliche Beherrschung und damit nicht auf einen sicheren Einfluss (Niederlassungsfreiheit) abzustellen ist. Demnach wäre die gesamte Vorschrift am Maßstab der Kapitalverkehrsfreiheit und nicht der Niederlassungsfreiheit zu messen:
Unter Rekurs auf die EuGH-Rechtsprechung in der Rs. Itelcar sollte die Kapitalverkehrsfreiheit auch weiterhin die einschlägige Grundfreiheit bleiben und die Niederlassungsfreiheit verdrängen. Der EuGH hat diesbezüglich für die Frage der einschlägigen Grundfreiheit den gesamten Tatbestandskatalog der streitgegenständlichen Norm (portugiesische Unterkapitalisierungsvorschrift) geprüft und nicht nur den im konkreten Einzelfall einschlägigen Tatbestand. Da die streitgegenständliche Norm in der Rechtssache Itelcar auch zumindest eine Tatbestandsalternative aufwies, die nicht auf eine gesellschaftsrechtliche Beherrschung und damit nicht auf einen sicheren Einfluss abstellte, wurde die gesamte Vorschrift am Maßstab der Kapitalverkehrsfreiheit und nicht der Niederlassungsfreiheit gemessen.
Der in der Literatur vertretenen Auffassung, wonach sich aus der Rs. Itelcar (Urteil vom 03.10.2013, C-282/12) ergebe, dass im Falle eines Tatbestandskatalogs – wie ihn auch § 1 Abs. 2 AStG 2003 vorsieht, nicht auf das im Streitfall einschlägige Tatbestandsmerkmal, sondern vielmehr auch auf die übrigen Tatbestandsmerkmale abzustellen sei, folgte das FG nicht. Laut FG müsse differenziert werden, aus welcher Tatbestandsalternative des Katalogs des § 1 Abs. 2 AStG 2003 sich die Anwendung des § 1 AStG 2003 ergebe.
- Betrachtet man das Beherrschungskonzept gem. § 7 Abs. 2 ff. AStG, fällt auf, dass auch hier Fälle denkbar sind, in denen die Hinzurechnungsbesteuerung anwendbar ist, aber kein sicherer Einfluss gegeben ist.
Dieses Ergebnis führt jedoch zur Folgefrage, ob die ATAD gegen Primärrecht verstöß...