S 2.3.2.1 Begriffsdefinition
(1) 1Nicht jede pflichtwidrige Handlung bzw. Unterlassung begründet den Vorwurf der Leichtfertigkeit. 2Leichtfertigkeit ist eine besondere Form der Fahrlässigkeit und liegt vor, wenn jemand in besonders großem Maße gegen Sorgfaltspflichten verstößt und ihm dieser Verstoß besonders vorzuwerfen ist, weil er den Erfolg leicht hätte vorhersehen oder vermeiden können. 3Zu einem außergewöhnlichen Maß an Pflichtwidrigkeit muss sich die Verwirklichung des Tatbestands aufdrängen. 4Die für die Verwirklichung des Tatbestands nachzuweisende Leichtfertigkeit erfordert gründliche Feststellungen zur Verletzung der Sorgfaltspflicht und gebietet daher auch die Aufklärung möglicher entlastender Umstände, soweit sie für die Rechtsfolgen einer Zuwiderhandlung bedeutsam sind (§ 160 Abs. 2 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG). 5Jedenfalls wäre es rechtswidrig, von vornherein Leichtfertigkeit zu unterstellen.
(2) 1Da der objektive Tatbestand in § 378 AO mit dem in § 370 AO übereinstimmt, ist § 378 AO häufig dann anzuwenden, wenn zwar der Verdacht auf Steuerhinterziehung besteht, der für die Verwirklichung des Straftatbestandes erforderliche Vorsatz (§ 15 StGB) aber nicht nachgewiesen werden kann, und die Voraussetzungen für Leichtfertigkeit vorliegen. 2Der Tatbestand des § 378 AO wird daher in der Praxis häufig als Auffangtatbestand in Erscheinung treten, und zwar immer dann, wenn die Durchführung eines Strafverfahrens wegen des Verdachts einer Steuerhinterziehung i.S.d. § 370 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 AO letztlich daran scheitert, dass Vorsatz bei Beachtung strafrechtlicher Beweisgrundsätze nicht nachgewiesen werden kann, hingegen eine Leichtfertigkeit. 3Im Zweifel ist zu Gunsten des Betroffenen zu entscheiden. 4Das Gleiche gilt, wenn eine Aufklärung aussichtslos erscheint oder mit unverhältnismäßigem Verwaltungsaufwand verbunden wäre. 5Die Ahndung als Ordnungswidrigkeit wegen leichtfertiger Begehung darf jedoch nicht automatisch Folge des nicht beweisbaren Vorsatzes sein, sondern bedarf einer eigenständigen Feststellung.
S 2.3.2.2 Abgrenzung zur einfachen Fahrlässigkeit und zu bedingtem Vorsatz
(1) 1Von wesentlicher Bedeutung für die richtige Rechtsanwendung ist die Unterscheidung zwischen einfacher Fahrlässigkeit (weder Straftat noch Ordnungswidrigkeit) und Leichtfertigkeit (Ordnungswidrigkeit) sowie zwischen Leichtfertigkeit (Ordnungswidrigkeit) und bedingtem Vorsatz (Straftat). 2Für die richtige Einordnung kommt es darauf an, neben dem objektiven Verstoß gegen Sorgfaltspflichten (gemessen an der für den durchschnittlichen Kindergeldempfänger vorhersehbaren Verwirklichung des Tatbestands) die individuelle Vorwerfbarkeit (d.h. die Bewertung des Verhaltens des Betroffenen unter Berücksichtigung aller Umstände des konkreten Falles) nachzuweisen.
(2) 1Der Unterschied zwischen Leichtfertigkeit und einfacher Fahrlässigkeit ergibt sich aus der Schwere der Sorgfaltsversäumnis. 2Nur wenn ein Verstoß in besonders großem Maße vorliegt, kann von einer Leichtfertigkeit ausgegangen werden. 3Hierbei ist zu beachten, dass der Berechtigte verpflichtet ist, auch umfangreiche Formulare und Erläuterungen gewissenhaft zu lesen. 4Er ist außerdem bei Unsicherheit verpflichtet, sich zu erkundigen. 5Auch wenn ein Berechtigter seine Mitwirkungspflichten tatsächlich nicht kannte, entlastet ihn das somit nicht von dem Vorwurf der Leichtfertigkeit.
(3) 1Für die Abgrenzung der Leichtfertigkeit zum bedingten Vorsatz kommt es auf das Problembewusstsein des Täters an. 2Abzustellen ist dabei immer auf die individuellen Kenntnisse und Fähigkeiten des Täters sowie auf die besonderen Umstände des Einzelfalles. 3Wenn der Täter die steuerliche Pflichtverletzung für möglich hielt, liegt ein bedingter Vorsatz vor. 4Wenn ihm dieses Bewusstsein fehlte, es sich ihm aber hätte aufdrängen müssen, handelt es sich um eine Leichtfertigkeit.
Beispiel 1 (für einfache Fahrlässigkeit)
Aufgrund des Studiums der Tochter stellt der Berechtigte einen formlosen Antrag auf Kindergeld. Der Berechtigte erhält den Bescheid nicht (die Auszahlung erfolgt trotzdem). Den späteren Abbruch des Studiums teilt er der Familienkasse nicht mit.
Der Berechtigte hat einen formlosen Antrag gestellt und kennt daher die Hinweise im Kindergeldantrag nicht. Den Bescheid mit der Belehrung zur besonderen Mitwirkungspflicht nach § 68 EStG hat er nicht erhalten.
Beispiel 2 (für Leichtfertigkeit)
Wie Beispiel 1, allerdings hat der Berechtigte den Bescheid erhalten, diesen aber ungeöffnet abgelegt.
Da der Berechtigte den Bescheid tatsächlich nicht gelesen hat, kann er auch nicht von seiner Mitwirkungspflicht wissen. Indem er den Brief nicht öffnete, hat er aber in besonders großem Maße gegen die Sorgfaltspflicht verstoßen.
Beispiel 3 (für bedingten Vorsatz)
Wie Beispiel 1, allerdings ist der Berechtigte Steuerberater. Im Kindergeldbereich hat er jedoch keine beruflichen Erfahrungen.
Der Berechtigte verfügt über tiefere Rechtskenntnisse. Er weiß daher, dass er als Empfänger einer Steuervergütung bestimmten Mitwirkungspflichten unterliegt. Auch wenn er mit § 68 EStG nicht vertraut ist, musste er es doch für m...