Leitsatz
1. Die Akteneinsicht in Kindergeldsachen nach dem EStG richtet sich nach der AO; insoweit besteht ein Anspruch auf eine fehlerfreie Ermessensentscheidung.
2. Bei der Abwägung der Interessen des Einsichtssuchenden und der Familienkasse ist zu berücksichtigen, dass der Verwaltungsaufwand regelmäßig geringer ist als in Steuersachen, weil sich in Kindergeldakten seltener als in anderen Steuerakten Daten von und Informationen über Dritte befinden, die durch das Steuergeheimnis geschützt sind, dass in elektronischer Form geführte Kindergeldakten leichter zu duplizieren sind als Papierakten und dann trotz Akteneinsicht für die Fallbearbeitung zur Verfügung stehen, und dass elektronisch geführte Akten durch die Gewährung von Akteneinsicht keinem erhöhten Integritäts- oder Verlustrisiko ausgesetzt sind.
Normenkette
§ 143 Abs. 1, § 138 Abs. 1 FGO
Sachverhalt
Die Klägerin ist Mutter von zwei Kindern, für die sie bis Januar 2014 Kindergeld bezog. Die Familienkasse lehnte den Antrag ihrer Prozessbevollmächtigten auf Einsicht in die Kindergeldakte ab. Daraufhin beantragten die Prozessbevollmächtigten, ihnen die Akte in ausgedruckter Form zu übersenden, was die Familienkasse wiederum ablehnte. Die dagegen erhobene Klage wies das FG als unbegründet ab (Niedersächsisches FG, Urteil vom 6.11.2018, 12 K 132/18).
Während des Revisionsverfahrens erhielt die Klägerin doch noch Akteneinsicht. Die Beteiligten erklärten den Rechtsstreit daraufhin in der Hauptsache für erledigt.
Entscheidung
Die Kosten des gesamten Verfahrens wurden der Familienkasse auferlegt.
Hinweis
Beschlüsse, mit denen – wie hier – nur über die Kosten nach Erledigung des Verfahrens entschieden wird, werden selten veröffentlicht. Da die Kostenentscheidung aber unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstands nach billigem Ermessen zu treffen ist, wird in ihr oft dargelegt, wie das Verfahren ohne die Erledigung mutmaßlich ausgegangen wäre.
1. Seit der Übernahme des Kindergeldrechts in das Einkommensteuerrecht richtet sich das Verwaltungsverfahren allein nach der AO, obwohl das Kindergeld nicht nur der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums des Kindes dient, sondern – soweit es dafür nicht erforderlich ist – auch der sozialrechtlichen Förderung der Familie.
2. Die AO enthält – anders als andere Verfahrensordnungen (z.B. § 29 des VwVerfG und § 147 StPO) – keine Regelung der Akteneinsicht.
Nach ständiger Rechtsprechung besteht aber ein Anspruch auf eine pflichtgemäße Ermessensentscheidung der Behörde. Dabei hat die Behörde die Interessen des Einsichtssuchenden gegen die der Behörde abzuwägen.
3. Einsichtsgesuche in Kindergeldakten sind nach denselben Grundsätzen zu behandeln wie andere Akteneinsichtsgesuche in gewöhnlichen steuerlichen Verwaltungsverfahren. Da der Schutz Dritter und der im Falle der Gewährung von Akteneinsicht zu betreibende Verwaltungsaufwand maßgebliche Gründe für die fehlende Regelung eines Akteneinsichtsrechts im steuerlichen Verwaltungsverfahren waren, wird die Interessenabwägung in Kindergeldsachen häufiger zur Gewährung von Akteneinsicht führen:
- In Kindergeldakten befinden sich seltener als in gewöhnlichen Steuerakten Kontrollmitteilungen, Prüfhinweise sowie durch das Steuergeheimnis geschützte Informationen von und über Dritte, deren Ausheftung Verwaltungsaufwand verursachen kann.
- Elektronisch geführte Kindergeldakten sind leichter zu duplizieren als Papierakten und stehen damit trotz Akteneinsicht weiter für die Fallbearbeitung zur Verfügung; zudem unterliegen sie keinem durch die Gewährung von Akteneinsicht erhöhten Integritäts- oder Verlustrisiko.
4. Ein Ermessensfehler der Familienkasse lag hier bereits darin, dass sie das berechtigte Interesse der Klägerin an der Akteneinsicht nicht erkannt hatte und daher überhaupt nicht in eine Interessenabwägung eingetreten war. Darüber hinaus nahm der BGH aber aufgrund der Umstände des Streitfalls eine Ermessensreduzierung auf Null an (Sprachbarriere der ausländischen Klägerin, Fehlen von Unterlagen, Erfordernis anwaltlicher Hilfe), so dass ein Anspruch auf Einsicht in die Kindergeldakte bestand.
5. Ob Art. 15 der Datenschutzgrundverordnung über das Auskunftsrecht hinaus ein Recht auf Einsicht in die Steuerakten begründet, bleibt offen.
Link zur Entscheidung
BFH, Beschluss vom 3.11.2020 – III R 59/19